„Was heißt das: neue Ideen?“
In Teil drei von J.J. Voskuils monumentaler Büro-Hepatologie sind die Protagonisten in den Jahren 1972 bis 1975 angekommen. Maarten Koning, weiterhin Leiter der Abteilung Volkskulturen am Amsterdamer volkskundlichen Institut – jener Einrichtung, an der Voskuil sein gesamtes Berufsleben verbracht hat –, geht mittlerweile auf die 50 zu. Anton Beerta, vormals Direktor und Mentor Maartens, bereitet sich auf die Festlichkeiten zu seinem 75. Geburtstag vor.
Die Veränderungen gegenüber den vorangegangenen Jahren erscheinen überschaubar – zumindest auf den ersten Blick. Doch geht der Geist der 60er und 70er Jahre auch am „Büro“ nicht spurlos vorüber.
Maarten hadert weiterhin mit seiner Arbeit, die er als sinnlos empfindet. Sich eine andere Tätigkeit zu suchen, wie es ihm seine Frau Nicolien nahelegt, vermag er dennoch nicht. Zu sehr fühlt er sich seiner Verantwortung gegenüber Beerte und dem Institut verpflichtet. Derweil konfrontieren ihn seine Mitarbeiter mit dem Dilemma, dass Führung und Basisdemokratie mitunter schwer unter einen Hut zu bringen sind. Am liebsten wäre es Maarten, sich aus seiner Chefrolle herauszuwinden und alle Entscheidungen im Team zu treffen. Zu seinem Leidwesen gelingt ihm das aber so gut wie nie. Als ihm Bart, den jede Form von Verantwortung an den Rande eines Nervenzusammenbruchs bringt, vorwirft, sein Führungsstil erinnere ihn an Nixon, verschlägt es Maarten zeitweilig die Sprache. Es dauert Tage, bis er sich davon erholt hat. Dabei ist es gar nicht so sehr der Nixon-Vergleich selbst, der ihn aus der Bahn wirft, sondern der ganz offenkundige Irrglaube seiner Mitarbeiter, er, Maarten, grenze sich von seinem Team ab und fühle sich in seiner Vorgesetztenfunktion wohl.
Auch sonst scheinen die Dinge ihren gewohnten Gang zu gehen. Maarten bastelt lustlos an einem Vortrag zur Verbreitung der Kinderwiege in den Niederlanden. Dabei schlägt er sich mit der tiefschürfenden Frage herum, ab wann die feststehende Wiege die Schaukelwiege ersetzt hat. Daneben schreitet das Großprojekt des „Europäischen Atlas“ stetig voran. Diesmal mit einem internationalen Kongress im ungarischen Visegrád, bei dem Maarten – zum anfänglichen Entsetzen Beertas – einen Aufstand gegen den selbstherrlichen Kommissionsvorsitzenden Horvatić anzettelt, der sich als so erfolgreich herausstellt, dass ihn am Ende sogar Beerta unterstützt. Gegen seinen Willen entwickelt sich Maarten so zum Rädelsführer einer Gruppe jüngerer Wissenschaftler, die gegen das als autoritär empfundene „System“ aufbegehrt und sich für eine stärkere Einbeziehung des Nachwuchses stark macht. Doch statt sich über seinen Erfolg zu freuen, überwiegt das Unbehagen, einen Pyrrhussieg errungen zu haben, für den er künftig in Form von mehr Arbeit und Verantwortung – kurzum: Einbeziehung! – bitter wird bezahlen müssen. Wie so häufig resultiert der Versuch Maartens, aus dem System auszubrechen, darin, dass er selbst noch stärker als bisher ein Teil davon wird – was sein Leiden an sich selbst und seiner Arbeit nur noch weiter verstärkt.
Der zweite große Handlungsstrang ist den Machenschaften und Intrigen rund um das flämisch-niederländische Volkskundeorgan „Ons Tijdschrift“ gewidmet. Während Beerta und Marten das wissenschaftliche Format der Zeitschrift bewahren möchten, plädiert die belgische Seite um Professor Pieters für die inhaltliche Öffnung gegenüber einer breiteren, in erster Linie flämischen Leserschaft. Beertas taktische Winkelzüge, die allesamt darauf abzielen, bei „Ons Tijdschrift“ an Bord zu bleiben und weiter Einfluss auszuüben, gehen Maarten gewaltigen gegen den Strich. Stur beharrt er darauf, notfalls den Absprung zu wagen und das Projekt über Bord zu werfen, anstatt sich auf einen Kompromiss einzulassen, von dem in Maartens Augen nur die flämische Seite profitiert.
