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Kritik

Kopf- und andere Zu-Stände

Hamburg

Es gibt Autoren, die, wenn sie sich eines Themas angenommen haben, es auch erledigt haben – es gibt aber auch solche, die, nahmen sie sich eines Themas an, dieses erst erweckten, es ist nun da und man läse gerne mehr, und zwar aus der Feder dieser Ins-Leben-Rufer.

Diesen Prosaikern, die, falls der Schrift selbst eine Intention nachzusagen ist, dieser folgen, nirgends verharren und mikrologisch alles drehen und wenden, dabei manches zum Knospen bringend, ist Karl-Markus Gauß zuzurechnen. Und welches Thema wäre einem solchen Schreibenden, der die Peripherie als geheimes Epizentrum erkennbar macht, angemessener als das eigene Beginnen..? So schreibt Gauß in Das Erste, was ich sah von seiner Kindheit, und weil er von nichts sonst schreibt, schreibt er von Kindheit an sich – wo andere behaupten, sind seine impliziten Hypothesen durch Beobachtung und Stil schlagend.

Während Behaupter sich absichern müssen, also durch ihren Stil zum „Erbsenzählen” schon verdammt oder wenigstens prädestiniert zu sein scheinen, ist Gauß nirgends souverän, es spricht ja nicht er, es spricht der Text. Der erzählt von Sabine, die dem Jungen, der Gauß damals war, folgte: „und beschloss, für mich zu sorgen.” Wie da der Stolz des Knaben und seine Sehnsucht, doch umsorgt zu werden, Gestalt annehmen, in wenigen Zeilen, ist ingeniöse Literatur, jedes Wort sitzt, um nichts ruhen zu lassen, gleichsam – man liest nicht von Gauß’ Jugend, man liest eine unausgesprochene Anthropologie, oder doch nicht? Man liest beides, weil die Schärfe des Textes beides miteinander in Beziehung setzt, ohne es auszuformulieren und damit der Wahrheit, die diesem Text eignet, zu berauben.

Geschichten der Kindheit, auch solche, die sie prägten – wie jene vom „Milchbrunnen” –, werden hier zu etwas verdichtet, das in seiner Vielgestaltigkeit und Stringenz zugleich immer wieder verblüfft. Ob nun „jenseits der Kastanien” (Celan) oder bei „den Mülltonnen”, die Grenze des präzisen Textes ist immer eine, die sich aufbricht, dieses Buch erschließt vieles, aber verschließt zuletzt nichts. Die Bestrafung der Welt „mit dem Schlimmsten [...], mit meinem Tod”, ist eine Imagination, die an jener Schwelle steht, sie ahnt etwas, das ohne das Ich wäre, wenngleich: noch für das Ich. „Groß war das Erschrecken über meine Allmacht.” Zugleich ist dieses Wissen die Vollendung verlorener Unschuld, die in der Tat ein Verlust ist – etwa, als der Junge begreift, daß die Religion, genauer der Kirchbesuch, den Eltern etwas anderes bedeutet, als ihm: „ein Theater [...], das sie der Kinder wegen besuchen.”

Der Text streunt hier, des Weges unkundig, aber das nur zum Schein, er ist ja der Weg, mit allen Fallen, allen Umwegen, allen Aporien. Man kann ihm nur dankbar und staunend zugleich folgen. Er endet, wo alles gleichsam anfängt, der letzte Satz ist ein Impetus: „Ich konnte jetzt lesen.” Lesen – das ist eine Lebensform, und man soll ihr gerade im Glücksfall dieses Buches unbedingt frönen.

Karl-Markus Gauß
Das Erste, was ich sah
Hanser / Zsolnay
2013 · 112 Seiten · 14,90 Euro
ISBN:
978-3-552-05638-1

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