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Kritik

Im Bann des Buchstabens

J. Meade Falkners Moonfleet als literarische Schatzsuche
Hamburg

Ein Dorf an der Südküste Englands, ein Gasthaus mit einem bärbeißigen Wirt und ein sagenumwobener Bösewicht namens Schwarzbart – irgendwie kommt einem der Anfang von John Meade Falkners Moonfleet seltsam bekannt vor. Das liegt aber nicht nur daran, dass der 1898 erschiene Roman Grundzüge aus Stevensons Schatzinsel übernimmt: Der Autor zieht im Allgemeinen alle Register der Abenteuer- und Schauerliteratur, um seine Geschichte rund um den fünfzehnjährigen Waisenjungen John Trenchard aus dem Schmugglerdorf Moonfleet heraufzubeschwören. Spannungsbögen, dramatische Naturszenerien und verschlüsselte Schatzkarten tragen nicht weniger zur Rasanz bei, mit der dieser Roman die Leserin fesselt, als die Sprache, die in Michael Kleebergs originalgetreuer Übersetzung genau jenen evokativen Klang zwischen epischem Erzähler und Seemannslatein trifft, der schon in Moby Dick und Robinson Crusoe die kindliche Sehnsucht nach dem fernen Abenteuer entfacht hat. Dabei merkt man im Grunde gar nicht, dass der Roman schon über hundert Jahre alt ist. Das spricht nicht nur für die Übersetzung, sondern auch für die Zeitlosigkeit eines Klassikers. Tatsächlich wird Moonfleet in Großbritannien schon lange als solcher gehandelt und wurde zuletzt 2013 neu verfilmt, während es in Deutschland trotz zweier Übersetzungen (1953 von Hildegard Diessel und 1995 von Oliver Koch) bisher weitestgehend unbekannt geblieben ist.

Im Wort „Moonfleet“ klingt einiges an dunkler Romantik mit, Bilder von Mondaufgängen über dem Meer stellen sich da ein, aber auch von Geisterschiffen wie dem fliegenden Holländer. Diese unheimliche Stimmung zieht sich durch den ganzen Roman, wenn auch schnell deutlich wird, dass hier mit dem Genre der Gespenstergeschichte nur kokettiert wird. Wie der Ich-Erzähler gleich auf der ersten Seite zeigt, indem er die Herkunft des Ortsnamens erläutert: Das Wort hat nichts mit dem Mond, sondern mit den Mohunes zu tun, einer reichen Familie, der das Land einst gehört hat, und „fleet“ kommt weniger von der Flotte als vom Namen des „Bächleins Fleet“. Die viktorianische Literatur hat bekanntlich einer große Liebe zu Gespenstern und eine nicht geringere dazu, sie wegzuerklären, und so überrascht es wenig, dass der anhand der Wortetymologie vorgestellte aufklärerische Gestus sich mehrfach wiederholt. Denkt die Kirchgemeinde bei seltsamen Geräuschen aus der Gruft, dass dort die Geister der Mohunes spuken, findet John wenig später heraus, dass der Lärm von Schnapsfässern herrührt, die Schmuggler dort versteckt haben. Die Schmuggler sind es auch, die die Legende des auf dem Kirchhof wandelnden Geists von Colonel „Schwarzbart“ Mohune schüren, um ihre Machenschaften zu verheimlichen. Es bleibt dabei, die einzigen Gespenster, die in Moonfleet auftreten, sind die Schmuggler selbst, nicht nur, weil sie nachts auf Friedhöfen herumschleichen und aus Gräbern klettern, sondern auch weil sie sich, wie Geister den Naturgesetzen, den Gesetzen des Landes entziehen. Das Wort „Schattenwirtschaft“ spielt mit ganz ähnlichen Assoziationen.

Moonfleet erzählt, wie John Trenchard selbst zu einem solchen „Gespenst“ wird – ein Gesetzloser, Todgeweihter, Verfluchter, nicht zuletzt weil er als Doppelgänger Davids auftritt, des gleichaltrigen Sohns des Wirtshausbesitzers Elzevir Block, der vom boshaften Friedensrichter Maskew erschossen wurde. Während John und Elzevir sich vor den Soldaten der Krone verstecken müssen, als sie wiederum verdächtigt werden, Maskew getötet zu haben, entwickelt sich eine innige Freundschaft zwischen dem Jungen und dem ebenso grimmigen wie gutherzigen Seemann. Auf die dem Genre eigene turbulente Weise geraten sie von einem Abenteuer ins nächste und befinden sich mit einem Mal nicht mehr nur auf der Flucht, sondern schon auf der Suche nach einem verborgenen Schatz: Ein Medaillon, das John aus dem Grab von Schwarzbart entwendet hat, birgt einen Hinweis auf das Versteck des wertvollen Diamanten, den Schwarzbart unrechtmäßig erworben hatte. Die Unabwendbarkeit, mit der die Jagd nach dem Schmuckstück die beiden Männer immer tiefer ins Unglück stürzt, deutet John als Schwarzbarts Fluch. Freilich ist der Fluch oder die böse Vorahnung eine der spannungsreichsten Erzählstrategien, die die Literatur zu bieten hat, und Falkner setzt sie gewinnbringend ein. Dennoch fragt man sich hin und wieder, ob hier nicht doch zu dick aufgetragen wird, nicht zu viele Klischees bedient werden – aber man verzeiht es dem Roman, dessen Figuren mit ihren Zweifeln, Widersprüchen und Fehlern einem ähnlich ans Herz wachsen wie Stevensons Jim Hawkins.

