Gesichter des Grauens
Frankreichs umstrittenster Kolonialgeneral ist vor kurzem im Alter von 95 Jahren gestorben. Paul Aussaresses war unter anderem in Algerien im Einsatz. Seine Taten dort hat er vor wenigen Jahren publik gemacht, zunächst in „Le Monde“, anschließend in einem Buch mit dem Titel „Services spéciaux, Algérie 1955-1957“. Von einem französischen Gericht wurde er daraufhin wegen der Verherrlichung von Kriegsverbrechen zu einer Geldstrafe verurteilt. Für die Taten selbst konnte er allerdings nicht mehr belangt werden; ein Amnestiegesetz aus dem Jahr 1962, erlassen vom früheren Präsidenten de Gaulle, verhinderte dies.
Sein Auftrag, so Aussaresses, sei es gewesen, Algerien vom Terrorismus zu befreien – mit allen Mitteln! Im Vorwort seines Buches, aus dem die „Süddeutsche Zeitung“ vor einigen Wochen zitierte, heißt es: „Man hat mir beigebracht zu töten, ohne Spuren zu hinterlassen sowie meine Leiden und die der anderen gleichmütig hinzunehmen. All das für Frankreich.“
Zwei Jahre bevor Jérôme Ferrari 2012 für seinen Roman „Predigt auf den Untergang Roms“ den Prix Goncourt gewann und einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde, hat er ein Buch über den Algerienkrieg geschrieben. Auf Deutsch ist „Und meine Seele ließ ich zurück“ 2011 beim Schweizer Secession-Verlag erschienen. Anders als in Frankreich, wo Ferrari Preise und lobende Besprechungen einheimste, blieb die deutsche Ausgabe jedoch weitgehend unbeachtet. Das könnte sich aufgrund der neugewonnenen Popularität des Autors nun ändern. Zu Recht, denn „Und meine Seele ließ ich zurück“ ist ein großartiges, verstörendes Werk, das den literarischen Vergleich mit „Predigt auf den Untergang Roms“ nicht scheuen muss.
Im Zentrum der Handlung steht Capitaine André Degorce. „Widerstandskämpfer, und neunzehnjährig deportiert, Überlebender von Điện Biên Phủ und der Lager der Viet Minh“, so erfährt man. Ein französischer Krieger also, wie sie der Zweite Weltkrieg in großer Zahl hervorgebracht hat. Alexis Jenni hat mit seinem Buch „Die französische Kunst des Krieges“ diesen Typus gerade auf brillante Weise literarisch verewigt.
Während des Zweiten Weltkrieges war Degorce von den Nazis interniert und gefoltert worden. Anders als die meisten seiner Kameraden hat er das Konzentrationslager jedoch überlebt. Mittlerweile, wir sind im Jahr 1957, hat sich das Blatt gewendet. Jetzt ist es Degorce, der in Algerien die Widerstandskämpfer jagt, ihnen gnadenlos nachspürt und so lange malträtiert, bis sie die Namen ihrer Mitkämpfer und Unterstützer preisgeben. Auf diese Weise landen immer mehr Menschen in den Kellern der französischen Militärs, wo das grausame Treiben von vorne beginnt. Nach getaner Arbeit füllt Degorce die Kästchen seines Organigramms aus, dessen Verästelungen Tag für Tag anwachsen.
Degorce ist ein Profi. Er quält nicht, weil er Sadist ist, sondern weil er Informationen möchte, Informationen, die seine Vorgesetzten in Paris von ihm erwarten. Zumindest glaubt er das. Dass er selbst schon einmal in der Position des Gefolterten war, hat er nicht vergessen – es spielt nur keine Rolle! Als seine Soldaten einer jungen Algerierin die Kleider vom Leib reißen und sie missbrauchen, schreitet er ein: „Sind Sie durchgeknallt, Moreau? Die Journalisten kommen gleich und Ihnen fällt nichts Besseres ein als das? Ziehen Sie mir dieses Mädchen wieder an und lassen Sie es in Frieden.“
Die Journalisten kommen, weil Degorce der Fang seines Lebens gelungen ist. Tarik Hadj Nacer – genannt Tahar – ist der Anführer der Aufständischen und soll der französischen Öffentlichkeit vorgeführt werden. Diesen Triumph will sich Degorce nicht von ein paar wild gewordenen Untergebenen kaputtmachen lassen. Beim Zusammentreffen mit Tahar, den er so lange gejagt hatte, ist ihm dieser sympathisch; er will seine Ermordung verhindern! Das aber ist im System nicht vorgesehen. Als er kurz darauf von Tahars Tod erfährt, greift er sich den nächstbesten Gefangenen und foltert ihn in einem Anfall von Blutrausch bestialisch zu Tode.
Erzählt wird uns das alles von Andreani, einem weiteren Mitglied der französischen Kriegerkaste und Untergebenen Degorces seit Vietnamzeiten („Wir sind von derselben Schlacht gezeugt worden, unterm Monsunregen, und nie habe ich aufgehört, Sie wie einen Bruder zu lieben.“). Wie sich herausstellt, war es Andreani, der Tahar den Strick um den Hals gelegt hat, an dem dieser erhängt wurde – und der anschließend die Leiche verschwinden ließ.
„Und meine Seele ließ ich zurück“ ist die Geschichte dreier Menschen, deren Leben aus der Aneinanderreihung von Krieg, Gewalt und Tod besteht; und sie können oder – wie Andreani – wollen sich davon nicht lösen. Stattdessen finden sie sich mit Ihrem Tun ab und erklären es zur Pflicht am Vaterland. Wie groß die Selbstqualen mitunter sind, kann man einem Brief entnehmen, den Degorce für seine Frau geschrieben, aber nie abgeschickt hat: „Ich bin ein wimmerndes Tier, so kaltherzig, dass es den Schmerz, der es wimmern läßt, nicht einmal mehr spürt“, heißt es darin. Er wünscht sich, „und sei es nur für einen Augenblick“, dorthin zurückzukehren, „wo ich meine Seele ließ“.
Szenenwechsel: Vom Algerien der 1950er Jahre nach Korsika am Ende des vergangenen Jahrhunderts. Dort ist die Handlung von „Balco Atlantico“ angesiedelt, dem ersten Teil von Ferraris französischer Gewalttrilogie, der im französischen Original 2008 erschienen ist und seit einigen Wochen nun auch in deutscher Übersetzung vorliegt.
Der zentrale Schauplatz kommt einem bekannt vor, eine korsische Bar, der in „Predigt auf den Untergang Roms“ nicht unähnlich. Nur dass es diesmal nicht zwei gescheiterte Studenten sind, die das Lokal betreiben, sondern Hayet, die Schwester von Khaled, die sich dort ihren kärglichen Lebensunterhalt mit Abspülen verdient. Die Geschwister sind aus Marokko – dort gibt es eine felsige Küstenstraße, den Balco Atlantico, einen Sehnsuchtsort mit Blickrichtung Europa – nach Korsika gekommen, in der Hoffnung auf ein freieres und besseres Leben, lange vor dem sogenannten arabischen Frühling. Was sie vorfanden, waren übersteigerter Nationalismus und gewalttätige Separatisten. Letzteren fällt Khaled zum Opfer, als er seine Schwester gegen deren Anzüglichkeiten in Schutz nimmt. Er und ein ebenfalls marokkanischer Mitbewohner werden brutal ermordet. Die pubertären Mörder, so erfährt man, „fühlten sich erwachsen, geadelt durch das Licht des Untergrundes“; und „sie schwammen in ihrem Glück“, in einer Welt, die derlei als „Glück“ anerkannte und zuließ.