Das subtile Zusammenspiel zwischen Maarten und Beerta steht auch im dritten Teil von „Het Bureau“ – so der Titel des niederländischen Originals – im Mittelpunkt. Wo Beerta versucht, alle Klippen und Konflikte geschmeidig zu umschiffen und sich so lange zurückzuhalten, bis klar ist, welche Seite sich durchsetzt, ist die Empörungsschwelle bei Maarten deutlich niedriger. Statt nach Kompromissen sucht er, siehe „Ons Tijdschrift“, nach klaren Regelungen, zumindest dann, wenn es um Fragen geht, die aus seiner Sicht einer grundsätzlichen Klärung bedürfen. (Wenngleich, das nur am Rande, bei Maarten die allermeisten Dinge sehr schnell grundsätzlicher Natur sind, zum Beispiel die Frage, ob der Mensch ein Auto besitzen sollte). Eine diplomatische Herangehensweise ist seine Sache nicht. Das wird deutlich, als er seinem Direktor Balk zu dessen 50. Geburtstag die traditionell zu diesem Anlass vergeben Abraham-Puppe überreichen soll. Statt es bei einigen ebenso warmen wie belanglosen Worten zu belassen, holt Maarten zu einer länglichen Tirade gegen den (niederländischen) Brauch aus, dem er nicht nur antisemitische, sondern auch nationalsozialistische Wurzeln attestiert. Sowohl bei Balk als auch bei den Kollegen erntet er damit betretenes Schweigen – und Maarten stöhnt noch Wochen später vor Scham auf, wenn er sich an die Situation zurückerinnert. Die kleine Rede ist ein Paradebeispiel für sein Dilemma: Er möchte keine herausgehobene Stellung, die ihn in die Situation bringt, dumme Reden halten zu müssen. Passiert es dennoch, was aufgrund seiner Position unvermeidlich ist, kommt das Gegenteil dessen dabei heraus, was er eigentlich erreichen will, er eckt an und sorgt für Unruhe. Dafür verflucht Maarten sich selbst und die Welt um sich herum – und wünscht sich weit weg an einen anderen Ort.
Auch in Teil drei von „Das Büro“ werden auf knapp 1.000 Seiten die normalsten Dinge des Berufsalltags abgehandelt. Voskuil hat die kleinsten und nebensächlichsten Dinge (s)eines beruflichen Lebens in großartige Literatur verwandelt. In Weise, die Außenstehenden, die die Bücher nicht kennen, bisweilen nur schwer zu vermitteln ist. „Das Büro“ ist so vielschichtig wie das Leben und die darin auftretenden Charaktere selbst. Gerade in der Ausführlichkeit und den bewusst gesetzten Wiederholungen entfaltet Voskuil sein literarisches Panorama; und perfektioniert so die Annäherung an die handelnden Personen im Wandel ihrer Zeit.
Denn letztlich handelt sich bei „Das Büro“ um ein kulturhistorisches Großprojekt. Auch wenn sich dem deutschen Leser mitunter nicht alle Facetten der dort verarbeiteten niederländischen Nachkriegsgeschichte auf Anhieb erschließen, etwa die äußerst rigide Auseinandersetzung über vermeintliche Mitläufer des NS-Regimes, treten die großen Linien doch deutlich zu Tage. Der gesellschaftliche und politische Wandel der frühen 1970er Jahre prägt nicht nur die Handlung, sondern manifestiert sich vor allem auch in der Sprache und den Umgangsformen der Protagonisten. Auch deswegen ist „Das Büro“ nicht „nur“ ein großer niederländischer Roman, sondern ein bemerkenswertes Literaturprojekt, dem über die Grenzen der Niederlande hinaus eine größtmögliche Verbreitung zu wünsche ist.
„Plankton“ erfüllt die durch die beiden Vorgänger („Direktor Beerta“, „Schmutzige Hände“) gesteckten Erwartungen mühelos. Und weckt Neugier auf mehr, zumal sich am Ende einige kleinere und größere Veränderungen anbahnen. Einziger Wermutstropfen ist auch diesmal, dass die deutschsprachigen Leser bis zum Herbst warten müssen, bis sie mit Band vier („Das A.P. Beerta-Institut“) die Lektüre fortsetzen können.
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