Fleischlos Faschiertes
Spätestens seit Paul Celans Forderung nach einer Rückkehr der Poesie zum Stammeln, zum Stottern, mag man sich fragen, ob Erinnern anders als „zersplittert“ überhaupt vorstellbar ist. Angesichts des Holocaust, der Schrecken des Zweiten Weltkrieges sei eine Sprache, die das Unsagbare, aber auch das Widersprüchliche, Ungereimte mit vorgeblicher Geradlinigkeit zu füllen versucht, anmaßend und verlogen – auch, oder gerade, wenn diese nachträgliche Bereinigung aus Selbstschutz oder purer Verzweiflung geschieht.
Julian Schutting, der 1937 in Amstetten geboren wurde und heute in Wien lebt, ist sich der Lückenhaftigkeit, der Unzuverlässigkeit des menschlichen Gedächtnisses vollauf bewusst – und hat zu unserem großen Leserglück nun einen schmalen Band mit Lyrik- und Prosaminiaturen vorgelegt, der genau diese Mechanismen des Erinnerns (und Nicht-Erinnerns) offenlegt.
„Krieg, seit ich knapp zwei bin“, so lakonisch beginnt „Zersplittertes Erinnern“. Das jedoch war es erst einmal mit den Fakten, denn wir befinden uns im Kopf eines Kleinkindes, das nichts von Moral, von Wertvorstellungen oder vom politischen Unheil weiß, und dessen Zeitempfinden anderen Maßstäben unterliegt als denen einer chronologischen Geschichtsschreibung. Obgleich sein Leben von alledem durchtränkt ist. Als früheste Erinnerung sticht bezeichnend die erste Ohrfeige heraus, samt dem schockierten Ausruf: „Den Führer zu verkratzeln!“ Dabei hat das Kind doch nur mit einem Zimmermannsbleistift die ersten Schreib- oder Malübungen in einem aufgeschlagen herumliegenden Buch vollführt. Etwas später allerdings, als das Kind eine Hitler-Ansprache im Daumenkino-Format so rasch durch die Finger gleiten lässt, dass der Redner grimassiert und gestikuliert „wie ein Gespenster abwehrender Narrenhäusler“, meint man, eine gewisse Freude an der Blasphemie bereits zu erahnen. Die ersten Passagen, die fast unbemerkt von Lyrik zu lyrischer Prosa wechseln, setzen den Ton: Die Omnipräsenz des Nationalsozialismus in Schuttings frühester Kindheit, zugleich aber auch die naive Irreverenz des Kindes, das er einst war. Schönes, Schreckliches und Mysteriöses brennt sich fest im Hirn des Kindes und ist bis heute abrufbar: Der Schneeballbaum im Garten der Großmutter, die Blutflecken auf den Laken der Mutter, das klaustrophobische Gefühl, zusammen mit der „eingedüsterten Nachbarschaft“ in einen Luftschutzkeller gepfercht zu werden. Und gegen manche Regungen, die bestimmte Geräusche oder Gerüche mit sich bringen, scheint der Mensch so machtlos wie ein Pawlowscher Hund, selbst Jahrzehnte nach der Konditionierung. So kann sich Schutting noch heute, sobald die Schlusspassage aus „ von Franz Liszt an sein Ohr dringt – die während des Zweiten Weltkriegs im Großdeutschen Rundfunk dazu benutzt wurde, Siege der deutschen Armeen anzukündigen – „gegen die damaligen Rückenmarkschauer“ kaum zur Wehr setzen. Was man als nachhaltigen Triumph des Propagandaministeriums auslegen könnte, wird hier mit trotzig-feiner Ironie bezwungen.
An anderen Stellen wird deutlich, wie wenig sich Fakten und kindliche Fantasie bisweilen decken: So waren es wohl keine Goldfische, die sich in der Krypta der Kirche von Stift Ardagger tummelten, sondern eher hereingewehte Herbstblätter. Und auch die Sturzkampfbomberpiloten werden, bei näherem Nachdenken, wohl nicht über die Pelargonien hinweg ins Wohnzimmerfenster hinein gewunken haben. Manchmal sind es gerade jene Bilder, die sich bis heute gestochen scharf abzeichnen, die sich im Nachhinein als trügerisch erweisen.
Vielleicht gerade weil der Autor um das Selektive, das nachträglich Zurechtgebogene des Erinnerten weiß, hält er sich mit starren Wertungskategorien zurück, auch was die politischen Anschauungen seiner Eltern betrifft. „Als ein jung-dummes Mitglied des Deutschen Turnerbundes“, habe seine Mutter die Ideen des Nationalsozialismus zunächst befürwortet, später jedoch ihr Ansehen und Aussehen dazu benutzt, um auf dem Kreisamt für französische Zwangsarbeiter Heimaturlaube oder Entlassungspapiere zu fälschen. Der Vater, heißt es, sei als Tierarzt und Pferdespezialist für die Kavallerie bestimmt gewesen. Vermutlich habe er nie auf Menschen schießen müssen – dafür jedoch als versierter Jäger Fasanen, Rebhühner und Füchse erlegt.
Es sind allerdings weit weniger solche moralischen Erwägungen als vielmehr jene alchimistischen Zaubereien des „als ob“ der Kriegsküche, denen Schutting seine ästhetische Erziehung verdankt. „Ein von der Not hervorgebrachter, fast schöpferischer Umgang mit unterschiedlichen, oberflächlich einander ähnelnden Wirklichkeiten“ prägt ihn nachhaltig, und man spürt: In magischen Namen wie „fleischlos Faschiertes“ oder „einer Art Wildsauce“ werden bereits die Transformationsprozesse des Kunstschaffens vorweggenommen.
Eigenwillig ist auch der Satzbau – oft scheinen die Phrasen vom Ende her aufgerollt, Spiegel möglicherweise des detailvertieften Blicks des Kindes. „Sie von in ihnen vorhandenen Erdkrumen sauber zu bekommen, tu ich die rasch zwischen Brennnesseln aufgelesen, schwarz-weiß gestreiften Schneckenhäuser einer kleinen Sorte mit Wasser in ein Reindl“, beschreibt Schutting die Suche nach Weinbergschnecken. Und endet mit dem Ausruf: „Würde mich gerne erinnern, sie dorthin zurückgebracht zu haben, wo du sie aufgelesen!“ In einem Satz überbrückt der Autor elegant die Zeiten, indem er sein erwachsenes Autor-Ich das innere Kind-Ich direkt ansprechen lässt. Der flüssige Wechsel zwischen erster und zweiter Person Singular verstärkt noch das stete Oszillieren zwischen ungefilterter Erfahrung und kritischer Reflektionsdistanz. Insgesamt erfordert „Zersplittertes Erinnern“, mit seinen langen, verschachtelten Sätzen, die oftmals auf Pronomen verzichten und ihren Hauptgegenstand erst gegen Ende nennen, ein hochkonzentriertes, ja fast ein lautes Lesen.
1952 zieht Schutting nach Wien, um eine Ausbildung als Fotograf an „der Graphischen“ zu machen, und nicht zuletzt, um dem „postaustrofaschistischen Mief, am Kleinstadtgymnasium zum Ersticken gewesen“, zu entfliehen. So ist das letzte Viertel des Bändchens „BEHA“ betitelt, nach den russischen Zeichen, die damals die Hauswände schmückten. In der „Elektrischen“ ruckeln wir mit Schutting „durchs auch in den Waggons düsterlich beleuchtete frühe Nachkriegswien“, und betrachten die Stadt durch seine fotografisch geschulten Augen.
Warum gerade dieses oder jenes Bild heraussticht, fragt sich das Autor-Ich immer wieder, warum zum Beispiel gerade die Eisblöcke, die auf einer Rutsche in die Wiener Wirtshauskeller hinabschießen, einen derartigen Eindruck hinterließen: „Würde dich die Vergegenwärtigung von ähnlich Spätbiedermeierlichem zu einem Zeitzeugen machen?“ An Bombenruinen hingegen erinnert sich Schutting kaum, ein Umstand, der ihm nun seltsam erscheint, gibt ihm das Faktenwissen doch anderes ein. Manchmal schüttelt der Autor mit leiser Belustigung den Kopf über den jungen Lehrling, der er eins war, und zugleich über die Lückenhaftigkeit seines Gedächtnisses: „Es kann doch das späte Nachkriegswien nicht nur / aus erbaulichen, Wien in dir aufbauenden / schönbrunnergelben Plakaten / an Planken und Litfaßsäulen bestanden haben!“
Doch gerade dieser In-Limbo-Zustand ist es, der sich Schutting eingebrannt hat, ganz ohne Bombenkrater zu bemühen: Das Warten vor dem Theater an der Wien – jenem Ort, der übergangsweise die Oper beherbergt – auf die Öffnung der Stehplatzkasse, das Schwärmen für diese oder jene Sängerin, in ihrer Rolle als Tosca oder Salome. Der erste Pferdeleberkäs vom Naschmarkt verkündet schließlich unabwendbar, dass es aufwärts geht. Mit der Wiedereröffnung der Staatsoper, so Schuttings untrügliches Gefühl, geht seine Jugend zu Ende. Die Ausnahmezustände sind behoben, die aus der Zerstörung geborenen Freiräume im Verschwinden begriffen. Darin liegt eine eigentümliche Melancholie, die „Zersplittertes Erinnern“ mit dem wunderbaren Fotoband „Ich war verliebt in diese Stadt“ des US-amerikanischen Fotografen Will McBride eint, der zwischen 1956 und 1963 das zerrissene Nachkriegsberlin dokumentierte. In beiden Fällen ist es gerade das Unfertige, Schadhafte, von dem die größte Faszination ausgeht. Die Glättung und Zubetonierung des kriegsversehrten Stadtbildes, die Bereinigung des Sprachbildes vom Stottern und Stammeln hingegen markiert unweigerlich das Ende der ersten großen Liebe.
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