EINEN GANZ REIN SEELISCHEN ZUSTAND
Wenn 2015, knapp dreissig Jahre nach Tod des Autors bzw. Künstlers, noch Texte von Joseph Beuys erscheinen, was ist dann der angemessene Gegenstand einer Rezension? Die Produktionsqualität des Buches? Die Sinnhaftigkeit der Editionskriterien? Textauswahl, Art und Begründung der Eingriffe ins Manuskript, Verortung der Edition zwischen den Kontexten der bildenden Kunst, der Theorie, der Literatur? Der allfällige Beitrag der Neuerscheinung zu "Beuys-Bild" und Diskursgeschichte? Oder allen Ernstes die Texte selber, ihre ästhetische Stringenz, ihr theoretischer Gehalt etc. (ganz so, als wäre die Kanonisierung ihres Verfassers nicht ohnehin ausgemacht, als wäre "begründbares Wohlgefallen" ein anwendbares Kriterium)?
Unabhängig davon, welche Antwort man auf diese Frage/n gibt, kann man im vorliegenden Fall folgendes konstatieren: Der Band "Mysterien für alle. Kleinste Aufzeichnungen" orientiert sich mit wenigen Ausnahmen an einer Auswahl handschriftlicher Notate des Künstlers, die seine Witwe Eva Beuys für den äusserst umfangreichen, teuren Bild- und Dokumentationsband "Das Geheimnis der Knospe zarter Hülle" (erschienen 2000 in der Edition Heiner Bastian, im Vertrieb des Schirmer/Mosel-Verlags) vorgenommen hat. Das Verdienst des Herausgebers der vorliegenden bibliothek-Suhrkamp-Ausgabe, Steffen Popp, besteht nun - neben seinem erläuternden Nachwort - darin, diese Auswahl "als Literatur" aufzubereiten statt als "Dokumente der (Geschichte der) bildenden Kunst". Das heißt: neben die Faksimiles der Handschriften jeweils Annäherungen an dieselben mit den Mitteln des Drucksatzes zu stellen.
Der Natur der Sache gemäß fühlen wir uns beim Blättern in diesem solchen Band in jene Zeiten zurückversetzt, die Beuys mit-prägte: Da saßen die Autoren an ihren mechanischen Schreibmaschinen und bearbeiten ihre Elaborate mit dem Bleistift nach. Das Ergebnis war dann gelegentlich mit den Mitteln des Bleiletternsatzes nicht mehr umsetzbar, und so erschienen in den Publikumsverlagen manchmal auch einfach Faksimiles und Typoskripte von, beispielsweise, Schmidt, Brinkmann oder eben Beuys. Will sagen: Als editorische Leistung und als (eventuell Nostalgiefetisch-) Objekt ist "Mysterien für alle" unumwunden zu begrüssen.
Wenn wir aber 2015 als Text rezpieren, was uns, wie gesagt, "als Text" dargeboten wird, stossen die Prinzipien der bloß allgemeinen Beschreibung und der Rezension-als-Konsumenteninfo dagegen rasch - rasch! - an ihre Grenzen. Denn zwar kennen wir einige der wiedergegebenen Handschriftenzettel aus anderen Kontexten (Kataloge, Werkschauen etc.). Aber wenn sie uns so, d. h. als Texte unter Texten eines zum Lesen statt zum Schauen bestimmten Buches unterkommen, dann eignet ihnen nicht mehr die irgendwie "in sich ruhende" Unschuld von Gebilden, die den selben Diskurs- und Wahrnehmungsraum bewohnen wie all das andere Zeug, das man hinter Glas an Wände hängt. Statt dessen sind wir gezwungen, sie auf einander und auf den restlichen Texte-Kosmos zu beziehen, der uns und sie umgibt. Beispielsweise, der oben geschilderten Nostalgie entsprechend: aufs Kommunistische Manifest; oder auch nur aufs ABGB; oder auf das Oeuvre von, sagen wir mal, Jan-Durs Grünwagenbein.
