»Suchbewegung nach einer Poetik der Endlichkeit«
»…. und hatte sich seine Sehnsucht im Verlaufe seiner irdischen Wanderung auch sehr gewandelt und sich dem Erkennen zugekehrt, so sehr, dass sie zuletzt, schmerzlicher und schmerzlicher geworden, kaum mehr Sehnsucht, ja kaum mehr Sehnsucht nach der Sehnsucht zu nennen war, und war dies auch vom Schicksal vorbestimmt gewesen, von Anbeginn an, als ein Hinausgetriebensein und als eine Abgeschiedenheit, unheilsträchtig jenes, heilsbeglückend dieses, beides jedoch fast untragbar für ein menschliches Wesen, es war trotzdem geblieben, unverlierbar das Eingeborene…«
(Hermann Broch: Der Tod des Vergil)
Im Nachlass des französischen Philosophen Paul Ricoeur findet sich eine Passage, die mich bestürzt, sooft ich an sie denke: Ricoeur liegt erschöpft auf einer Palliativstation nahe Paris und beobachtet andere Patienten, die vor seinen Augen hinsterben. Tagein, tagaus scheiden sie aus dem Leben, Männer wie Frauen, alte wie junge. Ricoeur lebt aber noch ein bisschen – und notiert, was er sieht und denkt, bis ihm der Tod den Stift aus der Hand nimmt:
»Dann noch dies: was die noch verbliebene Fähigkeit zu denken beschäftigt, ist nicht die Sorge darum, was nach dem Tod ist, sondern die tiefsten Lebensquellen dazu zu mobilisieren, sich noch zu behaupten. «1
Stärker als die Sorge um die Unsterblichkeit der Seele scheint der Wille zu sein, »sich noch zu behaupten«. Will heißen: die Behauptung des Selbst in all seiner diesseitigen Ausdrücklichkeit.
Betrachtet man den letzten Band des Luxemburger Dichters Jean Krier, um den es hier geht, wird man nicht um ebendiese Frage kommen: Ist der Tod stärker als die Dichtung oder ist die Dichtung stärker als der Tod?
Jean Krier äußerte gegenüber Freunden, er sei dem Tod mehrfach »von der Schippe gesprungen«. Dies erfüllte ihn wohl mit einer Art trotzigem Stolz, der sowohl seine Ironie als auch seine Achtung vor dieser Gemarkung des Lebens trug.
Der Chamisso-Preisträger hatte zuvor schwere medizinische Eingriffe am Herzen und der Leber überlebt. Sein Gedichtband »Eingriff, sternklar« präsentiert nun Gedichte aus letzter Hand. Er wird herausgegeben von dem Literaturkritiker Michael Braun.
»Eingriff, sternklar« zeigt auf dem Cover eine verfremdete Ultraschallaufnahme des Herzens des Dichters, wie schon sein vorletzter Band ›Herzens Lust Spiele‹ (Poetenladen Leipzig 2010) getan hatte.
Vielleicht knüpft Jean Krier mit dem Ultraschall an Thomas Manns Hans Castorp an, der ja bekanntlich im Zauberberg von den Röntgenaufnahmen des Hofrat Behrens so fasziniert war, dass er sich sogar von seiner Angebeteten Madame Chauchat ein solches »Innenportrait« geben lässt. Wer weiß.
Krier. Ein Beispiel, vorweg. In seinem Gedicht ›Nacht zum 1. November‹ heißt es: »Wenn / auch die Nacht noch ihre Schatten u Zweifel, dann / könnte man die Hüte sternenhoch u unbeschwert / so der faule Zauber, wo alles ab […]«.Krier elidiert die Verben. Er killt sie. Er wirft die Verben weg.
In der Halloween-Nacht, am Kehraus der bösen Geister, hin zum 1. November, zu Allerheiligen, da die Lebenden ihre seltsame Einheit mit den Toten bestätigen und überall die Gräber hell erleuchtet sind, dort, da, in dieser Nacht raubt Jean Krier den »Schatten u Zweifel« sowie den »Hüte[n] sternenhoch u unbeschwert« jenes Zeitwort, das doch so klar zu sein scheint, wenn man die üblichen Kollokationen für »Schatten u Zweifel« bedenkt.
Aber nichts ist üblich, nichts ist klar. Fort ist es, das Zeitwort fehlt – sowohl seinem Sinn nach wie auch seiner Form nach. Im Vers zuvor heißt es noch »Der Tag all ist dahin, verdorrt das Gras – die Traum / Grenze erreicht«. Plötzlich jedoch ist nichts erreicht, denn die Expressivität des Gedichts ist auch dann noch hochgradig deutungspotent, selbst wenn es wesentliche Elemente des Sprechens unausgesprochen lässt. Das Zeitwort fehlt; es lebe die Zeitlichkeit!
Der Publizist Michael Braun hat die letzten Gedichte des Luxemburger Barden ediert und im Poetenladen Leipzig herausgegeben. Der Band heißt ›Eingriff, sternklar. Gedichte aus dem Nachlass‹ (2014).
