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ostra-gehege Zeitschrift für Literatur und Kunst
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ostra-gehege Zeitschrift für Literatur und Kunst
Kritik

Panorama im Nadelöhr

Hamburg

Musikjournalismus, das heißt, vom Schreibtisch nach Hause zu kommen – oder lediglich davon aufzustehen, je nachdem – und die Sachen in die Ecke zu schmeißen, bevor es aufs nächste Konzert geht. Auf dem Weg reicht die Zeit höchstens für Fast Food, den restlichen Nahrungsbedarf muss das Bier abdecken, welches entweder mit PR-Menschen, Labelmenschen, Musik machenden Menschen, anderen Journalismusmenschen oder seltener mit Menschen aus dem Freundeskreis vor, während und danach verdrückt wird. Das ist nicht allein für die Leber anstrengend, es nervt auch irgendwann tierisch.

Jens Balzer ist dagegen wohl resistent, zumindest ist der stellvertretende Feuilleton-Ressortleiter der Berliner Zeitung eine Art Hochleistungssportler der Berliner Konzertkultur und auf den Gigs von ziemlich allen vielversprechenden, etablierten, überschätzten oder absolut jenseitigen Acts zu finden. Meist im Hintergrund, gerne am Tresen, mit durch die Menge wanderndem Blick.

Aus dieser Perspektive heraus verspricht Balzer, im Buchformat Pop zu erklären - und noch mehr. Ein ganzes Panorama der Gegenwart, das er irgendwo zwischen dem Festsaal Kreuzberg, längst verblichenen Venues in Mitte und der Mehrzweckhalle am Ostbahnhof, nahe Balzers Lieblingsclub Berghain, aufspannt. Das ist ja schon mal beruhigend zu wissen: Gegenwartspop hat einen Radius von lediglich 20 Kilometern.

Balzer eröffnet das durchs Nadelöhr gequetschte Panorama im Schmerzzentrum der Stadt, der – aktuell nach einem Autohersteller benannten – Mehrzweckhalle unweit des Berliner Ostbahnhofs. Dort begegnet er an einem scheinbar legendären Abend »extremem Eklektizismus«. Die »Post-Postmodernität« der Figur auf der Bühne wirkt auf ihn

wie der Normalzustand einer musikalischen Gegenwart (…), in der alle Gattungsgrenzen, Traditionen und Konventionen vollständig verflüssigt sind.

Das sind viele schwierige Worte, die schwer wiegen und sonst wohl eher selten in Verbindung mit Helene Fischer fallen. Ja, richtig: Das schreibt Balzer über die Schlagersängerin mit dem Bierzelt-Dauerbrenner »Atemlos«.

Wenn Balzer nämlich auf Konzerte geht, dann gerne dorthin, wo es wehtut. Und wem würde es bei einem Fischer-Konzert schließlich nicht wehtun? Vermutlich einer ganzen Menge Menschen, denn schließlich hält sich die Schlager-Chanseuse nicht nur monatelang in den Charts, sie verkauft auch diejenigen Mehrzweckhallen aus, in denen Balzer sich sonst Rihanna oder Justin Bieber anschaut. Sich Fischer zum Gegenstand zu machen, entspricht einem integralen Teil von Balzers Popverständnis: Wie viel spannender das Geschehen in den kleinen Konzertsälen auch sein mag, die Analyse darf den Mainstream nicht meiden.

Dass Balzer die Sängerin als in allen Farben leuchtendes Exempel heranzieht, ist dabei zugleich als Geste zu verstehen: Während die zeitgenössische Popkritik in Hinsicht auf beispielsweise Beyoncé und Rihanna nahezu devote Zugeständnisse bringt, ist Fischer als Trash-Produzentin ein Reizthema. Balzer aber möchte schon ein bisschen polarisieren, das war schon immer sein Kapital.

Um zu polarisieren, konstruiert Balzer verschiedene Pole im Gegenwarts-Pop. Rihanna und Beyoncé würden

auftreten, herumstolzieren, tanzen, ‘Huch’ und ‘Ach’ machen, sich bewundern lassen und wieder abtreten

weiß der Konzertsportler zu berichten und kontrastiert das mit der ausdauernden, nahezu omnipotenten »Schizo-Erotik« einer Fischer, die dermaßen teflonbeschichtet ist, dass sie selbst die Nähe eines Volkstümlers wie Andreas Gabalier suchen kann, ohne sich dabei weiter in Widersprüche zu verstricken.

Dagegen sehe der »arbeitsverweigernde Minimalismus der Diva«, wie er von Rihanna und Beyoncé vertreten würde, eben alt und allemal charakterlos aus.

Bei ihren Konzerten kann man lernen, wie weit man heute kommen kann, ohne ein ‘Ich’ zu besitzen.

Das Problem dieser Einschreibungsversuche ist vor allem, aber nicht allein ihr herablassender Ton, welcher diese Frauen explizit als Marionetten einer männergeleiteten Industrie stilisiert und damit den impliziten Vorwurf gleich mit-reproduziert: Mann sagt Frau, dass sie nichts zu sagen habe, weil sie ja sowieso nichts sagen würde.

Das andere Problem ist die – Balzer würde das nun folgende Wort allein des Präfixes wegen gefallen – postfaktisch operierende Argumentation an sich. Kurzer Rückblick: Rihanna war die mit dem Überhit »Work«, vorgetragen im barbeidischen Patois ihrer Heimat, mit dem sie noch mal ihre Identität sprachlich nach außen kehrte. Beyoncé hingegen war diejenige, die gerne Songs über »Independent Women« singt oder sich vor ein überlebensgroßes FEMINIST-Banner stellt. Wenn sie nicht gerade über ein komplettes Album mit dazugehörigem Video-Pendant ihre eigene Leidensgeschichte als hintergangene Ehefrau stilisiert und

If he fuck me good I’m gonna take his ass to Red Lobster

über ihren Gatten singrappte. Genau, Jay-Z, der Balzer zufolge als Marionettenspieler im Hintergrund agiert.

Wie substanziell die Claims von Rihanna und Beyoncé jeweils sein mögen, das ist unbedingt diskutabel. Nur eben nicht für Balzer, der sie schlicht unter den Tisch fallen lässt. Das wäre der Argumentation abträglich, in deren Mittelpunkt nur diejenigen genehm polarisierenden und fein säuberlich polarisierten Beispiele stehen, die hilfreich sind.

Die Argumentation indes lautet in Kurzform ungefähr so: Anfang der zweitausender Jahre und damit am Anfang unserer Gegenwart spielten Gitarren-basierte Männlichkeitsbilder im Pop ein letztes Mal eine tragende Rolle. Danach wendete sich aber das Blatt,

die richtungslose Schlaffheit überforderter Jünglinge

wird abgelöst von etwa der »heroischen Feminität« einer Adele oder aber dem »lustvollen Nichtfertigwerden« des New-Weird-America-Sounds. Mittlerweile folgt auf den »Strukturalismus« von Rihanna und Beyoncé sowie Lady Gagas »Post-Strukturalismus« nun der »Post-Feminismus« einer Helene Fischer.

Klingt etwas kryptisch, bleibt es weitgehend auch: Weder fundiert Balzer seine Begrifflichkeiten in Definitionen, noch hält er sich mit allzu ausführlichen Erklärungen dazu auf. Das mag in Konzertkritiken verzeihbar sein, in Buchform aber reißen so Löcher im angekündigten Panorama auf.

Pop reiht sich in eine Reihe von neueren Veröffentlichungen ein, die nicht minder viel Ein- und Ausblicke oder zumindest die richtigen Fragen versprachen. Über Pop-Musik schrieb etwa Diedrich Diederichsen, The Story of Pop erzählte auf ein Neues Karl Bruckmaier. Wie Diederichsen versucht sich Balzer an einer Theoretisierung, die er Bruckmaier gleich als Geschichtsschreibung inszeniert. Problematisch ist das, weil Balzer weder aus der Philosophie heraus mit deren Mitteln auf Pop schaut, wie Diederichsen das tut, noch auf Grundlage historisch abgesicherter Fakten eine Perspektivverschiebung angeht, wie das Bruckmaier gelang. Er pfriemelt stattdessen aus dem Selbsterlebten eine möglichst kratzig formulierte Historie von Paradigmenwandeln zusammen, die mit ihrem roten Faden wie beim Stricken verfährt: Zwei rechts, zwei links, zwei fallen lassen.

Das macht Pop zu einem recht unterhaltsamen, aber auch haltlosen Pop-Buch. So konzise Balzer in verengter Form auch über subjektive Verschiebungen, Genderumdeutungen und Fischer argumentieren mag: Das Panorama im Nadelöhr erlaubt eben ungefähr so viel Perspektive, wie es ein Radius von rund 20 Kilometern zulässt. Und am Ende spaziert Balzer selbst dann doch viel lieber in das von der Mehrzweckhalle nur einen ambitionierten Steinwurf entfernte Berghain, um ein bisschen von der

Aura der Freiheit

zu schnuppern, welche Pop uns verspricht. Helene Fischer wird ihren extremen Eklektizismus dort sicherlich nie auf die Bühne bringen.

 

 

 

 

 

 

Jens Balzer
Pop
Ein Panorama der Gegenwart
Rowohlt
2016 · 256 · 20,00 Euro
ISBN:
978-3871348303

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