ALS FLIEGE sitzt man am besten auf der Fliegenklatsche.
Der Gedichtband Windei in der Wasserhose des Eisheiligen von Kito Lorenc ist voll mit Ungereimtem, Zusammengekochtem und undichten Gedichten, die wohl nie so ganz dicht waren. In den Gedichten von Kito Lorenc kann man einem polyglotten Grottenolm ebenso begegnen, wie aufsteigenden Heringspups-Sprechbläschen. Es sind Gedichte selbst für gänzlich ungelauste Leser.
ROMANANFANG. Er popelte, bekam Nasenbluten, legte den Kopf zurück, schluckte mehrmals und begann sich zu verdauen.
Ja, mir ist bewusst, dass Kito Lorenc Jahrgang 1938 ist, und dennoch strahlen seine Gedichte etwas von der Unbekümmertheit eines Kindes aus. Damit meine ich jedoch keinesfalls Naivität, sondern eine das Gegenüber völlig entwaffnende Offenheit. Die Gedichte von Kito Lorenc starren einem direkt ins Gesicht, wie es Kinder in der Straßenbahn aus der Sicherheit ihres Kinderwagens zu tun pflegen: eine Direktheit des Blickes, die man nicht gewöhnt ist, gebündelte Neugier, der man sich nicht entziehen kann.
Unvermittelt sieht man sich einem Gedicht gegenüber. Einem Gedicht, das nicht blinzelt, den Blick auch nicht zu Boden senkt und auch nicht ausweicht. Ein Gedicht, das auf Konfrontationskurs ist, weil es neugierig ist. Sehr neugierig. Und umblättern hilft auch nicht, denn da wartet schon das nächste.
Wobei Kito Lorenc selbst mit dem Wort „Neugier“ wohl nicht ganz glücklich wäre, und mir vielleicht widersprechen würde, dass seine Gedichte doch gar nicht „neugierig“ seien, eher „neulustvoll“. Denn in einem Schmungks macht er sich gerade über eine mögliche und viel besser klingende Wortalternative zu „Neugier“ Gedanken:
NEULUST. Wie viel besser klingt das doch als Neugier!
Und noch auf andere Weise haben die Gedichte von Kito Lorenc etwas Kindliches an sich, was jedoch keinesfalls abwertend gemeint ist, sondern viel mehr ihre Qualität ausmacht: so wie es manchmal schwer sein kann gegen die glasklare Logik eines Kindes zu argumentieren, kann man auch den Gedichten von Kito Lorenc einfach nicht widersprechen:
[…]
denn es gibt nichts
was ein Nichtstuer nicht
schon nicht getan hätte
Der Untertitel von Windei in der Wasserhose des Eisheiligen lautet „Gedichte und Schmungks“. Gleich zu Beginn wird das Wort „Gedichte“ mit einer Fußnote und folgender Erklärung versehen: „Schmungks (sächs.) – Zusammengekochtes“ Kito Lorenc bringt treffend in einem Wort auf den Punkt, worum es sich bei Schmungks handelt. Jan Kuhlbrodt erklärt es im Nachwort etwas ausführlicher: „Durchsetzt ist der Band mit Schmungks, aphoristischen Gebilden aus teils vorgefundenem Wortmaterial, widerborstigen Sentenzen.“ Diese Schmungks unterscheiden sich von den Gedichten darin, dass sie meist Worterklärungen oder Zitate sind und sich oft wie absurde Lexikoneinträge lesen, beispielsweise wenn das äußerst seltsame Phänomen NORDIC WALKING sehr nüchtern beschrieben und zu erklären versucht wird. Manche Schmungks sind aber auch tatsächliche Lexikoneinträge, was sie jedoch nur noch absurder macht:
SELBSTMORD (ältere Definition): Seltene, im realen Sozialismus mehr und mehr zurückgehende Todesart. (Meyers Lexikon in einem Band, Leipzig).
Und auch die Frage, was denn eigentlich ein Gedicht sei, lässt Kito Lorenc nicht ungeklärt, widmet dem Gedicht einen eigenen Schmungk (oder eine Schmungk? Gibt es Schmungks überhaupt in der Einzahl?):
GEDICHT. Ein Gedicht muss unklar sein. Über etwas, das sich von selbst versteht, muss man kein Gedicht machen.
Haben wir hier eine Poetologie in zwei Sätzen vor uns? Die Erklärung zu allen Gedichten, schon auf Seite 38? Oder doch einen kleinen Fallstrick für allzu gutgläubige Leser? Ich tippe auf letzteres. „Über etwas, das sich von selbst versteht, muss man kein Gedicht machen.“ Gut, man muss nicht, aber man kann sehr wohl. Und auch Kito Lorenc kann: eines davon steht gleich gegenüber auf Seite 39: GEDICHT MIT DATUM. Und ja, es geht in dem Gedicht wirklich darum, dass es sich um ein Gedicht mit Datum handelt. Das versteht sich von selbst, könnte man sagen, weil es ja schon der Titel sagt. Und doch ist es ein schlichtweg großartiges Gedicht. Kito Lorenc widerspricht sich also sehr gerne selbst oder lässt seine Gedichte und Schmungks einander widersprechen und damit in einen regen Dialog und Austausch treten.
