Echoräume. Holzäpfel - Gedichte von Jürgen Brôcan
„Gedichte sind die wahren Netzwerker, sie werfen ihre Fäden in sämtliche Richtungen, knüpfen an Vorhandenes, wo immer es ihnen sinnvoll scheint, und nehmen die Fülle der Phänomene in sich auf, sobald die entsprechende Lust sie überkommt“, schreibt Jürgen Brôcan am Schluss seines Buchs und personifiziert das Gedicht bzw. die Gedichte, stattet sie mit Überlegtheit und (sinnlicher) Extravaganz aus, die sie befähigt, sich aus eigenem und in eigenem Ermessen zu erschaffen. Darüber ließe sich trefflich diskutieren, denn „Netzwerker“ sind für mich nicht die Gedichte, sondern die Dichtenden, die auf ihren Erfahrungs- und Bildungsschatz zurückgreifen und hoffentlich „entsprechende Lust“ beim Dichten verspüren.
Biographie: der Ortsvektor des Körpers,
Speichermedium für den Geist,
zärtlich, zerbrechlich,
und trotzdem
ein, ja, ein Freudenhaus.
Doch es bedarf auch der Lesenden in ihrer Eigenschaft als Netzwerker, die an bereits „Vorhandenes“ an- und ihre Netze durch die Lektüre weiterknüpfen, denn ohne sie bliebe jedes Gedicht nichts als eine Ansammlung von Buchstaben und Worten auf dem Bildschirm oder zwischen zwei Buchdeckeln. In diesem Sinn würde ich auch den ersten Satz von Brôcans Anmerkungen umschreiben, in den er ein Zitat von Proust einflicht, und „das Gedicht“ durch „der Dichtende“ ersetzen. „Der Dichtende“, so Brôcan, sei ebenso wenig isoliert wie es sein Leser ist; der nämlich „lebt in einer Art brüderlicher Gesellschaft mit allen großen Geistern aller Zeiten (zit: Proust)“. Die Ratio mag damit getröstet, das Gefühl befriedet sein, denn welcher Dichtende sieht sich nicht gern als Nachkomme großer Dichter. Allein der Mangel an Wertschätzung, der sich nicht zuletzt in den geringen Verkaufszahlen jedes Lyrikbandes ausdrückt, im Marginalisieren oder gar Fehlen der Dichtung etwa in den Feuilletons von Zeitungen und dem damit einhergehenden Mangel an Wahrnehmung, ist, große Dichterahnen hin oder her, dann doch eher ernüchternd, wie allgemein bekannt.
In meiner Nachbarschaft
haben viele enorme Lust an Konstruktionen,
sie sehen sofort, wenn etwas undicht ist
oder klappert, doch keiner liest
Gedichte, die genauso funktionieren.Sie programmieren Computer,
stellen die verstiegensten Berechnungen an
und bekommen ihre Steuererklärungen in den Griff,
aber Gedichte finden sie unverständlich.Woher dieser Haß auf die Namen:
Schaumkraut, Wegerich, Sonnengünsel,
und warum tauscht man die gesprenkelte Wiese
gegen penibel geschorenen Rasen?Das Haus ist kein Gebärmutterersatz,
Milliarden von Nägeln & Dübeln
kreischen zum Freizeitspaß,
doch werden die Wände nicht ewig halten.Kein Geräusch machen die Schritte
des schweren Mannes,
wie Schatten von Vögeln
über den unzerknickten Gräsern,Bewohner des Silbenhauchs.
Brôcan ist ein versierter Poesie-Netzwerker, der beim Dichten auf einen überaus reichen Wissensschatz zurückgreifen kann. Als belesenem Übersetzer aus dem Englischen fällt ihm immer wieder eine Zeile ins Auge oder in den Schoß und wird Auslöser für ein Gedicht, das „verschmilzt, was in seinem inneren Dunkel fackelt, / mit der Welt außerhalb des Auges, // Alchemie der Imagination“. Auch antike Gedichte, historische und philosophische Quellen, Reiseeindrücke, Musik oder Film werden ihm „mit einem Zögern, das dir in die Zellen codiert ist“, Inspiration für Eigenes, „weil Ideen aus den Dingen schlüpfen“, aus Zeilen, die er in seine Texte montiert, oder aus einem einzelnen Wort. Für das Verständnis mancher Gedichte ist es hilfreich, in den akribischen Anmerkungen am Ende des Buchs nachzublättern, weil dies ein anderes Verstehen befördert, für die meisten Texte ist es allerdings nicht notwendig, diesen „Faden am Ende der Zeile“ zu finden, der sie an die Bezugswelt des Dichters bindet, denn
Was hoch oder was tief steht,
bleibt, was es ist und war,
es ändert sich bloß
die Perspektive.
