Zug der Glücklosen
Der echte Literaturexpress rollte im Sommer 2000 einen Monat lang durch Europa. Route, Zwischenstopps, Absicht und Aufwand dieses großangelegten Völkerverständigungsexperiments stimmen im Großen und Ganzen mit dem überein, was der georgische Autor Lasha Bugadze in seinem Roman „Der Literaturexpress“ schildert, der nun in deutscher Übersetzung vorliegt. Was ihn allerdings dazu bewogen haben mag, diesen Stoff aufzugreifen und ins Jahr 2008 zu verlagern, bleibt ein wenig nebulös. Als sinnfällige Erklärung könnte allenfalls der Kaukasuskrieg im August 2008 herhalten, der dem kleinen Land Georgien plötzlich eine ungeahnte Aufmerksamkeit auch im Ausland verschaffte.
Im Oktober 2008, wenige Monate, nachdem die Russen Tbilissi bombardierten, macht sich Bugadzes Ich-Erzähler Zaza auf den Weg nach Lissabon, wo der Literaturexpress starten soll. Warum ausgerechnet er, mit seiner „armseligen (und vor allem einzigen) Kurzgeschichtensammlung“ dazu auserkoren wurde, zusammen mit 99 anderen Autoren Europa zu durchqueren, leuchtet ihm nicht so recht ein. Eine mindestens ebenso merkwürdige Wahl erscheint ihm der neurotische Lyriker Zwiad, der im Flugzeug neben ihm sitzt und bereits auf der Startbahn einen halben Nervenzusammenbruch erleidet. Ob Klischee oder nicht – die „Angst vor allem Neuen“, die Zaza seinen Landsmännern zuschreibt, bestätigen Zaza und Zwiad jedenfalls auf jeder Seite. Ein Glück, dass ihnen in Lissabon der georgische Student Iliko als Babysitter und Dolmetscher zur Seite gestellt wird. Allerdings entpuppt sich dieser, abgesehen von seinen Sprachkenntnissen, im Lauf der Reise als genauso unbeholfen und unselbstständig wie die zwei literarischen Abgesandten.
Dieses eher durch Unsicherheit als durch gegenseitige Sympathie zusammengehaltene Trio, von Zaza treffend als „Landeier mit Minderwertigkeitskomplexen“ bezeichnet, sorgt für so einige kurzweilige Momente auf der einmonatigen Zugfahrt über Madrid, Paris, Brüssel, Frankfurt, Malbork, Kaliningrad, Moskau und Warschau nach Berlin. Wobei Moskau, so die zeitpolitische Ironie am Rande, für die drei „Landeier“ entfällt, da Russland gerade keine Visa an Georgier ausstellt.
Sehr schön fängt Bugadze die „politisch inkorrekten Vibrationen“ ein, die bald vor allem in den Abteilen der osteuropäischen Fraktion, zwischen den Georgiern, Tschechen, Armeniern, Aserbaidschanern und natürlich den beiden Russen schwingen. Während die anderen in jeder freien Minute ihre Notizhefte, Schreibblöcke und Laptops zücken – eine fieberhafte Aktivität, die sich nach dem Aufruf, am Ende der Reise einen möglichst originellen Bericht abzuliefern, noch steigern wird – hat Zaza für die „Akrobatenautoren“, die sich in jedem noch so unbequemen Zugabteil zum Schreiben motivieren können, nur Verachtung übrig. Ihm ist längst klar geworden, dass es bei der Versuchsanordnung „Literaturexpress“ nicht so sehr um Literatur, sondern vielmehr um das Pflegen diverser Neurosen, Eitelkeiten, patriotischer Empfindlichkeiten und persönlicher Abneigungen geht. Und diese werden von ihm dann auch bei jeder sich bietenden Gelegenheit mehr oder weniger subtil aufs Korn genommen.
Der Hauptgrund, warum Zaza jegliche kreativen Kapazitäten fehlen, ist allerdings die schöne Helena, in die er sich bereits im Frühstücksraum des Lissabonner Hotels verliebt. Helena (natürlich Griechin) ist dummerweise liiert mit einem älteren polnischen Übersetzer, und wird den armen Zaza in den folgenden 30 Tagen mit ihren verführerischen Kurven und ihrem ambivalenten Verhalten an den Rand des Wahnsinns treiben. Nun ist diese Konstellation des ewig lockenden Weibes an der Seite eines etwas tumben, aber auch unberechenbaren älteren Ehemannes nicht gerade originell. Zudem scheint Helena mehr den pubertären Fantasien des Erzähler-Autors als der Realität zu entstammen (dass dieser 28 sein soll, nimmt man ihm kaum ab; ich hätte eher auf 15 getippt). Helenas hervorstechende Eigenschaften sind: ihr toller Hintern, ihre fantastischen Beine, ihre außergewöhnlichen Brüste. Zu den Autor_innen zählt sie natürlich nicht. („Gott, wie sehr ich mich vor weiblichen Prosaisten fürchte! Alle, die ich kenne, sehen aus wie Transvestiten“, lässt Zaza an einer Stelle verlauten.) Überhaupt scheinen außer einer „kroatischen Dame“ und einer „französischen Oma“ nur männliche Autoren im Literaturexpress mitzufahren. Wobei dieser Umstand auch dem verengten Blickfeld des Erzählers geschuldet sein könnte, der Frauen sowieso nur bis zu einem Alter von etwa 25 und in Form von Beinen, Hintern und Busen registriert.
Was Helenas denkt, tut oder fühlt, interessiert Zaza nicht wirklich – es geht ihm einzig darum, sie zu „besitzen“, und sei es nur für 30 Sekunden. Eine etwas merkwürdige Vorstellung von „Liebe“, aber nun ja. Als Figur jedenfalls bleibt Helena reichlich blass.
Zu seiner sonstigen Denkweise passt auch Zazas selbstverständliche Annahme, dass Frauen, die etwas auf sich halten, männliche Avancen erst einmal abwehren müssen, und dass der Mann dieses „Nein“ dann mit markiger Bestimmtheit zu brechen hat. Diese Darstellung soll wahrscheinlich lustig sein – ich persönlich kann über derartige Affirmationen von „rape culture“ jedoch nicht lachen.
Ähnlich bedenklich finde ich Zazas Furcht vor Andersartigkeit, die immer wieder in offener Abneigung gegenüber sexueller und geschlechtlicher Vielfalt ihr Ventil findet. So mokiert er sich ohne ersichtlichen Grund mehrere Passagen lang über eine geschlechtlich uneindeutige Person auf der Frankfurter Buchmesse, die er in einem Satz als „Hermaphroditen“, im nächsten als „bisexuellen Bibliophilen“ bezeichnet. Falls es die Absicht des Autors gewesen sein sollte, Zaza als unsympathischen, provinziellen Chauvi vorzuführen, so gelingt dies nur teilweise. Da Bugadze seinen Leser_innen keine alternativen Identifikationsfiguren anbietet, steht zu befürchten, dass die meisten an solchen Stellen eher nicht über Zaza, sondern im Gegenteil mit ihm über die Opfer seines Spotts lachen werden. Anfangs möchte man dem unbeholfenen Jungen, der in die große weite Welt geworfen wird und dort auch noch als Spielball einer wankelmütigen Femme Fatale herhalten muss, den Kopf tätscheln und immer mal wieder „Ach, du armer Kerl!“ ausrufen. Doch in den Szenen, in denen seine „Angst vor allem Neuen“ in Übergriffigkeit oder Verachtung umschlägt, lässt sich das Wissen nur schwer verdrängen, dass es gerade solche „armen Kerle“ sind, die gerne auch mal zuschlagen, wenn sie sich in ihrer heterosexuellen Männlichkeit bedroht fühlen.
Angesichts seines sexistischen, homophoben und komplexbeladenen Gebrabbels, das wahrscheinlich komisch sein soll, tatsächlich aber einfach nur nervt, beginnt dann auch die Story um die Jagd nach der schönen Helena rasch zu langweilen.
Kleine Lichtblicke stellen die (leider spärlich gesäten) Exkurse über die engmaschige, von Intrigen geprägte georgische Literaturszene dar, in der eine eingebildete Meute Möchtegern-Autoren um die Gunst weniger hunderte Leser buhlt. Wirklich komisch sind auch die Passagen, in denen die völlig überforderten Autoren in den verschiedenen Städten wie Zirkustiere einem Publikum vorgeführt werden, das nicht einmal die Hälfte von dem versteht, was die Lesenden dort vorne auf der Bühne unter verzweifelter Zuhilfenahme von Händen und Füßen von sich geben.
Wie „ausgehungerte Vampire“ kommen Zaza die Autoren auf ihrer letzten Reiseetappe zum großen Finale in Berlin vor. Da sie seit Wochen im eigenen Saft schmoren, wird es immer unmöglicher, überhaupt noch etwas Neues zu erschaffen. „Die gleichen Ambitionen, die gleichen Ängste, die gleichen Themen, die gleichen Probleme, die gleiche Originalität. Die gleiche literarische Glücklosigkeit“, konstatiert Zaza mitleidlos. Die ganze Absurdität des Unterfangens gipfelt in Zazas vergeblichen Versuchen, mangels kreativer Einfälle wenigstens aus dem gerade aktuellen russisch-georgischen Konflikt literarisches Kapital zu schlagen.
Eine wirklich pointierte Literaturbetriebssatire ist „Der Literaturexpress“ trotzdem nicht geworden. Dazu ist Zazas Weltsicht einfach viel zu beengt. Letztendlich kommen seine ironisch gemeinten Betrachtungen über bekannte Klischees nicht hinaus. Was natürlich auch in seinem Charakter begründet liegt: Ein neurotischer Hinterwäldler, der seine Ängste im Zaum zu halten versucht, indem er die Welt um ihn her in ein Raster vorgefasster Bilder einordnet, gibt vielleicht einen interessanten Fall für eine psychologische Studie ab. Diesen Anti-Helden zugleich aber als scharfsinnigen Beobachter eines paneuropäischen Projekts einzusetzen, hat ganz offensichtlich nicht funktioniert.
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