Kito Lorenc schreibt über Sprachgrenzen hinweg, oder besser zwischen den Sprachgrenzen hindurch: zwischen Deutsch und Sorbisch. Windei in der Wasserhose des Eisheiligen ist ein auf Deutsch verfasster Gedichtband, und doch fließt das Sorbische immer wieder ein. Sprachgrenzen können besonders leicht mittels Übersetzung überschritten werden. Gelegentlich gibt es Fußnoten oder Klammern mit der richtigen Aussprache und der Übersetzung eines Wortes. Kito Lorenc macht sich auch immer wieder Gedanken über einzelne Worte, beispielsweise über das Wort „Birnen“. Denn bei der Birnenernte in den großen Ferien im sorbischen Großvaterdorf kam es sehr leicht zu eher unangenehmen sprachbedingten Missverständnissen:
[…] Man musste nur aufpassen dort, dass man nicht zum Larven- und Käferablesen in die Kartoffelfelder delegiert wurde, denn „bĕrny“ (gesprochen etwa: birne) heißt im Radiborer Sorbisch Kartoffeln, während man zu Birnen „krušwy“ (kruschwe) sagt.
Manchmal fügt Kito Lorenc Erklärungen und Übersetzungen hinzu, jedoch nicht immer. Die Sprachmischung bewirkt, dass man als nicht-Sorbisch-sprechender Leser, plötzlich mit Worten konfrontiert wird, deren Bedeutung einem verschlossen bleibt, da diese sich nicht immer über den Zusammenhang erschließen lässt. Dadurch bleiben diese Worte unnahbarer und doch kann man sich diesen Worten annähern, indem man die Wortform und den Klang der Worte vorsichtig ertastet. So endet das Gedicht „SORBISCH-DEUTSCHE ABENDLESUNG“ mit den Zeilen:
Blei bei unz
schinki schanki
Hypp!
Im letzten Schmungks „HERBSTNACHT“ wird schon vorausgeblickt, auf die nächste Gedichtsammlung, diesmal auf Sorbisch:
[...] Und ich denke an die nächste, sorbische Gedichtsammlung, wenigstens an ihren Titel: „Zymny kut“ (Kaltes Eck).
Leichte Melancholie kommt auf, wenn ein Gedicht von erblauenden Blaubeerkämmen und vergrauenden Läusekämmen erzählt. Es handelt sich dabei um Gebrauchsgegenstände, welche die meisten Leser des Gedichts vermutlich gar nicht mehr kennen, wie das Gedicht selbst feststellt, denn diese Leser hausen wahrscheinlich…
[…] in modernen Zeiten,
ungelaust und ohne
Blaubeerplinze.
Die Gedichte bringen ihren Lesern ein großes Interesse entgegen und machen sich immer wieder Gedanken zu ihnen. Ein anderes Gedicht beispielsweise spricht an, dass Gedichte gelesen werden müssen, denn Gedichte brauchen Leser um sich aus der Schrift aufrichten zu können:
Flach in der Schrift
liegt das Gedicht
In dir
richtet es sich auf
zu deiner Musik […]
Einige der Gedichte reimen, doch sind diese Reime sich selbst nicht ganz geheuer. Ein Gedicht beispielsweise wehrt sich sehr vehement dagegen, das Wort „Herz“ in der dritten Strophe zu reimen, indem „Herz“ geschützt und ungereimt in der Zeilenmitte steht, quasi im Reim-Leo, da das Gedicht sonst durchgehend mit Endreimen versehen ist:
Der Dok steht da mit langer Spritze
vor meinem Herz, ich werde es nicht reimen.
Und wer erinnert sich an dich, Marianne Britze?
Ich sagte schon: Ich werde es nicht reimen.
Reimen, oder nicht reimen? Und wenn – wo? Diese Fragen werden auch im Gedicht „BURLESKE“ thematisiert, in dem es um einen alten Dichter geht:
[…] Schon
lange reimte er beim Dichten nicht mehr schlicht
am Zeilenende, doch binnen kam es vor,
auch in unbetonter Stellung, wo unverhofftihm Gereim entschlüpfte, das zunächst
auf einem Versfuß hinkte, später hüpfte
und sein Los verknüpfte mit entfernten Knöpfen
eines Hosenstalles, der halb offen standin manchen Köpfen. Das ist das Alter!
meinten die: Er kann den Reim nicht halten
mehr, verliert ihn schon vorm ersten Zeilen-
ende. Doch ganz dicht war der noch nie.
Bald schon ist man in Punkto Reime bei Kito Lorenc auf sehr viel gefasst, wird aber dennoch immer wieder überrascht. Denn selbst einen verkehrten Reim findet man in einem Gedicht, auf das Wort „Schlittschuh“, erneut vollkommen einleuchtend in seiner Logik:
[…] da bin ich schon Luft
Wölkchen aus dem Mund ein Kuhschittverkehrter Reim auf Schlittschuh
Zum Abschluss möchte ich Kito Lorenc eine besondere Freude machen und ihm an dieser Stelle hier einen kleinen Klammeraffen schenken:
@
Und mit dem Schluss seines „Gedichts mit Datum“ schließen:
[…]
Dieses Gedicht hat ein Datum,
und das ist mehr als genug für
ein Zeitgedicht, sonst reimt noch wer
Mandrill hinein oder Klammeraffe
und stellt das Gedicht ins Internet
wo es aufgerufen oder herunter
geladen wird oder nichts dergleichen.
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