Vom „Schaukeln“ ist hier die Rede, das auch „eine geistliche Übung ist“, es lässt sich auf Brôcans Gedichte übertragen, die wir mal mit, mal ohne Kontext lesen und uns daran erfreuen können.
Sieben Kapitel hat „Holzäpfel“, die Art ihrer Bezeichnung lässt an ein mehrstrophiges Lied denken: Zweimal der schlichte Titel „O“ als Anfang und Ende, Introduktion und Finale, dem 10 bzw. 12 Gedichte zugeordnet sind; „22 Trümpfe“, drei Zyklen, die vielleicht auch als eine Art variierender, vielteiliger Refrain zu begreifen sind; sowie „Die großen Ferien“ und „Poetiken“ als darüber hinausweisende lyrische Überlegungen. „Was ist Schreiben“ fragt der Dichter in „Poetik V“ und gibt eine von vielen Antworten:
... die Augenblicklichkeit
des Augenblicks
bewahren, für wen, wen
immer, nach mir.Um über das Wunder
sich zu wundern
der Raben
am Grunde des Winterhimmels,die saftsaugenden Bäume
der Schwer-
kraft entgegen.
Eine andere Antwort: „die Errettung der Dinge aus dem Vergessen“; Brôcan klaubt „dem inneren Puls“ folgend „aus Rain und Rinne“, „damit / überlebt, was wichtig ist“; und um „noch einmal zu denken, / als sei es nicht zuende gebracht“. Er vermisst seine Welten mit Sprache und dem Wissen der eigenen Ohnmacht, die nichts zu Ende bringen kann, weil kein Ende ist, es sei denn jenes endgültige des eigenen Todes. „Ich bin mit meinem Land nicht fertig, / meiner Stadt (geschweige denn meiner Straße)“, schreibt der Lyriker, der weiß, „daß kein Leben ausreicht, jeden Weg in diesem Viertel zu beschreiben“, und der vernarrt ist in die verbrauchten Dinge.
„Holzäpfel“, so der Klappentext, sind die herb schmeckenden Urformen der Äpfel. Auch in diesem neuen Gedichtband lesen wir Liebeserklärungen des Lyrikers an Ruderalflächen, verfallende Brücken, aufgelassene Gleiskörper und dem Verfall preisgegebene Fabriken, Industrieruinen, die sich die Natur unaufhaltsam zurückerobert und denen Brôcan mit seinen Versen Denkmal um Denkmal setzt. Es ist der Blick eines aufmerkenden Melancholikers, der staunt über die unaufhaltsame Vergänglichkeit und sich an der „Metaphysik der Schönheit“ erfreut, die ihm nicht nur Walt Whitman mit jeder Zeile zwischen die Augen hämmert, sondern der er sich selbst beim Streifen aussetzt:
Da lernt man, langsamer als der
ich-ich-ich stotternde Motor,
die Schönheit doch
einmal an Ort und Stelle zu erkennen
Es ist der stets präzise Blick eines Lyrikers, der sich, ohne zu romantisieren oder gefühlig zu werden, an das Himmel-und-Hölle-Hüpfen erinnert oder das Schaben der kindlichen Finger an der Wand während der verordneten Mittagsruhe, in der er sich schließlich „mit den Nägeln durch bis zum Putz kratzte“. Und noch dem Kleinsten, Unscheinbarsten, Alltäglichsten schenkt er dichtend die Genauigkeit seiner Aufmerksamkeit, etwa den Lunulae, jenen kleinen, weißen Stellen am unteren Rand unserer Nägel:
Bläßlich wie Tagesmonde,
schwimmend im rosa
Morgenanbruch,stiegen zehn Miniaturtrabanten auf,
als ich in dem Papierstapel
nach einer alten Notiz suchte,schneeweiße
dünnste Schichten
voll trippelnder Sedimente –wie viele Drücke, damit sie wieder
zu Wäldern werden, die unter weiterem Druck
sich in Kohle verwandeln und Erdöl?
Fixpoetry 2015
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben