Ein illusionsloser Blick auf das, was bleibt
Nein, "Professorenlyrik" ist das nicht im neuesten Band von Klaus Martens. Und die Texte erinnern auch wenig an die jener Lyriker, mit denen sich der Spezialist für Nordamerikanische Literatur beschäftigt oder die er übersetzt hat. Eher vielleicht an Gedichte des Iren Seamus Heaney. Jedenfalls darf man sie mit Fug und Recht Naturgedichte nennen, da ihr Sujet oft die Natur ist. Sie halten sich öfters im Freien auf, und ihre Bilderwelt ist eine organische. Da ist im ersten Kapitel viel von der Gegend der Vogelinseln die Rede, der Autor nimmt seine Leser mit hinaus in die Gegend vor dem weiten Horizont. Und dort fehlen weder Möwe noch Lumme, weder "La Paloma" noch eine "Vogelkundlerin" und auch nicht der Tee mit Rum. Klaus Martens führt uns in die Meeresgegenden, die wir kennen, doch er nutzt das Bekannte für sensible Beobachtungen und Reflexionen und leitet so vom allzu Vertrauten zum Neuen, alte Metaphern werden vorsichtig erneuert, und darum macht es viel Freude, sie zu entdecken. So im Text "Cello", der beginnt mit: "Das Cello spielt Abendsehnsucht …" Es ist das "Meer, das Cello spielt …" Und am Ende "sagen die Wellen: Rostropovich." Hier wird der Name des berühmten Cellisten zur Onomatopoesie, ich höre die Wellen heranrollen und sich wieder zurückziehen. Freude bereitet es auch, dem lyrischen Ich zu folgen, wenn es im Gedicht "Webcam" in deren Bildern ein Du "im Sechzehnsekundentakt" zu erkennen glaubt – aus sicherer Distanz, "von hier im Stummfilmleben." Auch darin wird vieles in einem Wort verdichtet.
Klaus Martens beschreibt die Natur, die er sieht, eine zerstörte, teilweise verschwundene, jedenfalls schwindende Natur, aber er konstatiert nur und klagt nicht und hält sich nicht mit Anklagen auf, zieht sich höchstens bisweilen in Ironie zurück, die ja Distanz bedeutet. Die Texte sind rhythmisch perfekt, sie arbeiten mit traditionellen Mitteln und scheuen auch einzelne, verstreute Reime nicht. Man merkt, dass hier jemand zu Gange ist, der die Lyrik nicht neu erfinden will. Nein, hier ist einer dabei, sein Werk zu vollenden, denn er hat bereits dreizehn Lyrikbände veröffentlicht. Und die beziehen sich aufeinander. Wenn Klaus Martens beispielsweise in seinem ersten Gedichtband schreibt: "Es gibt Tage, an denen geht / gar nichts", wirkt das erste Gedicht im hier besprochenen Band wie eine Vollendung des alten Gedankens:
Tage gibt es
Tage gibt es für Mut und kaltes Wasser
für grobe Socken und harte Schuhe –
Tage, an denen wir uns gerade ins Auge sehen
und uns wahrnehmen müssen – einfache
Leute, Abkommen von Leuten mit krummen
Händen und verquollenen, wunden Leibern,
die bescheiden waren, weil sie's mussten –
Ackerhelfer, Steinklauber, Grubenausheber,
die eigenen. Das sind die Tage des einfachen
Lebens, nicht allzu lang, wie periodisches
Fasten, wegen der Figur, sondern ein kleines
Erinnern, das den flotten Spiegel Lügen straft.
In den Texten wird mit wenig sprachlichem Aufwand und unaufgeregt viel über gelebtes Leben gesagt. So auch im Folgenden:
Revolutionär
Sie sind ja ein Revolutionär,
sagte die Dame und meinte mich.
Ich dachte beschämt an meine Jugend –
ich war nur radikal und lebte allein
und manchem dünnen Ideal,
ich diskutierte nächtelang, spielte
mit großen Worten. Aber am Ende
bin ich meinem Interesse gefolgt
und dem Lebenswürfel, wenn er fiel,
nach nur ein bis zwei Umdrehungen.