Ich möchte den Band von vier Sichtachsen her betrachten: 1) In der editorischen Notiz bezeichnet Michael Braun das Kapitel des Bandes ›Fin de partie‹ als eine »Suchbewegung nach einer Poetik der Endlichkeit«. Versuchen wir etwas daraus zu machen. 2) »Meer«, »Hund«, »Wolke«, »Schatten« - Offenheit und Konkretion von Globalmetaphern. 3) Zur Form der alkäischen Ode bei Jean Krier. Und 4) »Formbewusstsein« bei Jean Krier – Gedicht, Metrum und seine Metamorphosen.
»Suchbewegung nach einer Poetik der Endlichkeit«
Jean Krier wird 1949 in Luxemburg geboren, studiert Germanistik und Anglistik in Freiburg i. Br., debütiert aber erst 1995 mit ›Bretonische Inseln‹ (Rimbaud Verlag) und stirbt nach langem Leidensweg zehn Tage nach seinem 64. Geburtstag, am 12. Januar 2013 in der Uniklinik Freiburg.
Was die Dauer seines Lebens angeht, da lässt sich Jean Krier vielmehr mit Stéphane Mallarmé (57) oder Robert Lowell (60) vergleichen. Er gehörte weder zur Sodalität der Frühvollendeten, darunter z.B. Ernest Christopher Dowson, Hart Crane oder der kanadische Keats namens Archibald Lampman waren, noch zu den Methusalems der Poesie, wie etwa Goethe, Samuel Beckett oder Gary Snyder.
Dieser Umstand ist in mehrfacher Hinsicht interessant, denn wir finden im Fall von Jean Krier einen Dichter vor, der noch zu jung war, um im höchsten Alter den Tod routiniert ins Dasein einzubeziehen, aber er war auch schon zu alt, um noch über die Endlichkeit unbekümmert zu lächeln. Zunächst der Beginn von Kriers ›Es ist Nacht‹:
»Und du zitterst u stirbst, während die Straßen verstopft sind
mit Autos u Fußbällen u die schlimmen Kinder toben. Bald
werden sie gegen dein Fenster bolzen, über den Zaun steigen
u die Beete verwüsten. Mit Steinen die Katze. Dabei wolltest,
du noch die Überweisungen unterschreiben, denn es ist Nacht«.
Jean Krier präsentiert es uns ganz anderes als wir es haben möchten. Als er diese Gedichte schreibt, lebt er schon lange im Bewusstsein, dass er des Todes sei. Und dort nun – im Gedicht – inszeniert er die allmähliche Entrückung des Todes »du zitterst und stirbst«. In keinem Gedicht in »Eingriff, sternklar« ist das Präsens so erschütternd. Des Todes zu sein, ohne schon gestorben zu sein.
So sehr aber dieses Ende langhin avisiert worden war, so sehr wir aus dem Band erkennen können, dass Gedichte mit der Antizipation des Sterbens bereits 2009 datiert sind, so wenig gefasst ist das lyrische Ich auf das Unmaß des Nichts.
Überall ist Leben noch: In den verstopften Straßen, wo die Autos hupen täglich zu den immer neuen Hauptverkehrszeiten; bei den schlimmen Kindern, die mit ihren Fußbällen und der Raserei ihres Spiels andauernd aufgehalten werden müssen; jenen schlimmen Kindern, die alles, was dem Ich des Gedichts lieb zu sein scheint – die »Beete«, die »Katze« — in ihrem plumpen Ungestüm zernichten; die Überweisungen, die selbst noch in Luxemburg immer noch der autorisierenden Unterschrift bedürfen …
… so viel ist immer wieder und immer noch zu ordnen, zu erledigen, zu verteidigen immerfort, sodass die Finalität des Daseins so unaussprechlich ohnmächtig erscheint angesichts dieses immerwährenden Lauf der Dinge.
In den folgenden Versen wird Krier das Gedicht nochmals wenden (»Zitter also u stirb. Feier fröhliche Urständ am nächsten Morgen«), denn noch ein Tag wird abgerungen vom Schlund des Leviathans. Das absurde Paradoxon, Sterben zu müssen, es aber nicht wirklich zu können, bleibt. Aber das Nichtkönnen des Sterbens wird begründet auf hundert Nebensächlichkeiten.2
Was in den hier symbolisch angeführten Nebensächlichkeit (Straßenverkehr, Kindertoben, Finanztransaktionen) zur Geltung kommt, das ist das Geflecht an Bezügen zur Welt, die das Subjekt des Gedichts ins Dasein verstrickt.
Das heißt: Was in den Versen oben verbunden wird mit der Katastrophe des Zitterns und Sterbens, das sind Zusammenhänge mit der Welt, die mit dem Subjekt erlöschen.
Jean Krier sagt: Ein Stück der Ordnung der Welt stirbt mit. Ein weiteres Gedicht ›Nachtlied‹ scheint mir diesen Gedanken noch dichter zu fassen: »Das alles zähl auf / u vergiss nicht, immer wieder zu sagen, dass alles hingeht«.