Stéphane ist mittendrin. Er gehört der korsischen Untergrundbewegung an. Als Historiker beschäftigt er sich mit der Konstruktion von Vergangenheit. Er schreibt „abscheuliche Geschichten von Rache und Mord, Geschichten unerhörter Brutalität“. Die Propagandapamphlete präsentiert er, wissenschaftlich verbrämt und mit zahllosen Querverweisen versehen, den Kommilitonen an der Universität. Und seiner minderjährigen Freundin Virgine, die er – der Name ist Programm – wie eine Heilige verehrt. Daneben gibt sich Stéphane als Füllmaterial für Bilder und Fernsehaufnahmen her, wo er – kein Widerspruch! – bei Pressekonferenzen der Untergrundbewegung neben einer „korsischen Mohrenkopfflagge“ steht, das Gesicht hinter einer kratzenden Wollmaske versteckt. Die in den Medien veröffentlichten Fotos findet er albern, schneidet sie aber dennoch aus, um Virgine zu gefallen.
Von Stéphane geht auch die Initiative zum Mord an Khaled aus. Die Hinrichtung begründet er mit nationalistischen Phrasen von „moralischer Reinheit“ und dem „Wohl der Volksidentität“: „Alle Welt muss wissen, dass man den Unsrigen kein Leid antut, dass wir die Unsrigen verteidigen“; auch von der „unbedingten Pflicht“ zur Tat ist die Rede. Worthülsen, über all die Jahre des Aktivismus ins Hirn eingebrannt, entfalteten ihre Wirkung, Theorie und Praxis verschwimmen auf grausame Weise. Konsequenzen sind kaum zu befürchten. Da in Khaleds Zimmer etliche verkaufsfertige Haschpaletten gefunden werden, berichten die Zeitungen über einen Mord unter maghrebinischen Drogendealern. Nur einem in der Gruppe, Dominique, geht das zu weit; den Versuch, sich von den anderen loszusagen, bezahlt er mit dem Leben.
Wie in seinen anderen Romanen webt Ferrari auch in „Balco Atlantico“ ein kluges Erzählnetz. Die Einzelheiten erfahren wir von einem paranoid-schizophrenen Ethnologen, der sich, nach Aufenthalten in der Psychiatrie, beruflich wie auch privat auf ganzer Linie gescheitert, nach Korsika zurückgezogen hat. Dort verbringt er viel Zeit in der Bar und unterhält unzählige Affären mit Studentinnen und Kolleginnen. Für Stéphane wird er vorübergehend zu einer Art Spiritus Mentor, wenngleich ihn die kruden Geschichtspamphlete der Nationalisten eher abstoßen. Im Traum kehrt er in die Lagerwelt der Nationalsozialisten zurück, wo er die grausamsten und sinnlosesten Gewaltexzesse des Jahrhunderts noch einmal durchlebt. Auschwitz als Referenzpunkt für Elend und Unglück des 20. Jahrhunderts, bis 1945 und noch lange darüber hinaus, zählt zu den wiederkehrenden Motiven in Ferraris Büchern.
Und am Ende steht der Tod. Nicht als ein Akt der Gerechtigkeit oder Befreiung, sondern lediglich als ein Weiterdrehen der Gewaltspirale. In „Balco Atlantico“ ist es Vincent, der Stéphane abpasst, als dieser zu seiner Geliebten möchte, und ihn erschießt. Nicht wegen des Mordes an Khaled, sondern aus Rache für Dominique, dessen Tod Stéphane aus Gefallsucht fotografisch festgehalten hatte. Nach vollbrachter Tat geht Vincent nach Hause, er kocht, isst, legt sich schlafen – aber man ahnt bereits, dass auch diese Ruhe nur eine vorübergehende sein wird.
Jérôme Ferrari hat mit „Balco Atlantico“, „Und meine Seele ließ ich zurück“ sowie „Predigt auf den Untergang Roms“ eine grandiose Romantrilogie vorgelegt, deren Wirkkraft weit über die französische Grenze hinausreicht. Seine Bücher gehören zum Besten, was man derzeit in Europa von einem lebenden Autor als Lektüre in die Finger bekommen kann.
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