Der Apfel ist ein Wörterbuch
Sieben Gedichtbände hat der Lyriker Jürgen Nendza zwischen 1992 und 2012 publiziert und legt nun eine Auswahl in diesem Sammelband vor. Vorneweg: Die interessante Frage, gab es in den 20 Jahren von „Glaszeit“ bis zu „Apfel und Amsel“ eine dichterische Entwicklung und, wenn ja, welche und wohin?, kann nach der Lektüre nicht beantwortet werden. Nendza hat ungleich mehr Gedichte aus den letzten drei Büchern ausgewählt, aus dem ersten „Glaszeit“ gar nur zwei, was die Interpretation nahe legt, dass es diese Entwicklung gegeben haben muss und der Dichter im Jahr 2015 einen anderen, differenzierteren, vielleicht auch unduldsamen Blick auf das Werk des 35-jährigen hat, der einer gleichwertigen Berücksichtigung der früh publizierten Gedichte entgegenstand. Als Ergebnis liegt nun ein qualitativ auffallend homogener Band vor.
Nendza hat seine Auswahl acht Kapiteln zugeteilt, deren Titel aufmerken lassen, „Sommer noch in letzten Äpfeln“ oder „Bulten und Schlenken“, zwei mir bisher unbekannte Worte. Den knappen Anmerkungen am Schluss des Bandes ist zu entnehmen, dass es sich dabei um Kuppen und Bodenvertiefungen einer baumlosen Moorlandschaft handelt und dass die Texte dieses Kapitels das Hohe Venn verdichten, ein Hochmoor im deutsch-belgischen Grenzgebiet.
SCHLAGREGEN, die atlantische
Botschaft. Die Tropfkante
Lippe überschüttet. Die Füßeauf Nato-Beton. Die Rückübersetzung
von Staunässe. Westwind.
Wer hat die Deutungshoheit?
Waterboarding, weiße Folter.
Aktuelle politische Begriffe wie „Waterboarding“ sind selten in Nendzas Lyrik und ebenso selten webt er Historisches explizit zwischen die Fäden seines Gedichts ein, etwa im Zyklus „Piegaresische Fenster“, wo er in einem schwungvollen Bogen den römischen Weiler mit der Renaissance und der Jetztzeit verbindet. Einmal lässt uns die Widmung „In Erinnerung an Ken Saro Wiwa“ das Gedicht „Unter knochenkalter Erde“ im Wissen um die geschichtlichen Ereignisse plötzlich anders lesen. Wobei das Verb „weben“, das sich mir bei der Lektüre aufdrängt, genauso wie das Wort „Fäden“ für mich zwar richtig und dennoch angesichts des hübschen Titels falsch gewählt ist. Wort und Vers sind bei Nendza wie Stäbchen eines Mikadospiels, manchmal auch nur die zart hingetupfte Farbe, die jene zu unterscheiden helfen, und während wir uns gerade mühen, aus dem verhedderten „Geäst“, den Spielregeln gemäß, ein Stäbchen herauszubalancieren, halten wir es plötzlich in der Hand und gleich noch ein zweites oder drittes, das wir mit Hilfe des ersten nun mühelos herausarbeiten.
DAS WETTER verheißt schöne Aussicht.
Wieder versilbert die Taube den Himmelunter der Spur kondensierter Luft. Flug
ziele berechnet, Irrtümer, Opfer. Wie schnelldie Entfernung schwindet von der Amöbe
zu Einstein. Hinter dem Blickfeld schwillt anverstümmeltes Schweigen, flutet
das Land in Sicht.
Die Gedichte des Bandes sind kurz, bis maximal eine Seite lang, und meist in zwei-, seltener dreiversige Strophen gegliedert, die Nendzas Spracharbeit eine äußere Struktur geben, die das Flottieren der Gedanken beim Lesen jedoch nie rüde brechen, sondern ein Schweben von Vers zu Vers fördern. Häufig nimmt der Lyriker Anleihen an Reisen und der Natur, verortet seine Gedanken, Erinnerungen und Eindrücke zwischen Moor und Meer, Baum und Blüte, oder Apfel und Amsel, die wohl nicht zufällig auch Titel seines bisher letzten Gedichtbands sind, und verfremdet Bedeutungen sacht um Nuancen. So wird der Apfel zum Wörterbuch und somit genauso zum Fundus für poetische Reflexionen wie eine Sonne, die bei Nendza wie Backpapier knistert, ein Himmel, der Gedanken faltet, oder ein Gelände, das atmet, ein Kragen, der nicht nur im Genick, sondern auch den Raum zwischen Wort und Bild schabt.
Der einzige Schwachpunkt dieser Sammlung ist das Nachwort von Jürgen Egyptien, der sich um eine fachliche Analyse des dichterischen Schaffens bemüht und auch einige interessante Aspekte darlegt, manchmal aber nicht dem Dichter Nendza dient, sondern allzu verliebt in das eigene Können formuliert. Man kann es links liegen lassen und sich am „Geschmack der Übergänge“ erfreuen und den „Sickerstellen der Worte“ in den Gedichten Jürgen Nendzas, etwa der unaufdringlichen Beschreibung eines Abschieds, der zu Herzen geht:
DEIN NACHTHEMD pendelt noch über dem Stuhlrücken
aus. Sein Faltenwurf eine Legende: das Vergleitenvon Körper und Stoff. Eine andere Wirklichkeit
ist das Öffnen der Knöpfe, der Augen unddiese Leichtigkeit der Seide, die dich abstreift
ins Bodenlose, wenn der Wind dein Verschwindennachzeichnet und ich mich frage, welche Einsamkeit
spricht aus dem Verrücken der Stühle an einem Tag,der sein Versprechen nicht kennt. ...
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