Aber noch nicht lassen sich die Taue vom Ufer der Welt lösen. Mit unbestimmten Adressat ruft das lyrische Ich: »Ja, so halt mir das alles doch bitte nicht vom Hals. Lass es / nicht zu, dass Friede mir gegeben unter meinem Nachtlid«.
Die lästige Last der Welt, nicht soll sie ihm vom Hals gehalten werden und die Bewegung der Aufrechterhaltung der Weltbezüge beharrt im Modus der Expressivität: »Erzähl mir den ganzen Tag, erzähl die abgefallenen Blumen, / die Bäume, das Meer, so enorm, dass keiner es trinkt, erzähl / u den Sturm […]«.
Und nun spricht Krier im ›Nachtlied‹ das Axiom der Poesie der Endlichkeit aus: »Und sprich auch von dem, was mir noch immer nicht ganz / gelingt, sprich doch vom Scheitern. Sag mir alles von mir, / sprich mich nicht los u sprich dann, nein, sing von Wut, Blut / u Krieg. Nein, sing nicht, schrei u heul, blutwund im Mund«.
Wir beobachten hier die Endlichkeit in offener Revolte. Die Revolte der Endlichkeit gegen das Ende ihrer Aussagbarkeit, gegen den Abbruch ihrer Selbstverständigung. Endlichkeit, das ist das Murmeln und Raunen, gegen das unverschämte Schweigen der Ewigkeit.
Das Axiom lautet: Die Endlichkeit ist voller schmerzhaftem Ausdruck – »blutwund im Mund«; die Ewigkeit hingegen bloß ein dumpfer, stummer »Friede«, auf den sich die Pfaffen freuen. Das heißt: Die Endlichkeit ist stets in Aufruhr gegen das Endliche, also gegen sich selbst.3
Die Endlichkeit in offener Revolte
Die Gedichte ringen um die Aussagbarkeit schlechthin und verzagen sooft die Rede an die Grenzen ihrer Expressivität gelangt, wie am Ende von ›Tombeau pour un chat‹, wo die versehrte Körperlichkeit des Subjekts ins Gedicht hereintritt: »Und ich streichle mein Fleisch, / zerrissen u bleich u gehe dreimal um den heißen Brei«.4
Ebenso bringt ›Schatten springen‹ die sprachliche Expressivität als ein »noch nicht« in Position gegen eine Existenz, die nur ein Fristen zu sein scheint: »Nur dem Schatten noch leben, nur diese Sprache noch, / Wort los im Traum. «
Diese Bedrohung der Sprachfähigkeit und damit dem Leben an sich, diese Bedrohung wird (paradoxerweise) in ›Schatten springen‹ zunehmend extremer: »An Sprache nagt«. Man will ergänzen: Was nagt an der Sprache – oder wer? Und dann ganz explizit: »Sprachlos u täglicher tot schon«.
Die Revolte der Endlichkeit, in der sich Jean Krier in Aufruhr gegen das Sterben befindet, besteht also in einer Anstrengung das Selbst zu behaupten, es auszusagen, hinzusagen. Das Gedicht sich lehnt sich als Schrei der Existenz auf gegen das Schweigen, wie es in Kriers ›Gratias agimus‹ passiert. Die Szene ist das Krankenhaus, nachdem die Besuchszeiten vorüber sind, nachdem die Nachtwache in immer größeren Abständen nur kommt und da:
»Wie Abfall, wie von Gott, so ein Tag u nach langer
Abwesenheit Kindheit nachts um vier. Nichts anmerken
aber, dass keiner erkennt, wie vom Leben gezeichnet,
u niemand hört, wenn bei lebendigem Leib der Schrei«.
Hier kommt das Gedicht zu seiner eminentesten Stellung, auszusagen, wo kein Zeuge gegenwärtig war. Und mehr noch: zu sein, was im Selbst unaussprechlich war. Als »nachts um vier« da die Kreatur in all ihrer Anciennität sich gewahr wird der primären Unbehausung seiner Kindheit und der langen Zeit, in der die Erinnerung an den Anfang, den Ursprung verschollen war, die Kindheit verschüttet war unter den vielen Schichten der biographischen Zeit.
Auch hier sind die wesentlichen Verben offen gelassen. Was ist das Subjekt des Gedichts, während dieser nokturalen Visitation durch die Kindheit, was ist es, das »wie Abfall«, das »wie von Gott«? Ist es abgefallen und göttlich zugleich, überflüssig, aussortiert und von Gott zugleich? Oder – später – »wie vom Leben gezeichnet«. Nichts ist eindeutig nihilistisch, noch eindeutig heilvoll.
Das Gedicht offeriert, was niemand »hörte«, niemand »anmerken« sollte, niemand »erkennen« sollte, wie ein Geständnis und wie eine Klage zugleich: »bei lebendigem Leib der Schrei«. Die Masken liegen darnieder.
Auch dies die Revolte der Endlichkeit. Eingeständnis der Erbärmlichkeit der Kreatur, wo keine stillen Triumphe, keine heroische »Gelassenheit« mehr möglich sind. Nur Empörung an der indiskreten Unverschämtheit des Todes, an der fragilen Natur des Menschen.
»Da redet keiner dazwischen, kein Vater u Mutter. Denn / an fängt so wieder u ständig ein Neues u Trost immer ist / im Verlust«. Hier in der wunderbaren Syntax, die Krier seinem Archipoeta Friedrich Hölderlin abgelauscht hat, da begreift man: Die Revolte, das ist die Endlichkeit selbst, die in Aufruhr ist.
Nicht die jenseitigen Gedanken sind es, die zum Aufstand rufen; vielmehr ist es reine, aller Finalität anheimgegebene, nackte Diesseitigkeit, die aufschreit und die Waffen streckt – »Trost immer ist / im Verlust«.
Exkurs: Was ein Nachlass ist
Es scheint mir notwendig eine kurze Reflexion auf die Umstände des Bandes durchzuführen. Wir haben es mit einem Nachlass zu tun, der Gedichte zugänglich macht, die zwischen 2009 und 2012 entstanden sind.
Michael Braun, der diese Gedichte ediert und herausgegeben hat, hält im Nachwort folgende Gedanken fest: »Als er dann an seinen letzten Oden arbeitete, hatte er zwei schwere Herz- und Leber-Operationen hinter sich und wusste um die Begrenzung seines Lebens. Es sind überwältigend schöne Gedichte, in denen der Ton Hölderlins nachhallt und mit ihm die Bewegung der alkäischen Odenstrophe, vermischt mit den Melancholien eines Bewusstseins, das die Nähe des Todes spürt«.
Es besteht also offenkundig eine Bezugnahme auf den Autor, die durch Empathie charakterisiert ist, was dem Unterfangen vielleicht ein urliterarisches Moment zurückgeben, ein responsives, durch kein Kalkül geleitetes Bemühen um das, was man Werk in seiner Ganzheit nennt.
Der Herausgeber notiert ebenfalls in seinem Nachwort den wesentlichen Beitrag, den die Witwe des Dichters Elfi Krier-Clauß geleistet hat, um diese Gedichte ins Werk zu setzen. Die Tradierung dieser Gedichte also fußt auf dem, was man eine Erinnerungsgemeinschaft nennen könnte.
Das Eigentümliche am Phänomen des aufbereiteten Nachlasses ist aber, dass es einerseits motiviert wird durch ein Wunsch nach und Bemühen um Andenken, ein Souvenir, gleichwohl aber eine prospektive ästhetische Erfahrung ermöglicht, die für alle Leser postum möglich wird.
Emmanuel Lévinas wirft in seinen 1976 gehaltenen Vorlesungen zum Tod folgende Frage auf: »Kann es jenseits der Biographie eine Bedeutung des Daseins als Ganzes geben? « Vielleicht ist das Werk – d.h. die Wirkungen eines ausdrücklich geführten Lebens – als ein Werkganzes eine solche Möglichkeit von Bedeutung jenseits der Biographie, die aber an den Rändern ausgefranzt ist, daher des Nachlassverwalters bedarf, und in seiner poetischen Bedeutsamkeit prinzipiell offen ist – ein Dasein das erlesen wird von anderen.
Als anvertrauter Abschluss des Werkes ist also der Nachlass eine Erschließung der Möglichkeit einer Bedeutungsganzheit. Im Nachlass wird erstmalig die Geste der Erhaltung durchgeführt, die Aufgabe des Werkes aufbereitet – der Nachlass ist Zeichen für die Erhaltung der Wachsamkeit dessen, der entschlafen ist. Es ist die Kontinuität einer einmaligen Stimme, nachdem sie sich mühevoll erweckte aus dem Lärm des Alltags und Schweigen des Nichts.
Globalmetaphern
Was bei der oberflächlichen Lektüre dieser Gedichte relativ schnell deutlich wird, ist eine gehäufte Verwendung von Begriffen wie »Meer«, »Baum«, »Schatten«, »Katze«, »Hund«, »Blut«, »Herz«, »Wolke« oder »Blume«. Da man es mit einer Zusammenstellung der Gedichte durch Dritte zu tun hat, wird man wohl kaum von einer Leitmotivik sprechen.
Gleichwohl ist eine gewisse Konsistenz der Begriffe deutlich. Gewiss, die Begriffe sind relativ global. Sie sind aber nicht willkürlich aus unbeholfener Geistlosigkeit so offen gehalten. Der erste Text im Band wirkt wie eine Exposition für diese Bildwelt. Hier einige Verse aus ›Vieles aber ist / zu behalten‹ - ein Gedicht, das, wie Krier anmerkt, sich von der dritten Fassung von Hölderlins ›Mnemosyne‹ inspirieren ließ:
»Das nimmt mir keiner: so vollgestopft der Kopf
mit schwarzer Welt. Ein Herz, das leer u bebt
u nicht zu messen. Ein Meer, enorm, das frisch
u frei, u über Fels u Ewigkeit hinaus. Vater u
Mutter, die feiern trunken in meinem Traum. […][…] Die Katze mit schwarzem
Herzen am rechten Fleck, wie sie mir spricht,
ganz allein in ihrem Fell, bevor der Knüppel.«
Wir sind – auch mit Hölderlins ›Mnemosyne‹ – in der Domäne des Erinnerns; aber auch der Vergewisserung und der Behauptung von Dingen, die zentral für eine bestimmte Verfassung des Selbst zu sein scheinen.
