Lyrik heisst jetzt Schattenwirtschaft
Es gibt ein langes, langes Gedicht von Kai Pohl namens "Who is who", erstmals veröffentlicht 2005 im "Gegner" #16. Dieses Gedicht beginnt so:
Die Zeil heißt jetzt Robbie Williams Avenue, Madonna heißt jetzt Esther, Verona heißt jetzt nicht mehr Feldbusch, sondern Pooth, Bon Jovi heißt jetzt Bonji und lebt in Baden-Baden.
D2 heißt jetzt Vodafone, VIAG Interkom heißt jetzt O2, Ruhrgas heißt jetzt E.ON, BKK Holtzmann heißt jetzt Salus BKK, Leica-Mechanik heißt jetzt Polymeca, Neusiedler heißt jetzt Mondi Business Paper, (...)
Irgendwo in der Mitte beinhaltet es die Stelle:
Gleichstellung heißt jetzt Gender Mainstreaming, Mundpropaganda heißt jetzt Viral Marketing, Rendezvous heißt jetzt Open-Talk, Reisebegleiter heißt jetzt Care&Wellness Manager, Seilspringen heißt jetzt Rope Skipping, das Science Center heißt jetzt Odysseum, Öffentlichkeitsarbeit heißt jetzt Kommunikation, Erziehungsurlaub heißt jetzt Elternzeit, Haushalt heißt jetzt Bedarfsgemeinschaft, das Amt heißt jetzt Agentur, Saufpark heißt jetzt Biermassaker, Krieg heißt jetzt Friedenssicherung, Angriffskrieg heißt jetzt Verteidigung vitaler Interessen, Destroy heißt jetzt Erase, das Wesen der Dinge verstehen heißt jetzt Erkennen der Aura.
Und es endet, wiederum viel später, so:
ALLES BLEIBT WIE ES IST - NUR DER NAME ÄNDERT SICH: Kiepert heißt jetzt Thalia, Head Hunter heißt jetzt Kopfgeldjäger; es ist ein altes Elend. Dimitroff heißt jetzt Danziger.
Das Gedicht "Who is who" hat eine umfangreiche Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte: Zum Urtext gibt es drei zusätzliche Variationen oder "Teile" von Pohl selbst, ausserdem die Reaktion bzw. Nachdichtung bzw. Neu-Montage von Clemens Schittko "Who is who / is who or what" (2010), mit der dieser auch den "Lauter Niemand Preis" gewann (worüber dann wieder - full disclosure - der Verfasser dieser Rezension einen Bericht erstattete); weitere Texte der beiden Genannten sowie einiger anderer Verfasser - Lars-Arvid Brischke, Robert Mießner, Benedikt M. Kramer, Christoph Bruckner - beziehen sich mehr oder weniger unmittelbar auf "Who is who" und die in ihm zwar nicht begründete, aber für einen bestimmten literaturgeschichtlichen Zeitpunkt ausgereizte Poetik.
2014 ist im freiraum-Verlag "my degeneration" eine unbedingt lesenswerte Kompilation dieses Materials erschienen; herausgegeben anscheinend von Pohl selbst. "Anscheinend", denn zwar führt der Band nur die Verfasserangabe "Kramer/Mießner/Pohl/Schittko et al.", aber das Vorwort stammt von Pohl, also dürfen wir es wohl annehmen.
Über die Art von Lyrik, der "Who is who" und das umgebende ... literaturdiskursive Rhizom? ... angehören, schreibt Pohl in jenem Vorwort:
[2004] hatte ich mich (...) mit literarischen Cut-up- und Montagetechniken befasst, die teilweise auf www-Suchmaschinenergebnissen beruhten. Die derart verfasste Lyrik und Prosa nannte ich Sinnmaschinentextpassagen (smtp). Etwa zur selben Zeit kam in den USA die flarf poetry auf, in Frankreich startete Christophe Bruno seine globalisierten neodadaistischen Attacken gegen den "semantischen Kapitalismus" etc.
Über den Inhalt des Buchs:
Einige Jahre später (...) erreichten mich erste Reaktionen. Clemens Schittko erhielt für (...) Who is who / is who or what einen Lyrikpreis. Andere befreundete Autoren schickten mit ihre Variationen zu Thema. Sogar der Bund katholischer Dichter beteiligte sich - freilich ohne sein Wissen - an diesem Konvolut. Die Zusammenstellung gibt ein Beispiel für Sampling und kollektive Textproduktion im deutschsprachigen Raum.
Was an dem zumindest implizit im Vorwort hergestellten Zusammenhang der Who-is-Who-Welt von Pohl et al. mit flarf poetry nicht stimmt, oder was an ihm zumindest problematisch ist: Dass Flarf etwas mit der gezielten Verabschiedung von den Kriterien "Qualität", "Sinn", "Wohlgefügtheit" zu tun hat; während selbstschussapparathafte Listengedichte wie Who is Who "Sinn" zwar temporär suspendieren, aber von der Möglichkeit seiner Widerkehr leben (sonst "ginge" z B. die oben zitierte Zeile "Krieg heisst jetzt Friedenssicherung" nicht). Was Pohls (et al.s) Gestus dagegen mit Flarf und den Neodadaisten verbindet, ist die erfreuliche Bereitschaft, jede Art Prätention aufzugeben - das Gedicht zwar in vollem Ernst durchzudeklinieren, aber es und sich (überhaupt die Autorposition) dabei nicht ernster zu nehmen als nötig.
Dieses Unprätentiöse bei aufrechter intellektueller Satisfaktionsfähigkeit der Beteiligten ist einer der beiden Gründe, "my degeneration" gern zu lesen. Der andere ist der Sog, den dieses eine Bauprinzip mit seinen leichten Variationen entwickelt, angewandt auf allerlei Stoffe (die aber immer wieder zu demselben Grundthema zurückkehren, ohne sich zu erschöpfen: dem Thema der Dummheit, der Unangemessenheit "offizieller" Sprachen, der Ungleichzeitigkeit von sozialer Sprache und sozialer Welt). Wir lesen idealerweise "my degeneration" als ein einziges 130-seitiges Langgedicht und verzichten auf die Zuschreibung der Abschnitte zu diesem oder jenem Beiträger. Und lachen uns dämlich, obwohl zutrifft, was im Klappentext steht: Das ist keine Satire, das ist bitterer Ernst. Willkommen an der Schwelle zur Verzweiflung.
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