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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Perverses Subvertising

Lauren Beukes erzählt vier klassische Tragödien im ultracoolen Cyberpunk-Gewand.
Hamburg

Einen Roman, der in der nahen Zukunft spielt, mit konkreten Zeitangaben zu versehen, ist ein bisschen so, als würde man seiner eigenen Fiktion ein Verfallsdatum aufstempeln. Und genau dieses Risiko geht Lauren Beukes in ihrem Debütroman „Moxyland“ ein, in dem an mindestens einer Stelle ganz unverhohlen vom 17. September 2018 die Rede ist. Im Jahr 2008, als das Buch in Südafrika erschien, lag das noch zehn Jahre in der Zukunft. Wenn wir heute die deutsche Übersetzung aufschlagen, ist das Jetzt der Fiktion gefährlich nahe gerückt – oder umgekehrt. Gerade, was technologische Innovationen und deren Auswüchse angeht, hat ja die Gegenwart bekanntermaßen die tückische Angewohnheit, selbst abstruseste Zukunftsvisionen im Eiltempo zu überholen.

Das ist in „Moxyland“ durchaus an einigen Stellen der Fall (ihre Alles-in-einem-Handys nehmen beispielsweise das Smartphone vorweg), doch schadet dies dem Buch überhaupt nicht. Beukes‘ düstere Dystopie über ein Kapstadt der (mittlerweile sehr) nahen Zukunft hat weder an Kraft noch an Hellsichtigkeit verloren. Im Gegenteil: Die abgeklärte Gesellschaftskritik, die Beukes im Cyberpunk-Gewand auf die Spitze treibt, ist heute aktueller denn je.

In Beukes‘ Kapstadt des Jahres 2018 spaltet sich die Gesellschaft in Firmenangehörige und Firmenlose, Arm und Reich, Online und Offline – eine neue Form der Apartheid, die an die Geschichte Südafrikas anknüpft, aber auch in anderen Teilen der globalisierten Welt ihre Entsprechungen findet.

Erzählt wird aus vier Perspektiven, die sich kapitelweise abwechseln. Zugegebenermaßen unterscheiden sich die Erzählstile nicht sonderlich voneinander – dennoch verleiht diese Dramaturgie der Geschichte Drive und zusätzliche Dimensionen.

Da ist zum einen die junge Fotografin Kendra, die ihre Umgebung bevorzugt durch den Sucher ihrer geliebten Leica Zion wahrnimmt. Bis auf dieses analoge Nostalgie-Accessoire, das im krassen Gegensatz zum herrschenden Fortschrittsglauben steht, verharrt sie jedoch überwiegend in passiver Duckstellung. Allerdings hat sie auch eine andere Seite. Gleich zu Anfang des Buches erleben wir, wie sich die slackermäßig durchs Leben taumelnde Kunsthochschulabbrecherin als „Ghost Girl“ neu erfinden lässt: als Markenbotschafterin für den Softdrink Ghost. Nach einer Injektion mit drei Millionen Nanobots in ihren Blutkreislauf wird das Getränk zur veritablen Droge für sie. Und nicht nur das – Kendra gehört nun zum auserwählten Kreis nanotechnologisch aufgepimpter Künstlerfreaks und Hipster, denen keine Krankheit mehr etwas anhaben kann. Gleichzeitig jedoch bindet sie das grünlich schimmernde Tattoo, das die Injektion hinterlässt, so fest wie eine Hundemarke an die Firma, die Ghost herstellt.

Die zweite Hauptfigur, Tendeka, könnte man als radikal-anarchistisches Gegenstück zu Kendra bezeichnen. In seiner Funktion als Sozialarbeiter und Fundraiser kümmert er sich um die unzähligen Straßenkids von Kapstadt. Zugleich ist er der Polizei schon lange ein Dorn im Auge, denn in einer Gesellschaft der Totalüberwachung bleibt sein revolutionäres Gedankengut natürlich nicht unbemerkt. Nach einem Zusammenstoß in einer Billardbar wird Tendeka von der Staatsgewalt „abgeschaltet“ – was in Beukes‘ Welt die schlimmste aller Strafen bedeutet. Denn mit einer gesperrten SIM-Karte kann man nicht mehr telefonieren, online gehen, einkaufen oder auch nur ein öffentliches Verkehrsmittel benutzen. Im Laufe der Geschichte stilisiert sich Tendeka mit seinen antikapitalistischen Parolen und kamikazehaften Störaktionen als Weltretter und Märtyrer – bricht jedoch sein „Good Guy“-Image immer wieder, indem er die ihm hörigen Jugendlichen für seine Zwecke benutzt und in Gefahr bringt.

Ebenso ambivalent, durch seinen ungezügelten Narzissmus jedoch noch weitaus unsympathischer, kommt Toby rüber: Seines Zeichens Vlogger, notorisch pleite, immer high auf „Türkenzucker“, immer auf der Jagd nach heißen Mädchen, Likes und Klicks. Der Name seines Streamcasts sagt eigentlich schon alles: „Tagebuch eines Arschlochs“. Im Roman fungiert Toby als gigantisches Auge, das ohne zwischen Gut und Böse zu unterscheiden alles in sich aufsaugt und zeitgleich sendet. Die beste Metapher hierfür ist sein BabyStrange, ein Mantel aus smartem Textil, in das unzählige Mini-Kameras eingewebt sind, die ohne jegliches Moralverständnis Bilder abspielen und zugleich alles in der näheren Umgebung aufzeichnen. Mit Tendeka verbindet Toby zunächst eine reine Zweckgemeinschaft – denn egal ob Firmenwerbung oder terroristische Anschläge, Toby nimmt alles auf, was Aussichten auf eine hohe Platzierung in der Medienlandschaft verspricht.

Ein noch geringeres Identifikationspotential bietet wohl Lerato, die als einzige der vier Erzählstimmen zu den privilegierten „Corporati“ gehört. Sie gibt die toughe, seelenlose Karrierefrau („Die Regeln der Verachtung verlangen es, dass man manchmal nett sein muss.“), die mit einer Mischung aus Heuchelei und Ellbogenmentalität die Leiter nach ganz oben erklimmt. Andererseits spielt sie auch den Guerilla-Aktionen von Toby und Tendeka in die Hände, indem sie Sicherheitsvorkehrungen an Werbetafeln ausschaltet oder entschärferfreie Handys schmuggelt. Warum sie dies tut, wird nicht so recht ersichtlich. Vielleicht ja einfach für den Kick, so wie sie sich ab und an ein emotionsloses sexuelles Abenteuer mit dem ein oder anderen Kollegen gönnt.

Erzählt wird das Ganze in einer glatten, unterkühlten Sprache, gewürzt mit rasanten Dialogen und ein bisschen Straßenslang. Schade nur, dass die deutsche Übersetzung hin und wieder etwas holprig wirkt. Dem Genre ist der coole, leicht schnoddrige Stil jedenfalls mehr als angemessen, haben wir es doch – zumindest auf den ersten Blick – mit einem typischen Cyberpunk-Szenario zu tun: freiheitsliebende Individuen im Kampf gegen allmächtige, gesichtslose Firmen.

Zum Glück jedoch belässt es die Autorin nicht bei dieser idealtypischen Gegenüberstellung, sondern kreiert Charaktere, die weitaus komplexer sind in ihren Verstricktheiten. Tatsächlich sind Kendra, Tendeka, Toby und Lerato allesamt tragische Figuren – in dem Sinne, dass sie, egal ob sie mit dem oder gegen den Strom schwimmen, ihrem Schicksal nicht entrinnen können. Irgendwie ahnt man diese Ausweglosigkeit von Anfang an, und genau diese Ahnung verleiht „Moxyland“ eine beinahe nihilistische Schwere. Tendekas romantische Aufrührer-Ideale werden ebenso ins Leere laufen wie Leratos vermeintlich subversive Nutzung der Sicherheitslöcher im System, für das sie arbeitet. Toby wird selbst durch den Tod eines Freundes nicht geläutert werden, und Kendra wird in ihrer Opferrolle gefangen bleiben. Das ist insgesamt ziemlich ernüchternd. Doch die Art, wie Beukes uns diese zynische Welt vor Augen führt, ist erstaunlicherweise auch irgendwie erfrischend – nicht wie ein spritziger Softdrink der Marke Ghost, sondern vielmehr wie ein Eimer eiskaltes Wasser mitten ins Gesicht.

Die zugrundeliegende Erkenntnis, wie flexibel und widerstandsfähig die Tentakeln des Systems tatsächlich sind, trifft absolut den Nerv der Zeit. Einige wie nebenbei in den Roman eingestreute Anekdoten und Szenen kommen einem dann auch auf beklemmende Art vertraut vor: Da ist zum Beispiel die Rede vom „perversen Subvertising“ der Firma Levi’s, die aus einer gehackten Werbefassade gleich eine neue Marketing-Kampagne entwirft, indem sie einen Wettbewerb für Hacker ausruft und sich so die Gegenkultur flugs mit ins Boot holt. In einer weiteren eindrücklichen Passage bekommt das Wörtchen „Hacken“ nochmal eine ganz andere Bedeutung: Ein von Tendeka angeführtes Überfallkommando stürmt eine Vernissage, auf der auch Kendra ihre Fotografien ausstellt. Nach einigen Drohgebärden wird schließlich eine bizarre Audio-Tier-Installation mit traditionellen afrikanischen Macheten in Stücke, nun ja – gehackt. Das Blut der grotesken Laborzüchtung spritzt in alle Richtungen, und reflexartig zücken die Galeriebesucher ihre Handys, um das Spektakel mitzuschneiden. Erst, als die Künstlerin erbärmlich zu weinen beginnt, wird klar, dass es sich nicht um eine geplante Performance handelt. Dennoch wird weiter gefilmt; zu berauscht sind die Umstehenden vom Gewaltexzess. Später werden Kendras Fotografien durch den Sprühnebel aus Blut eine enorme Wertsteigerung erfahren, und Toby, der das Ganze selbstredend mit seinem BabyStrange aufgezeichnet hat, bekommt ein Angebot von MTV – das makabre i-Tüpfelchen auf dieser Szene.

Womit dann wohl die Frage nach der Aktualität von „Moxyland“ hinreichend beantwortet wäre. Auch wenn wir 2018 keine genmodifizierten Polizeihunde haben werden, keine Filterbaumwälder, und vermutlich (noch) keine Bio-Signatur-Stifte – die Zyklen der Vereinnahmung subversiver Akte durch das herrschende System und die resignierte Selbstironie gegenüber dem eigenen Sell-out sind bereits heute integraler Bestandteil unseres Lebens. Und käme die Polizei auf die Idee, Online-Entzug als Abmahnung zu verordnen, wäre diese Strafandrohung – zumindest bei einem Gros der „Digital Natives“ – vermutlich bereits heute ziemlich wirkungsvoll.

Lauren Beukes
Moxyland
übersetzt von: Mechthild Barth
Rowohlt
2015 · 368 Seiten · 9,99 Euro
ISBN:
978-3-499-25969-2

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