Hervorgehoben habe ich oben einige Zentralbegriffe, um die in zahlreichen Gedichten im Band variiert, wideraufgenommen und modifiziert werden. Analog zu diesen Nomen müsste man noch weitere Wortgruppen festhalten, die ebenso häufig und konsistent auftauchen (etwa »schwarz«, »enorm« oder »frisch«).
Katze. Ich wähle einen Begriff, um irgendwo zu beginnen. Katze ist im Denkkosmos von Jean Krier so etwas wie ein Alter ego. In ›Ah, quel bonheur‹ heißt es zum Beispiel: »Katzen, zu denen ich sage Du« oder später »die letzte Katze, / den Namen ein letztes Mal, ein letztes Mal am Abend«. Die Katze hat bekanntlich neun Leben. Sie ist daher eine besonders resistente, widerspenstige Form der Vitalität.
Mehr noch, wie wir etwa in ›Alles ist in den besten Anfängen, - (Kafka, letzter Brief)‹ erfahren: »Und Brot / u Wein, die Katzen zart. Dass immer«. ›Brot und Wein‹, das ist freilich jene Elegie Hölderlins, über die Heidegger einst so viel zu sagen wusste. Aber die Zartheit der Katzen in den Bezirk von Brot und Wein zu rücken, jener Elemente der Eucharistie?
In ›Tom-Tom‹ dann: »die Namen von Frau, Kind u Katz« - alles, was geliebt wird. Name und Katze. Die Kreatur ist jegliche Leiblichkeit, ist das, was zu schützen ist, wie ich in dem bereits oben erwähnten Gedicht ›Es ist Nacht‹ gesagt habe: Das Subjekt des Gedichts sorgt sich um das Tier, das die »schlimmen Kinder« »mit Steinen« bewerfen.
Die Katze ist das Leben, das im gewöhnlichen Gang der Dinge immer auf der Kippe steht: »Ganz langsam in Hirn unten tief noch Katz / u Maus« (›Doux matou tout roux‹) oder »[…] Katzen / im Licht, der Lieder Licht. Wie vom Herz Schlag« (›Ode an die Freude‹) oder »das Rabenschwarz, während die Katzen hingen an / einem Faden« (›Point d'orgue‹).5
Die Kompositionen arbeiten sehr stark mit unterbestimmten Nomina. Freilich besteht bei diesem Einsatz von Globalbegriffen die Gefahr einer raschen Ermüdung des Lesers. Faszinierend bei Jean Krier ist jedoch, wie konkret die Bildszenen des Gedichts trotz dieser Allgemeinbegriffe werden können. Als Beispiel hierfür sei das Gedicht ›… the stillness of this place …‹ angeführt:
»Haben von allem genug: Schlag von der Sonne,
Schlag auch vom Wind, der treibt Seen von Licht
über das Meer, als wäre das Ramsch, einfache Beute
später am Strand. Genug der Stacheln: Ginster,
Schlehen, Beeren – reißen Fischaugen auf u Fleisch.
Jetzt wird gelöckt, nach dem Hubschraubereinsatz
nicht verzagt. Denn das Haupt voll Wut. Da hilft
nur ein Blick in die Zeitung. Ja, es ist eine falsche
Sonne, Sturm im vivier nur kommt auf. Und jenseits
eingebuchtet Brest, die leuchtende Stadt, mit Offizieren
in Säbel u Weiß. Einzudämmen die Euphorie ist schwer.
Lieber verduften in Nebel u Gischt, so lange man
in der Ferne, hinter Sperrzone u schwelendem Laub,
noch sieht sein Blut. Schwierig bei all dem ist nur,
dass Flossen hat der Fisch. «
Das Gedicht wird per Zitat in den Bereich John Ashberys ›Musica Reservata‹ gerückt. Jean Kriers Gedicht ist ein wundervolles Beispiel für zeitgenössische Distichendichtung mit einer lockeren Positionierung des Spondeus (er wandert z.B. im ersten Vers zwischen 3. u. 4. Hebung und im dritten Vers zwischen 4. u. 5. Hebung, sodass sich nie eine zyklische Regelmäßigkeit einstellt).
John Ashberys und Jean Kriers Gedichte arbeiten hier jeweils stark mit surrealistischen Assoziationsketten, die sich wie Blutgerinnsel hie und da festigen innerhalb des Textflusses. Existenziell tiefgründige Passagen wie »We are born, buried for a while, then spring up just as / everything is closing« bei Ashbery geben anderen, trivialeren Passagen die Hand: »Our desires are extremely simple: / a glass of purple milk, for example, or a dream / of being in a restaurant. Waiters encourage us, and squirrels. «
Bei Krier finden wir eine ähnliche Bewegung: Das herrliche Bild »vom Wind, der treibt Seen von Licht / über das Meer« geht über in Passagen aus Zorn und Nonchalance: »Denn das Haupt voll Wut. / Da hilft nur ein Blick in die Zeitung« oder zu Passagen, die schlichte Beobachtungen wiedergeben: »eingebuchtet Brest, die leuchtende Stadt, mit Offizieren / in Säbel u Weiß«.6
Es ist in beiden Gedichten ein seltsames Nebeneinander zwischen Ausnahmezustand und Alltag: Bei Krier wird dies durch Dichotomien erreicht – z.B. durch »Hubschraubereinsatz« und der »Zeitung« oder der Küstenlandschaft und der militärischen »Sperrzone«, die wegen der französischen Marine nahe Brest eingerichtet ist.
Während aber der Textfluss krass changiert von einem Wirklichkeitsareal in ein anders, von einer Assoziation in eine andere, so gewährleisten die weiten Begriffe wie »Licht«, »Meer«, »Wut«, »Sturm«, »Blut«, »Fisch« auch bei dem Leser eine Assoziationsweite, die nicht unnötig durch zu enge Bilder eingedämmt wird. Das Phänomen gilt wohl für die gesamte Lyrik von Jean Krier. Eine Kommentatorin hat dies auch hübsch als »Meerdeutigkeit« bezeichnet.
Ode, alkäisch: Überlegungen zur Form
Die Stellung der Ode wird im Hinblick auf Jean Kriers immer wieder betont, besonders in ihren antiken Manifestationen. Es ist aber nochmal festzuhalten: Jegliche zeitgenössische Anlehnungen an antike Formen fußen auf nachantiken, normativen Setzungen besonders des 17. und 18. Jahrhunderts.
Eine kontinuierliche Tradition der Odendichtung von Alkaios oder Sappho an bis zu Jean Krier existiert nicht.7 Vielmehr ist die Ode eine Erfindung, die auf einer Neubegründung beruht.
Deshalb macht Jean Krier seine Nähe zu Friedrich Hölderlin in mehreren Gedichten so explizit. Seine Odendichtung ist nachantik, aber überschreitet ebenso die präskriptive Poetik der europäischen (Neo-)Klassik, nämlich im Geiste der Romantik. Dem Luxemburger Poet ist die Aufnahme der Tradition als diskontinuierliche Kontinuität bewusst.
Diese Haltung verleiht seinen Oden bei aller augenscheinlichen Klassizität eine wunderbar postmoderne Attitüde.
Ich finde, die beste Ode in »Eingriff, sternklar« trägt den Titel »Schatten«. Sie besteht aus vier alkäischen Strophen, die – ohne Leerzeilen – untereinander gestellt sind. Hier ist die erste Sequenz:
»Dem Schatten nur noch leben, ǀ im Schlaf schon tot.
Nur diese Sprache sprechen, ǀ die Leid zufügt.
Es sei also. In seinem Schatten
Jeder, wo Träume zukommen, Hunde,«
Um die Diskussion etwas zu vereinfachen, sind oben die Hebungen schwarz gekennzeichnet, die roten Senkrechtlinien kennzeichnen die Zäsur. Zur Erinnerung: die Silbenquantität (11-11-9-10) korrespondiert mit folgender Anzahl von Hebungen: 5-5-4-4.
Die strukturelle Identifikation ist freilich ein Kinderspiel. Was leistet dieser Bau? Die ersten beiden Verse, weil sie jambisch einsetzen, auch nach der Zäsur, verleihen dem gesamten Fluss ein gewisses Tempo.
Die Konsonantenstruktur im ersten Vers beschleunigt dieses Tempo, besonders durch die Zischlaute (»Schatten« / »Schlaf«), das durch das nasale »nur« sowie das laterale »leben« zusätzlich an Fahrt gewinnen, das aber dann am Versschluss mit dem plosiv lautenden »tot« zu einem abrupten Halt kommt.
Die Zäsur nach dem Komma retardiert die Geschwindigkeit eigentlich nur leicht, lässt auch die beiden Senkungen kaum ins Gewicht fallen und ermöglicht eine günstige Position zum Atmen, um dann die letzten beiden Hebungen besonders kraftvoll zu artikulieren.
Im zweiten Vers wiederholt sich diese Logik. Sehr schön ist »diese Sprache sprechen«, das zunächst unterschiedliche Härtegrade an Plosiven kombiniert mit einer vokalischen IE-A-E-Folge, also mit einem gleitenden Diphthong, dem ganz offenen Vokal »a« und dann pünktlich zur Zäsur uns beim neutralen Schwa absetzt. Die andere Hälfte des zweiten Verses scheint leicht dissonant zu sein (manche sagen »zu holpern«), allerdings möchte ich darauf hinweisen, dass diese dissonante Akustik ausgezeichnet mit der Semantik korrespondiert, die ja sagt, dass Sprache und Sprechen »Leid zufügt«.
Der dritte Vers ist vollkommen regulär jambisch, allerdings mit einer hübschen alliterierenden Verstärkung der Hebungen, sodass tatsächlich eine hinwerfend-ausrufende Geste von der Sprache ausgeht: »Es sei also. In seinem Schatten«. Eine weitere Wirkung besteht darin, dass auf diese Weise alles gerafft wird: die Senkungen sind kaum hörbar, da die Alliteration so sehr dominiert – man nennt dieses raffende Phänomen auch Syszygie.
Was für das sinnvolle, ästhetische, nicht von Formalismus motivierte Formbewusstsein8 von Krier spricht, zeigt sich hier exemplarisch: Er bedient sich dieser Syszygie-Strategie fast in jeder neunsilbigen Zeile dieser Ode: »genagt. Am Tag der Traum im Kopf« oder »So müd sie tanzen, toter täglich«.
Der letzte Vers dieser ersten alkäischen Strophe weist nun eine Besonderheit auf, die Jean Krier eben mehr in die romantische Denkungsrichtung schiebt als in die goetheanisch-klassische Richtung: »Jeder, wo Träume zukommen, Hunde, «. Die alkäische Strophe endet mit einem unvollständigen Satz, der erst in der neuen Strophe weitergeführt wird.
Das Enjambement beginnt eigentlich schon im dritten Vers (nachdem die ersten beiden Verse in paralleler Bauweise syntaktisch und metrisch geschlossene Einheiten darstellen) und öffnet die Einzel-Strophe und verkettet die verschiedenen Strophen untereinander.
Zusammengefasst: Der Strophenbau fördert durch die in den beiden elfsilbigen Eröffnungsversen vorgenommene Parallelisierung einen kraftvoll-jambisch einsetzenden und dezidiert jeweils abschließenden Charakter der Invokation. Diese Invokation wird durch die Syszygie bei Krier hier im dritten Vers noch zusätzlich dicht und stark. Der letzte Vers jedoch führt zu einer Entspannung: Er setzt mit zwei Daktylen ein, das Tempo wird zurückgenommen (auch bei Krier durch die relativ breite Vokalstruktur äu – o – u unterstützt).
Ode, alkäisch: Überlegungen zur Form II
Zwei unterschiedliche Ausgestaltungen eines einzelnen Gedichtes lassen Rückschlüsse zu, wie sehr Jean Krier bemüht war, eine optimale Form zu finden für seine Themen. Ein Beispiel hierfür ist ›Ah, quel bonheur‹ (A) sowie eine Variante desselben Gedichts, das in der vierten Abteilung des Buchs abgedruckt ist und den schlichten Titel ›Ah, quel bonheur – Ode alkäisch‹ trägt.
Variante A (›Ah, quel bonheur‹) war zunächst in Sinn und Form erschienen, während die Variante B in alkäischer Form aus einem anderen Stadium rührt. Michael Braun merkt an, dass »[A] in diskret ironisch gewebten Langzeilen daherkommt«, während die verkürzte Variante B »wie eine elliptische Rohversion des Gedichts« wirkt.
Ich möchte nur die ersten Verse der Varianten vergleichen und beginne mit der in Sinn und Form abgedruckten:
»Tage voll Freude sind dies: ich steige erst richtig ein,
denn es geht um die Ernte am Ende der Fahnenstange.
N'ayez crainte, eine Spur habe ich nicht hinterlassen,
keinen billigen Zeitvertreib. Alles immer bar auf die Hand.«
Im Vergleich dazu Variante B:
»Voll Freude sind die Tage – ich steige da
erst richtig ein. Es geht um die Ernte jetzt
am Ende. Spuren sind da nicht zu
finden, kein billiger Zeitvertreib. Auf
die Hand u bar. […]«
Beide Varianten besitzen jeweils ihre eigenen Vorzüge. Was die Form zu leisten vermag, wird erst im direkten Vergleich deutlich. Gewiss ist die trochäisch einsetzende Sequenz mit den relativ regelmäßigen Hexametern elegant. Sie ist aber auch vollgestopft mit Material, das nicht unbedingt mehr Raffinesse ins Gedicht bringt.
Die alkäische Vorstufe wirkt viel trauriger. Ihre jambischen Auftakte wirken weich. Durch ihre prägnante Kürze entsteht gleichzeitig eine Atmosphäre der Unruhe und der Hast. Oben wird jeder Gedanke gemächlich ausgeführt, als sei noch alle Zeit der Welt, unten aber ist jedes Wort wie abgerungen.
Aber nochmal: »Formbewusstsein« meint nicht, was viele aber meinen, dass man diese oder jene Form ausführen könne. Um eine alkäische Ode zu verfassen, dazu muss man nur ein Kind ausreichend dressieren. Aber jene Form zu wählen, damit sie produktiv sei für die Aura und den Geist des Poetischen, dies bewusst zu tun, das meint »Formbewusstsein«.
So sehr schon die ersten naturalistischen Begründungen des Rhythmus mit dem Analogon des Pulsschlags operierten, so sehr ist sich Jean Krier bewusst, was er tut, sooft er Gedichte formt. Sooft er mit heißen Wangen die Dithyramben wählt oder den Traumpuls des elegischen Distichons sucht oder das Galerentrommeln der Blankverse anschlägt, ist es mit Bedacht getan im Sinne der Poesie, die daraus entspringen soll.
Und daher: »Dann aber knipse ich an / das Gute in Mensch u Vieh, auf dass es uns heimleuchte langsam«. Unbedingt lesen.
- 1. »Ensuite, encore ceci: ce qui occupe la capacité de pensée encore préservée, ce n'est pas le souci de ce qu'il y a après la mort, mais la mobilisation des ressources les plus profondes de la vie à s'affirmer encore.« [Paul Ricoeur : Lebendig bis in den Tod. Fragmente aus dem Nachlass (herausgegeben und übersetzt von Alexander Chucholowski), Hamburg 2007]. Hervorhebung PHC.
- 2. Es gibt aber auch Gedichte, darin das Subjekt schon losgelöst zu sein scheint vom Gang der Welt wie etwa in ›Tombeau pour un chat‹: »Und das Leben daneben, wie es unter Gelächter / Geschrei treppauf treppab. Wie es draußen im Garten / u zwitschert, träumt u treibt. Und in der blauen Luft / die Kraniche. […]«
- 3. [1] Dieses Thema vertieft das ›Totenbuch‹, welches eine Verknüpfung zwischen Infektion mit einer Krankheit und dem Virus der Literatur herstellt: »[…] Du meinst, das sei / schon schlimm, aber nichts zu machen: als Kidn bereits / infiziert u nie mehr losgeworden – Lesen u Schreiben. Blatt / um Blatt, Bogen um Bogen vollgekritzelt seit damals«.
- 4. Das Phänomen wiederholt sich zum Beispiel auch in ›Vorhersage‹, welches freilich auf eine Prognose, vielleicht der Lebenserwartung abhebt und das Problem der angemessenen Sprache mitverhandelt: »Sprachen eigentlich nur über das Wetter, ein Tief / irgendwo westlich, aber trotz Wolkenversprechen / kein Regen u das Gras ist verdorret. Für ein bisschen / Sündflut Einverständniserklärungen u Petitionen / unterschrieben, vielleicht aber beim abendlichen / Sprücheklopfen mit den Freunden im Garten ganz / einfach das richtige Wort nicht gefunden nicht / den rechten Ton […]«. Das kursiv gekennzeichnete Zitat ist aus dem ersten Petrusbrief an die zersprengten heidnischen Gemeinden. Diese Form allerdings ist leider der Lutherübersetzung geschuldet und findet sich prominent in dem deutschen Requiem (op. 45, ) von Johannes Brahms – vollständig lautet die Passage: »Denn alles Fleisch, es ist wie Gras / und alle Herrlichkeit des Menschen / wie des Grases Blumen. / Das Gras ist verdorret / und die Blume abgefallen.«
- 5. Notwendig wäre es dieses Motiv in Verbindung mit anderen Tieren, die Jean Krier erwähnt, zu bedenken: »Kraniche«, »Möwen«, »Raben«, »Flusspferd«, »Hund«, »Hasen«.
- 6. Unter dem Gedicht notiert Krier ›Presqu 'île de Crozon, Oktober 2011‹. Nicht nur Wikipedia wird dem Leser mitteilen, dass auf dieser Halbinsel im französischen Nordwesten ein Teil der Atom-U-Bootflotte stationiert ist, sodass die Beobachtungen, die das Gedicht wiedergibt topographisch bedingt sind, wie auch andere Assoziationen im Gedicht: »hinter Sperrzone u schwelendem Laub, / noch sieht sein Blut.«
- 7. Eine Diskussion zur Formstrenge der antiken Autoren kann ich hier leider nicht entfalten: Es scheint mir aber so, dass die Normativität der Formvorgabe für die neuzeitlichen Nachgeborenen stärker zu sein schien/scheint als für jene Dichter, die Platon vor Augen hatte, sie unbekümmert als Lügner bezeichnete und die sich selbst weniger ernst nehmen konnten als die poetologischen Großinquisitoren der Neuzeit.
- 8. Über den Begriff »Formbewusstsein« sind einige Bemerkungen notwendig, denn der Begriff wird häufig schulterklopfend verwendet, meistens in Unkenntnis oder im Phantasma der »strengen« Beobachtung »der Form«. Formbewusstsein ist aber ein aktiver Wille und keine bloße Nachahmung von Vorgaben. Formbewusstsein kann in der Gegenwart – nachdem alle präskriptiven Formen aufgelöst worden ist – nicht meinen, dass dieser oder jener Dichter wisse, was er tun müsse um eine alkäische Ode oder ein Sonett oder ein Ghasel zu schreiben (das kann jedes Kind). Vielmehr meint Formbewusstsein, ein auf akustische Wirkung hin kalkulierte Durchbildung des Sprachmaterials mittels einer gewissen Disziplin zur Konsistenz (Konsistenz: die Voltaire im Übrigen als das, was Stil ist, ausmachte). Konsistenz aber nicht, um regelmäßig zu sein, sondern um das Gehör, das akustische Empfinden der potenziellen Zuhörer oder Im-Kopf-Vorsteller zu befriedigen oder – je nach Intention des Künstlers – zu verstören. Dazu braucht es aber Erfahrung, Referenzbeispiele, ein gewisses Poesie-Gedächtnis, um zu wissen, welche Lautfolgen besonders gut funktionieren, welche kakophonisch sind, oder um zu erkennen, dass eine klangliche Innovation funktioniert.
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