Hinzu kommt die Raffinesse, mit der Falkner andeutet, dass Moonfleet auch ein Buch über Bücher ist, über das Lesen und Interpretieren. Angefangen bei Tausendundeiner Nacht und der Bibel werden zahlreiche Referenztexte aufgerufen, darunter auch ein Klassiker des eigenen Genres, Robinson Crusoe. Im Allgemeinen sind es Texte – Inschriften auf Grabsteinen und Backgammon-Brettern, Psalmverse, Briefe –, deren Entschlüsselung die Handlung vorantreibt. Und auch der Fluch oder Bann – auf Englisch: spell – ist letztlich eine sprachliche Angelegenheit: Das tragende Symbol des Romans ist das Ypsilon, das auf dem Wappen der Mohunes vorkommt und sich auch über der Tür von Elzevirs Gasthaus wiederfinden lässt. Wie Reverend Glennie erklärt, verdeutlicht das Ypsilon die schicksalshafte Weggabelung zwischen Verderben und Leben: Und wie beschrieben wird, dass die Kirchgemeinde eifrig in ihren Gebetsbüchern nach dem Buchstaben sucht, um die Dicke der beiden Arme des Zeichens zu vergleichen, tut dies automatisch auch die Leserin, um festzustellen, dass bei der Übersetzung offenbar etwas durcheinandergeraten ist: Während es hier heißt,

dass der rechte Arm breiter ist und stärker abfällt als der linke

ist es im englischen Originaltext ebenso wie bei der tatsächlichen Form des Buchstabens genau umgekehrt: Hier wird die übliche Gleichsetzung von rechts mit dem Guten und von links mit dem Schlechten vorgenommen. Ist das ein Fehler oder ein augenzwinkernder Hinweis auf den unübertragbaren Rest, der beim Übersetzen zwischen den Sprachen in der Luft hängen bleibt – britischer Linksverkehr im Transfer der Zeichen? Nicht die Zeit, wie Hamlet über die den Spuk seines verstorbenen Vaters sagt, sondern die Sprache aus den Fugen geraten?

Mit Falkners eigener historisch belegter Leidenschaft für Textlichkeit, die sich etwa in seinem Interesse an antiquarischen Büchern, Heraldik und Paläografie äußerte, wäre letztere Deutung ohne Frage im Einklang – schließlich scheint es kein Zufall zu sein, dass Elzevir wie eine bekannte niederländische Verleger- und Buchhändlerfamilie aus dem siebzehnten Jahrhundert heißt, auch seine Nachname, Block, verweist auf den Buchdruck. Passend dazu wird im Text auch hervorgehoben, dass das Ypsilon der Mohunes eigentlich gar kein Ypsilon ist, sondern eine Deichsel, weil die Arme nämlich genau gleich geformt sind. Deshalb trägt Elzevirs Gasthaus auch den Spitznamen Why Not?, was in einer ins Deutsche eben genau nicht übertragbaren Homophonie wie „Nicht Ypsilon“ klingt. Das Gleiche Missverhältnis lässt sich in den Psalmen aus Schwarzbarts Medaillon wiederfinden, die mit „falschen“ Nummern versehen sind, aber genau dazu dienen, den Blick auf die Sprache selbst zu lenken, nämlich die Reihenfolge der Wörter in den Versen. Diese geben wiederum in neuer Kombination das Versteck des Diamanten an. Verschlüsseln, Entziffern, Neucodieren – mit diesen Begriffen ließe sich ebenso wie über das Bild des Schmuggels auch eine Poetologie des Übersetzens entwerfen, aber das zeigt nur, wie sehr der Roman die Lust an der Spuren- und Schatzsuche zelebriert, durch die man bald wie der Protagonist in allem eine tiefere Bedeutung entdecken will.

Auch das schöne Kompositum „Wortschatz“ kommt einem beim Lesen der Übersetzung immer wieder in den Sinn, denn es wird schnell klar, dass Michael Kleeberg, der schon Proust und Huysmans ins Deutsche übertragen hat, eine ähnliche Neigung zum Antiquarisch-Archaischen und der Ausschöpfung des Ausdrucksspektrums hat wie Falkner selbst. Während Kleebergs Übersetzung voll auskostet, wie nah sich die englische und deutsche Sprache in den unumgänglichen Begriffen aus der Seemannssprache kommen („Ketsch“ für ketch und „Bai“ für bay), wundert man sich doch etwas, wenn die Wahl auf das veraltete „Unschlitt“ statt auf das neutralere „Talg“ für tallow fällt. Dennoch fügt sich ein solcher Ausdruck fast mühelos in den historisch angereicherten Erzählstil, den man eben aus Abenteuergeschichten kennt und in dem auch Ausrufe wie

Meiner Treu, es ist ein vertracktes Leben

nicht unnatürlich klingen. Die Übersetzung schafft es also in weiten Teilen, souverän zwischen der schon im Original gewollt altertümlichen Sprache und modernen Lesegewohnheiten zu vermitteln, sodass kleinere Ungereimtheiten etwa in der Verwendung der Personalpronomen „du“ und „Ihr“ kaum ins Gewicht fallen.

Es überrascht nicht, dass Kleeberg sich auf eine Leserschaft verlässt, die über gewisse Englischkenntnisse verfügt. So läuft der deutsche Text bei der üblichen Beibehaltung der englischen Ortsnamen – „Moonfleet“, „Why Not?“, „Snout“, „Hoar Head“ – kaum Gefahr, erheblich an Bildpotenzial einzubüßen. Das Englische bleibt also – und auch hier greift die Gespenster-Metapher – im besten Sinne präsent und zugleich unsichtbar.

 

John Meade Falkner
Moonfleet
Übersetzung:
Michael Kleeberg
liebeskind
2016 · 352 Seiten · 24,00 Euro
ISBN:
978-3-95438-059-6

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