Es sind die kleinen Worte, mit denen Klaus Martens nun hantiert. Wenn er beispielsweise vom "Verharren" spricht: "Es kostet unendliche Kraft, / das Verharren auf realer / oder metaphorischer Schwelle –", aber sie deuten ins Große: "… alles ist nun Schwelle, / du bist Übergang." Und er fürchtet sich auch nicht vor Wendungen wie "… die Schlüsselwörter fallen / zu den Herzenstüren deiner Kindheit", wenn das Ganze auf Existenzielles zielt: "Heimweh komm und öffne mich!" Da kann ich als Leserin wieder dem Gedanken folgen. Dies kann ich nicht immer. Etwa bei der gewagten Psychologie des Gedichtes "Vogelkundlerin". Oder beim Spiel mit der eigenen Biografie à la Max Frisch im Text "Denkmonolog". Aber das macht nichts; Gedichte wie "Steinerweichen" zeigen die vollendete Lakonie des Alters. Es endet: "Der stete Tropfen höhlt, macht brüchig, nicht weich. / Steine sind es nicht wert, erweicht zu werden."
Natürlich denkt ein Lyriker wie Klaus Martens auch in seinen Texten über das eigene Schreiben nach. So im Gedicht "Etwas Neues": "Die Rhythmen und Takte / laufen seit langem auf Automatik, / Kleinschreibung und Silbenzählung, / geschenkt – Atemeinheiten / aus zunehmender Atemnot – eingestellt." Und wenn er im gleichen Text Greis auf Scheiß reimt, ist dies die Ironie dessen, der erkannt hat: "… alles ist neu für die / Neuen, die kein Gedächtnis wollen." Genau so scharfsinnig geht er auch im folgenden Text vor:
Naturgedichte
Keine Analogie, bleib bei der Sache,
keine Naturgedichte –
dieses Gras, diese Blätter und Vögel,
diese Felsen und Bäume und Seen,
zu romantisch für unsere Zeit –
Nutzwaldeinsamkeit? Dass ich nicht lache.
Hinter grünen Nadelkulissen am Rand
der Straße lauert der Kahlschlag.
Der bezaubernde Sand am Strand
ist aufgeschüttet für diese Saison.
Das Wasser jedoch blieb das gleiche
im mehrfach umgekippten See. Taten
dann Kalk hinein, wie in andere Massengräber.
Ach, bleib bei der Sache, keine Direktheit,
nenn sie Naturgedichte. Alles verwächst sich.
Auffallend oft kommen Gedankenstriche vor in den Texten. Bisweilen wirken sie wie Pausenzeichen, Leerstellen, vom Leser zu füllen. Gegen diese allerdings steht die "Direktheit", die sich das lyrische Ich ironisch verbietet, aber es kann nicht anders, denn der Blick in die sogenannte Natur lehrt, was zu sagen ist. So auch in jenem Gedicht, das dem Band seinen Titel gibt.
Bei den Vogelinseln
Draußen, bei den Vogelinseln,
bei den unbemannten Bänken
von Sand und angeschwemmtem
Gras und Ried und Soden,
wo abgesprengte Fundamente
und Stelzen stehn in Watt
und Wasser, weit vor der Düne,
die die Gezeiten überstand,
wo der abgetragene Leuchtturm
und ein letztes Wohnhaus waren,
dort legen Boote an mit Menschen,
die die letzten Vögel pflegen,
die sie und ihre Eier hegen –
dies sind die kostbaren Relikte,
die Reliquien verstorbener Natur
an Schiffahrtsstraßen, bei ausgespülter
Säure aus dem Flussmund drüben
und dem Schweröl von den Häfen –
dies war einmal die Vogel-Serengeti
hoch in unserem Norden. Das Morden
ist noch lange nicht vorbei. Draußen
säbeln die Rotoren Vogelzüge,
wer's überlebt hat, landet hier
im Sand, auf einer dieser Wüstenbänke.
Es kommt die Zeit, in der auch wir
nach unseren letzten Inseln suchen.
In den Gedichten wird das Augenmerk oft auf das, was bleibt, gelenkt, doch der Verlust wird nicht verschwiegen – eine Gratwanderung. Und wenn gar nichts mehr hilft, ist da noch der Humor, der Freund des klaren Blickes.
Diese Gedichte wollen nicht zu viel, sie wollen nur sein. Und das tut gut, weil sie dadurch auch mich als Leserin sein lassen.
Fixpoetry 2015
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben