Wenn die Filter Bubbles nicht platzen wollen
Als gerissener Geschäftsmann hat Tim Renner das einzig Richtige getan: Er hat das im Sinken begriffene Schiff der Musikindustrie verlassen und sich der Politik zugewandt. Die nämlich bedarf des frischen Windes noch nötiger als die Majorlabels, findet sich im von Angela Merkel postulierten »Neuland« des digitalen Lebens kaum zurecht. Gemeinsam mit seinem Bruder Kai-Hinrich schrieb der ehemalige Universal-Geschäftsführer schon (oder: erst?) 2011 ein Buch, in dem er beschwichtigend auf die panische Masse einredete: Alles halb so wild! Wir müssen uns nur daran gewöhnen und es uns schlussendlich zunutze machen!, lautete der Grundtenor der Beiden. Es liegt alles, so die Renners, in unserer Hand.
Seit 2011 ist viel passiert. Der deutsche rote Facebook-Klon StudiVZ brach zusammen, während das große blaue Vorbild langsam seine Tentakel ausbreitete, sich erst Instagram und dann WhatsApp einverleibte. Was derweil Google treibt, wurde zunehmend diffuser und wie nebenbei durften wir zwischendurch von Edward Snowden erfahren, dass nicht nur Mark Zuckerberg, sondern auch die NSA an unserem und auch Kanzlerin Merkels Leben teilhaben. Überraschen tat das wohl den einen oder die andere, aufregen sowieso – wirklich getan hat aber niemand etwas.
Digital ist besser lautet der Titel des gemeinsamen Werks der beiden Brüder, das nun in seiner Neuauflage gleichermaßen überholt wie brandaktuell scheint. Den Titel haben sich die Beiden vom Debütalbum der Hamburger Band Tocotronic geliehen, die mit dem Erscheinen der Platte im Jahr 1995 eine Art subkulturelle Revolution auslösten. Zu Hochzeiten des Techno-Hypes der Neunziger wurde wieder zur Gitarre gegriffen, kurz nach dem Tod von von Kurt Cobain wurde plötzlich wieder auf Deutsch getextet. Zwar wurde von Digital ist besser auch eine analoge Vinylversion verkauft, in einen Widerspruch begaben sich Tocotronic jedoch nicht: Die simplen und doch hochkomplexen Slogans des Trios waren doch viel zu tiefgründig, um nicht zu sagen: doppelbödig, um einer eindeutigen Stellungnahme gleichzukommen. Die Renners hingegen machen deutlich: »Unser Buch bekennt sich ohne Wenn und Aber zur Digitalität. «
Das Renner-Duo hingegen meint es ernst und nimmt den copy-and-paste-Titel wörtlich, positioniert sich hinter ihm. Sie tun es auf dieselbe simple und zugleich subtile Art, die auch Tim Renners gemeinsames Buch mit Sarah Wächter prägte. Sie zeigen mehr, als dass sie erklären würden. So geht es auf den ersten Seiten um fast nichts anderes als darum, wie die Brüder ihrem kulturkonservativen, bildungsbürgerlichen Background entwachsen, nach und nach die Bücher ihres bibelverlegenden Stiefvaters gegen Platten mit elektronischer Musik, New Wave und Punk eintauschen. Der autobiografische Abriss trägt in sich die Kernthese von Digital ist besser, sie wird pointiert bereits im ersten Kapitel zusammengefasst: »Die Digitalisierung ist die Fortsetzung der Popkultur mit anderen Mitteln«. Als Mitglieder der ersten Generation, »die mit dem Fernsehen aufwuchs« waren die Renner-Brüder gleichzeitig die ersten, die das Mit- und vor allem Gegeneinander verschiedener Medien miterlebten.
Aus jugendlichem Trotz ergriffen die Beiden damals wie selbstverständlich Partei für das Neue und tun das auch in Digital ist besser. Nicht nur Tim bringt seine Erfahrungen aus der Musikwirtschaft mit ein, sein Bruder Kai-Hinrich bekrittelt als Medienjournalist die renitente Schluffigkeit der Zeitungsverlage, die sich erst dann auf den Medienwandel einließen, »als es angesichts der Konkurrenz von Privatfernsehen und Internet gar nicht mehr anders ging«. Dem gegenüber entwerfen sie eine Mentalität, die im analogen wie digitalen Zeitalter scheinbar die gleiche ist. Fast wirkt es, als wollten die Renners das Netzverhalten des digitalen Menschen als anthropologische Konstante zeichnen.
Da wird dann die auskunftsfreudige Hörzu zum »Google der TV-Zeit« geadelt und die Fanzine-Kultur der Punk- und NDW-Zeiten mit der Blogosphäre gleichgestellt. Die Verfahren, so das Argument, waren schon immer dieselben: Ob nun mit Schere und Klebstift oder Strg + C und Strg + V, kopiert und neu arrangiert wurde eigentlich schon immer. Das ist das Prinzip Pop, aber auch die oberste Maxime unseres Netzverhaltens. Dass auch das Buch der Renner-Brüder diesem Verhalten zum Opfer gefallen sein wird, es durch illegale Tauschbörsen gereicht und kostenlos weiterverteilt wurde, dessen waren sich die Beiden wohl bewusst. Und kriminalisieren nicht die User_innen, sondern werfen der Industrie Versäumnisse vor.
Je mehr Digital ist besser in die Tiefe vordringt, desto abstrakter werden die Ausführungen der beiden, die sich abwechselnd Kapitel für Kapitel ihrem Gegenstand annähern und versuchen, die komplexen Sachverhalte mit lockeren Anekdoten und waghalsigen Analogien verständlich zu machen. Dabei lassen sie gerne andere Positionen außer Acht und räumen den von ihnen eingebrachten Gegenargumente nur wenig Platz ein, im Kern aber zeichnen sie das Problem konzise nach: Mit den technisch-medialen Umwälzungen der letzten Jahrzehnte haben wir nicht nur ein höheres Maß an Bequemlichkeit, sondern auch umso mehr Freiheiten erlangt, derweil wir uns gleichzeitig vor dem Überangebot des Netzes auf unsere Individualität zurückziehen. Wir leben in Filter Bubbles, in die dank unserer eigenen Faulheit oder aber den Algorithmen, die unser Netzverhalten auswerten und leiten, nur wenig Neues dringt. Eine Rückkehr zum Status der Konsument_innen ist nur schwer vorstellbar, so gerne sie auch Monopolisten wie Apple forcieren würden.
Denn was, wenn die Filter Bubbles partout nicht platzen wollen? Die Musik- und Filmindustrie hat halbherzig reagiert, von den Öffentlich-Rechtlichen ganz zu schweigen. Die lachenden Dritten sind Konzerne wie Spotify oder Netflix, das demnächst nach Deutschland expandieren wird. Die Buchbranche zeigt sich noch verbohrter: Derzeit wird in den USA hitzig darüber diskutiert, ob e-Books wirklich ähnlich viel wie ihre physischen Gegenstücke kosten sollen. Es ist derselbe Konflikt, den die Renners am Beispiel der Musikindustrie beleuchten und wer ihren Ausführungen aufmerksam folgt, wird um die Konsequenzen wissen, die dem Buchmarkt aufgrund seiner Zögerlichkeit bevorstehen. Darwins Thesen scheinen auch im digitalen Zeitalter ihre Gültigkeit nicht verloren zu haben. Trotzdem hagelt es Repressionen und Sanktionen, wird allenthalben der Versuch unternommen, eine Stagnation zu erreichen.
Viel ist passiert seit der Veröffentlichung von Digital ist besser. Das Leistungsschutzrecht wurde beschlossen, Netzneutralität ist immer noch nicht legislativ manifestiert. Der rigide Monopolist Steve Jobs – ein Popstar unter den Industriellen – ist verstorben, ebenfalls Frank Schirrmacher, den Kai-Hinrich Renner in einem der späteren Kapitel als Speerspitze des kulturkonservativen Bildungsbürgertums identifiziert, das sich dem Wandel in den Weg stellt. Mit Soundcloud, Bandcamp, Bigcartel und Sidestage nehmen Musiker_innen die Promo, den Vertrieb, die Merchandising-Verkäufe und das Konzert-Booking mittlerweile selbst in die Hand, mit der Cultural Commons Collecting Society hat sich eine Alternative zur GEMA formiert. Die taz meldet derweil erfreuliche Zahlen von der vor einiger Zeit eingeführten PayWall, das Crowdfunding-Projekt Krautreporter wurde erfolgreich umgesetzt, die Frankfurter Rundschau hat Insolvenz angemeldet und das Magazin de:bug – das am ehesten für dem Konnex zwischen Popkultur und Digitalisierung einstand – wurde eingestellt. Mit dem »Printsterben« begründete Chefredakteur Sascha Kösch dies damals und macht mittlerweile mit mäßigem Erfolg alleine online weiter. Es eröffnen sich umso mehr Mittel und Wege, die von immer mehr Menschen proaktiv genutzt werden, gleichzeitig gibt es massive Verluste zu beklagen.
Also, ist digital nun besser? Jein. Vielleicht fragen wir einfach Tocotronic. Deren Debütalbum aus dem Jahre 1995 wurde nicht nur damals, sondern auch ein zweites Mal auf Vinyl verlegt und gekauft. 2011 erschien die analoge, um Bonusmaterial erweiterte Neuauflage, im selben Jahr wie das streitlustige Manifest der Renner-Brüder. Das letzte, ebenfalls auf Vinyl (und CD und digital) erschienene Album der Band hieß übrigens Wie wir leben wollen. Rein digital etwa? Als wäre das möglich! So wie damals aber? Das scheint erst recht unmöglich. Vielleicht sollten wir lieber das Nebeneinander als Miteinander akzeptieren und zugleich davon lassen, auf einer Stellung zu beharren. Nur so wäre eine differenzierte Diskussion erst möglich.
Trotzdem: Da sich zwar eigentlich und doch so wenig geändert hat, seitdem Digital ist besser erschien, behält das digitalkulturoptimistische Manifest der Renner-Brüder seine Gültigkeit. Dass Tim Renner als Kulturstaatssekretär der Stadt Berlin geworden ist, kommt einem Glücksfall gleich. Wenn die Filter Bubbles nicht platzen wollen, dann braucht es eben Menschen, die zumindest ansatzweise vernünftig darauf reagieren. Tim Renner ist einer von ihnen.
Zugleich verhält es sich mit dem Mensch im Medienwandel andere als optimal. Denn die, in deren Hand laut den Brüdern die Zukunft des Netzes liegt, tapsen mit ihren Smartphones zu Teilen noch unbedarft durch die veränderte Welt, die sie tatsächlich wie ein »Neuland« aussehen lassen. Wichtig ist es nicht allein, Politik und Industrie darauf zu stoßen, dass die User_innen von heute nicht mehr die Konsument_innen von gestern sind – sie müssen es auch selbst erfahren. Denn bisher haben wir, wie Sascha Lobo erst letztens in einer Rede eindringlich einwarf, versagt. Und drohen, es weiterhin zu tun.
Fixpoetry 2014
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben