Eine Edit zum Verlieben
Ich muss sagen: zunächst war ich etwas irritiert von dem ersten Text der 70. Ausgabe der Edit: Geht es um einen Verbrecherring, eine faschistische Untergrundorganisation, ein Gesellschaftspanorama von Polen vor oder nach der Wende? Indizien für all diese möglichen Geschichten blitzen kurz auf, während Maciej Miłkowskis Protagonist von seiner Zeit bei einem Reisebüro/Tätowierstudio (das man damals noch nicht so nannte) erzählt. Von seinem Kollegen, der nur Glatze heißt und eine ebensolche besitzt und sich ständig mit anderen Glatzköpfen trifft. Die Geschichte braucht eine Weile, um zum springenden Punkt zu kommen, ist aber auch bis dahin durchaus unterhaltsam, hält gekonnt die Waage zwischen Beiläufigem und Anflügen von Verdichtung, von Brüchen, in denen plötzlich etwas viel Tieferliegendes aufgegriffen wird. Der Moment, in dem schließlich alle Elemente und Motive der Geschichte mehr oder weniger zusammenkommen, trifft einen unvorbereitet. Und auch an diesem Punkt der Geschichte, dem Turn, dem Fluchtpunkt, gelingt dem Autor eine existenzielle Beiläufigkeit, die der ganzen Szene eine Heftigkeit verleiht, die mich tief beeindruckt hat. Ein wirklich guter Text, der sich nie in seinem Erzählen festlegt und aus diesem Zug heraus ein großes literarisches Potential entwickelt. (Übersetzt wurde er aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann)
Ich erwache in der Muschelhilfe. Die Farben tosen, als seien sie Kommandos
der Bakterien mit sehr langem Schweif.
Die Sonne angestaut.
Und alle die mich lieben, rauen das Land zu Städten auf.
Wie die Sprache sich hier ganz neue Wege sucht und dennoch in vielen alten Verweisen steckt: Ron Winklers Gedicht „Pfad 39“ (aus dem bald erscheinenden neuen Gedichtband „Karten aus Gebieten“, aus dem hier einige Gedichte abgedruckt sind) haut mich vom Hocker, bei jeder neuen Zeile denk ich: krass, schon wieder so ein unhaltbarer Faszinationsschuss, wieder wird der Schild meiner eingespielten Erwartung von der scharfen Klinge der Sprache in Stücke geschnitten, gehackt. Ein Gedicht von dem ich nicht genug bekommen kann, das Türen aufstößt zu Räumen, in denen ein inspirierendes Dekor herrscht, ein wesentliches Licht scheint herein. Was ich hier finde – ich suche es in den andern fünf abgedruckten Gedichten und finde es nicht. Vielleicht bin ich zu vernarrt in dieses erste, vielleicht finde ich keinen direkten Zugang zu der Metaphorik der anderen Gedichte. Aber mir fallen hier und da auch schlicht überspannte Anachronismen und gewollte Hype-Entsprechungen auf. Eine zu kurz greifende Kritik, mit Sicherheit. Das erste Gedicht ersetzt mir eh einen ganzen Band. Dennoch finde ich, dass solche Zeilen z.B. nicht sein müssen:
und weine nurmehr twitterlich.
In Shenyang, was eine chinesische Millionenstadt ist, laufe ich über einen Marktplatz und merke, dass Gott vielleicht wirklich tot ist.
So geht Odyssee heute. Man findet sich ja eh nicht mehr zurecht. Wieso sollte man also noch Texte schreiben, in denen man sich zurechtfindet, solange sie Spaß machen und Verweise auf die wirklich wichtigen Dinge, die elementaren Erfahrungen, außerdem sexuelle Abenteuer und die Bewegungen und Fluchten des Daseins enthalten? Michel Decar geht mit uns auf eine Reise, einen Trip, der seine/n alterlose/n Ich-Erzähler/in diverse Male um den Globus, in verschiedene Seelenzustände, Jobs und Abgefucktheiten führt, haltlos, kopflos, zeitlos, absurd. Trends und Lächerlichkeiten, Hippes und Kitschiges werden wie Gewürze über das dahinfliegende Band des Erzählstroms gestreut und irgendwann wird einem klar, dass in „Manche Kontinente wären besser nie entdeckt worden, Europa zum Beispiel, mit Europa gab’s immer nur Ärger“ nicht etwa eine Lebensgeschichte geschildert wird, sondern die Geschichte einer globalen Rastlosigkeit, die sich zwischen den Nationen und Urlaubsorten abspielt, und in der viele kleine Formen von Heimat erschaffen und wieder vernichtet werden. Decars Text macht viel Spaß, aber immer wieder entpuppen sich seine schillernden Ausführungen kurz als Spiegel, die man vorgehalten bekommt, dann ist es wieder der absurde Sog der Reisen und Jobs und kurzen Epiphanien, der einen mit sich zieht. Ein sehr unterhaltsamer Text, mit einer ambivalenten Botschaft. Aber: Liebe ist wichtiger als Europa. Da hat er Recht.
Was wollen mir eigentlich diese auf halbmast hängenden Augenlider sagen? Ich habe Garnelen da, lass sie uns braten. Kleine, vorportionierte Päckchen mit Knoblauchbutter sind dabei. Ich bin wie ein Hai, ich bin im Himmel, wenn ich am Boden bin. Ich bin wie ein Hai, ich kann dir das Beste geben.
Christina Hansens Monolog „Wie 1 Hai“ bekommt sehr schnell eine ungeheure Dynamik, einen fetzende Kraft. Ungeheuerlich, geradezu. Spaß macht dieser Text, sehr gut geschrieben ist er, ein Spiel mit den Erwartungen, mit der Form, mit dem Fisch. Mit der Brutalität und dem Absurden, dem Witz und der Entgleisung. Ja, das sind jetzt auch nur aneinandergereihte Worte, die verheißen sollen und ein paar von den Funken einfangen wollen, die dieser Text schlägt. Ich kann den Lesegenuss schwer besprechen, beschreiben, aber, wie gesagt: der Text macht Laune!
Michael Braunschweigs „Das Tsuchinoko“ ist eine hintersinnige Erzählung um ein Fabeltier und einen alten, pflegebedürftigen Vater, der bei dem Protagonisten und seiner Freundin wohnt und am Anfang das zentrale Element der Handlung ist, dann aber mehr und mehr einen passiven, dekorativen Status einnimmt. Diese Bewegung geht einher mit einer intensiveren Beschäftigung mit dem mysteriösen Tier, dem Tsuchinoko, das Kadaver von kleineren Tieren in seinem Nest im Gästezimmer (in dem einige Dinge der verstorbenen Mutter aufbewahrt werden) anhäuft, sie aber anscheinend nicht verzehrt. Inwieweit eines der Motive eine Metapher für einen Prozess oder einen anderen Gegenstand darstellt, erschließt sich mir nicht ganz. Die Ausführungen zum Tsuchinoko – und einige weitere interessante Einfälle – helfen einem aber unterhaltsam über diese Ungewissheit hinweg.
Der Bewusstseinsstrom in den Gedichten der chinesischen Lyrikerin Zhou Zan (übersetzt von Lea Schneider und Peiyao Chang) führt uns in das Peking der 90er Jahre. Es herrscht kapitalistische Aufbruchsstimmung, während die alten Versprechen der kommunistischen Ära noch als Geister von Flugblättern und Propaganda durch die Gassen wehen. Die Gedichte, Teil des Zyklus „herr zhang san fährt im minibus durch die stadt“, wenden sich immer wieder hinein, streben Reflexionen an und laufen dann durch die Spiegel, lassen sie zerbersten. In den Scherben spiegeln sich die Facetten einer Durchschnittswahrnehmung, eines Anspruchdenkens; einer Verortung, die auf ihre Hintergründe verweist. Hin und wieder hat man etwas Mühe mit der Lektüre, aber die immer wieder aufmerksam machende Sprache hält einen bei der Stange.
Ein weiteres schönes, kleines Highlight: Anna Haifischs Comic „The Writer“. Selbstironie und Melancholie, gut ausbalanciert, außerdem eine wunderbare graphische Umsetzung (geradezu süß – Verzeihung!), das Lächeln kann man sich danach nicht mehr aus dem Gesicht wischen. Und auch die abschließende Frage: Wovon wird mein armes Buch alles Zeuge sein?, sie gibt einem zu denken, wenn man sich all die Bücher an seinen eigenen Wänden in Erinnerung ruft.
Junge afroamerikanische Männer in den USA werden fünfmal so oft Opfer von Polizeigewalt wie junge weiße Männer. Ein einfacher statistischer Fakt aus dem Jahre 2016. In seinem 1953 verfassten Essay „Fremder im Dorf“ (aus dem Englischen von Pociao) schreibt der Schriftsteller James Baldwin:
„Hat der amerikanische Schwarze also seine Identität aufgrund der radikalen Entfremdung von seiner Vergangenheit erlangt, so nähren weiße Amerikaner nach wie vor die Illusion, sie könnten die europäische Unschuld wiedererlangen und zu einem Zustand zurückkehren, in dem Schwarze nicht existieren.“
Natürlich ist Europa mit seiner kolonialen Vergangenheit ebenso wenig unschuldig wie die an den Rassengrenzen zerklüftete Vergangenheit der Vereinigten Staaten. Aber die Diskrepanz zwischen der europäischen und der amerikanischen Situation wird Baldwin klar, als er mehrere Jahre hintereinander in ein abgelegenes Schweizer Alpendorf fährt. Das Fremde, das er hier für die Bevölkerung darstellt, resultiert nicht direkt aus einer Abneigung, einer Positionierung, wie sie fast jedem Amerikaner in der Rassenfrage eingeimpft wird, sondern schlicht aus einer Verwunderung, einem Nicht-Kennen. Das ist in Europa lange möglich gewesen, denn dort ließ man die Sklaven in Übersee arbeiten und die Waren gelangten in die Heimatländer, ohne dass ein Europäer dort der Ausbeutung ansichtig werden musste. Auch später war Afrika immer die ferne dritte Welt, der man mit Patenschaften oder Entwicklungshilfe vermeintlich unter die Arme griff, ohne dass man dabei Kontakt zu den Menschen haben musste. In den USA herrscht seit jeher eine andere Lage: hier sind die Afroamerikaner eine große Bevölkerungsschicht, die zu großen Teilen aus den Nachkommen von Sklaven besteht, die einmal ein fester Bestandteil der US-amerikanischen Zivilisation waren. Sie haben eine direkte Verbindung zur Geschichte des Landes und prägten diese auch auf vielfältige Weise mit, wenn diese Verdienste auch oft verleugnet oder assimiliert wurden.
Weiße Männer, das ist Baldwin klar, haben die Weltgeschichte geschrieben, ihre Gesellschaften bestimmen unser Weltbild. Doch die weiße Bevölkerung der Vereinigten Staaten, ja der Welt, kann auf Dauer nicht leugnen, was für andere Stimmen, Geschichtsversionen und Lebenswirklichkeiten in diesem Weltbild unterdrückt werden. Ebenso wenig kann sie leugnen, dass ihre Gefüge und Hierarchien (und ihre Vorurteile) immer noch, direkt oder indirekt, auf die Erhaltung der Vormachtstellung dieses Weltbildes ausgerichtet sind.
Es ist beeindruckend wie sich der Text, beginnend bei den Beschreibung der Erlebnisse in dem Schweizer Dorf, langsam aber sicher zu einer theoretisch-essayistischen Arbeit entwickelt, einer grundsätzlichen Auseinandersetzung, die ihren Gegenstand zwar nicht erschöpft oder gänzlich ausbreitet, aber viele Türen aufreißt. Ein sehr wichtiges Dokument, das auch fast 65 Jahre später entscheidende Denkanstöße liefert und Fragen aufwirft. Unangenehme Fragen, in einem sehr direkten Ton vorgetragen. Aber auch das ist eine Stärke von Baldwins Text: so sehr sich der Diskurs auch sensibilisiert haben mag, bei Baldwin haben die Ausführungen etwas Unverstelltes, Direktes, wo bei manchen zeitgenössischen Texten die Bewegung, die Agitation, in einem Korrektheitskrampf versandet. Dabei muss über vieles konkret nachgedacht werden. Wie kann man Privilegien aufbrechen? Wie wollen wir mit Unterschieden umgehen, egal ob beim Aussehen, der Meinung oder dem Glauben? Banale Fragen, deren Antworten aber sehr oft nicht zu Ende gedacht wurden (oder zu wenig in die Hintergründe der Frage eingebunden wurden) und die sich allzu schnell in einfachen Antworten entladen.
Kenah Cusanits „Partisanenhaus“ braucht eine Weile, um seine Bewegung zu manifestieren; der Text schlägt einen langen Bogen und beginnt im 18. Jahrhundert mit einem namenlosen Dorf an der schwarzen Elster, einem Fluss im Lausitzer Bergland. Hier arbeiten und ernähren sich Menschen auf die Weise, die die Umgebung her gibt und wie man es im 18. Jahrhundert in kleinen, dörflichen Gemeinschaften halt tut. Schon bald dann der Sprung ins 19. Jahrhundert, in dem sich ein Dorfbewohner absetzt, flieht, um ein eigenes, abgeschiedenes Haus zu errichten. Diese Enklave wird, sehr viel später, im Verlauf des 20. Jahrhunderts, für viele Nachfahren des Dorfes eine wichtige Rolle spielen.
Die Autorin versucht, uns in die Landschaft der Geschehnisse zu versetzen. Die Sprache geht den Mittelweg zwischen Kartographie und Schilderung, zwischen Dokumentation und Erzählung. So steht Eindrückliches neben Referiertem. Alles in allem ist ein beeindruckender Text, der seine sehr eigene Darstellungsweise schnell etabliert und den Leser, der immer wieder mit Resten von Ungewissheit konfrontiert wird, in seinen Bann schlägt.
Was für ein Text … Er will nicht weniger, als die Frage verhandeln: Welche Verantwortung, welche Risiken gehen mit dem Schreiben über persönliche Beziehungen einher? Wieso drängt sich einem als Autor dieses Thema so auf? Tobias Hülswitt schreibt über eine langjährige Beziehung, über die Erfahrung der Symbiose, die er mit diesem Menschen hatte. Über die gemeinsame Zeit, die darin liegende Innigkeit, erfüllend und gleichsam schmerzhaft und schließlich doch: vorbei. Es bleiben: Narben, an denen man sich selbst erkennt, Narben, die man in seine Lebenslinie einfügt. „Briefe“ ist aber auch ein Text, der sich mit dem Anspruch und den Möglichkeiten des literarischen Schreibens an sich auseinandersetzt. Was ist Material und was ist Erlebtes, bei dem wir es bewenden lassen sollten? Fast ohne, dass man es bemerkt, ist einem der Text sehr nah gekommen. Er enthält eine solch feine, menschliche Dimensionalitä̱t. Ich habe ihn sehr gern gelesen und einige der Fragen sind auf mich übergegangen. „Schreiben“, sagte der Dichter Joseph Brodsky, „ist eine Übung im Sterben. Man wird dabei nicht jünger und es ist ein einsames Geschäft.“
Unterhaltsamer Text, nette Idee. Das Kollektiv „0x0a“ hat in dem Text „Über mich selbst“ ca. 7000 Profile männlicher, heterosexueller Nutzer der Dating-Plattform Parship mit dem Chrome Web Scraper 0.2 zu einem Korpus zusammengesammelt und die einzelnen „ich bin“ Sätze durch Konjunktionen aneinandergereiht. Entstanden ist eine Textwurst, die einen tiefen Einblick in die bemühten Auswüchse der Selbstdarstellung gewährt. Nebenwirkung: Selbstdarstellungen erscheinen einem danach nur noch absurd.
Tja, was soll ich sagen. 1A. Eine richtig, richtig gute Ausgabe. So viele gute Texte habe ich noch nie auf einem Haufen vorgefunden. Und ganz egal, ob man Literaturzeitschriften liest oder nicht – diese Edit 70 sollte man im Regal haben, sie ist ein Highlight! Sollten eines schönen Tages alte Ausgaben von Literaturzeitschriften wie Comics gehandelt werden, dann wird diese Ausgabe einen besonderen Liebhaberwert besitzen, da bin ich mir sicher.
Beteiligte der 70. Ausgabe: Maciej Miłkowski, Ron Winkler, Michel Decar, Christina Hansen, Michael Braunschweig, Anna Haifisch, James Baldwin, Kenah Cusanit, Tobias Hülswitt, 0x0a. Bilder von Fine Bieler und Andy Hope 1930. Umschlag von Anna Haifisch.
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