Und wenn wir dies tun - wenn wir im Jahr 2015 die Texte in "Mysterien für alle" tatsächlich lesen und ihre Rezeption anderswo abheften als unter "kunstgeschichtliche Kuriositäten" - dann kommen wir leider nicht umhin, eine schwer überwindbare inhaltliche Schwierigkeit zu konstatieren, eine, die wir mit Beuys-Texten ohnehin so auch schon hatten, aber selten in dieser Deutlichkeit:
Vokabeln wie "Deutsche Zunge", "Bundesabstimmungsgesetz", "Volkstum" und "Kosmische Sendung des Künstlers" (diese Beispiele sind Beute eines einmaligen raschen Durchblättern des Bandes) haben 2015 - da PEGIDA et al. in Deutschland, Blochers SVP in der Schweiz und Straches FPÖ in Österreich einmütig an Konzepten für plebiszitäre Führerdemokratien nach ungarisch/russisch/türkischem, neuerdings auch polnischem Vorbild basteln - ganz entschieden ihre Unschuld verloren. Falls sie eine solche je besessen haben sollten.
Joseph Beuys' Arbeiten am erweiterten Politikbegriff und an der sozialen Plastik, die Wirkungen, die seine charismatische Persona auszulösen imstande war, gehören zum eisernen Bestand der Diskurse, in denen wir wurzeln. Gleichwohl: Der Kontext, dem er noch angehörte, war unter anderem gekennzeichnet durch ein temporäres Bündnis bzw. ein Ineinandergreifen: einerseits der klar fortschrittlich-materialistischen Kräfte und Denkschulen, andererseits der "alternativ"-holistischen , deren (auch gelegentlich wohlartikulierte) Kritik am Kapitalismus stets eher rückwärtsgewandt bzw. (etwa im Fall der Waldorf-Esoterik) völlig jenseitig war. Was an Beuys so groß und nützlich war, war, dass er vielleicht als Einziger fähig war, gerade die "ganzheitlichen", mystischen Denktraditionen des deutschen Sprachraums seit dem Mittelalter für kritisches, historisch verortetes Denken in Anspruch nehmen.
Doch dieses Bündnis, diese Verzahnung, an deren Schnittstelle Beuys, wie mir scheint, saß, ist in den letzten dreißig Jahren nicht etwa nur verschwunden, sondern sie ist durch ein anderes Bündnis, eine andere Vokabeltransfer-Pipeline ersetzt worden: durch den mittlerweile unübersehbaren Konnex zwischen den Subkulturen und Nischen des "ganzheitlichen Selberdenkens" einerseits und der erwähnten autoritären, latent xenophoben, paranoiden und prinzipiell gewaltbereiten "Mitte der Gesellschaft", die in Deutschland 2015 mehrere hundert Anschläge auf Asylwerberunterkünfte verübt hat.
Dass unsere zeitgenössischen Wahnsinnigen, die eifrig das genaue Gegenteil dessen betreiben, worauf sich auch Joseph Beuys noch positiv bezog -
NUR DIESES IST KUNST
DENN MENSCHENGEMÄSSE KUNST
MUSS DOCH 1. DIE ZERSTÖRUNG DES
MENSCHENGEMÄSSEN VERHINDERN
2. DAS MENSCHENGEMÄSSE
AUFBAUEN
NUR DAS IST KUNST UND SONST
GARNICHTS
- sich in ihren Facebookfeeds und Büttenreden nicht ganz grundlos einiger der Vokabeln und Konzepte bedienen können, die in "Mysterien für alle" an prominenter Stelle vorkommen, stimmt bedenklich. Es stellt, wie gesagt, eine Schwierigkeit bei der Lektüre dar. Eine Schwierigkeit, die dem Band "Mysterien für alle" nichts von seinen intrinsischen künstlerischen, dokumentarischen und editorischen Meriten nimmt - hat ihr Auftreten doch für uns Rezipienten diagnostischen Wert.
Eine Schwierigkeit freilich auch, die bestehen bleiben wird, bis nicht nur einzelne etwas gegen sie tun ...
(... denn sie kann überwunden werden. Man stelle sich die betreffenden Vokabeln und Kontexte so vor, dass sie in ungefähr der gleichen Weise "zurückerobert" werden müssten wie die Dresdner Innenstadt an einem Montag Nachmittag - wenn bloß die Polizei vor Ort sich mal nicht auf die falsche Seite schlägt.)
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