Ein Fest der Hiebe und Stiche
Es gibt zu Sonetten, so beobachtete ich das bisher, immer zwei Fraktionen. Die einen, die selbst Sonette als Kunstform schätzen und weiterhin kultivieren möchten oder sich zumindest an ihr reiben. Die anderen, die damit nichts verbinden, nichts anfangen können, in ihnen allenfalls einen ewig-gestrigen Zeitvertreib sehen, eine Art „Hobbyfunkertum“. Ist „Hobby“ schon böse, weil es das Sonett in die Nähe des Kunsthandwerks rückt, ist es das „‑funkertum“ im Zeitalter des Smartphones erst recht. Es so zu sehen, sei jedem herzlich gegönnt. Allerdings muss man sich bei einer solchen Sichtweise dann evtl. nachsagen lassen, dass man die letzten 25 Jahre Entwicklung der deutsch-deutschen Poesie verschlafen hat.
1995, als die Sonette des Bändchens entstanden, mag die Beschäftigung mit der romanischen Strophenform vielleicht noch exotisch gewesen sein; heute, 2013, kommt am „tönenden“ sonetto, dem „kleinen Tonstück“, keiner vorbei. Auch anderswo werden Sonette geschrieben, man reibt sich seit Jahrzehnten auch z. B. in USA (David Lerner, s. a. Fixativ, an der 14-Zeilen-Form. Versmaß (oder nennen wir es gebundene Sprache) ist – wer jemals wirklich in die Materie eingetaucht ist – für alle Dichter immer (noch) Thema, ob nun freie Form oder nicht, und von Marion Poschmann über Lars Reyer bis Ann Cotten hat dieses Klanggedicht in jüngster Zeit Konjunktur. Auch in Steffen Popps kürzlich erschienenem Gedichtband Dickicht mit Reden und Augen geht es um die 14-zeilige Form, die immer wieder zu Spiel und Auseinandersetzung reizt. Deshalb erstaunt diese Geste umso mehr, mit Gernhardt und Schlegel im Gepäck oberflächlich abzuwinken. Wie offenkundig! Wie fad! Gernhardts ironischer Wurf Materialien zu einer Kritik der bekanntesten Gedichtform italienischen Ursprungs (1981) – ein spitzzüngiges, doppelsinniges Plädoyer für das Sonett – ist dabei sicher nicht die glücklichste Referenz. Mich wundert immer, dass jener schroffe Gestus des Abwinkens auf Versformen generell ohne weiteres durchgeht, wo es doch klar ist, dass kein Gedicht ohne Hebungen und Senkungen auskommt. Es scheint beinahe, als sei man im Geist bei der Parlandolyrik der 1970er-Jahre stehengeblieben, hätte man sich nicht auch in diesem Jahrzehnt an Sonetten gerieben. Seit am 22. August 1979 die FAZ ein »Anständiges Sonett« druckte, begann eine als antiquiert geltende Gedichtform wieder salonfähig zu werden (Klaus M. Rarisch). Eine der bekanntesten Auseinandersetzungen in der Folge ist z. B. das Taxidriver Sonett von Karl Riha.
Durch war in den 70ern übrigens nicht nur das Sonett, sondern Dichtung überhaupt – als bourgeoises Relikt. Nicht individuell Empfundenes niederschreiben als ein Lugen durch den Türspalt in eine bessere Welt, sondern die bessere Welt gleich selber in Angriff nehmen, umsetzen und ausleben, lautete die Devise. Doch das „obrigkeitlich verordnete Schweigen“ (Jayne-Ann Igel) hielt sich nicht lange, denn immer wird es, auch in einer Gesellschaft „nach der Revolution“, ein Sehnen nach dem Schönen, dem Ungelebten geben – sofern sich Dichtung überhaupt auf diese Türspaltguckerei hinüber nach Utopia einengen lässt. So kam die Dichtung in den 70ern zurück. Hilde Domin fing in ihrem Wozu Lyrik heute? damalige Strömungen ein, den Status Quo am Nullpunkt. Fluxus und Happening schufen sich ihre eigene Relevanz, deren Äquivalent sich inAlltags- und Umgangssprachefand – jenseits vom lippengeschürzten, gezierten, „hochtrabenden“ Sprechakt in gemeißelten Versen – und mit der nonchalanten Parlandodichtung der 70er und der Agitprop kamen Versformen wie Sonett und Ode ein wenig aus dem Takt und auch aus der Gesellschaftsfähigkeit. Selbst der Reim war in Verruf geraten und ist es unter manchen Lyrikern immer noch. Die Leidenschaft für Versformen war vor allem in der ehemaligen DDR immer dagewesen, gehörte gewissermaßen zum klandestinen Dichten hinzu, und in den 90ern schwappte dies auch auf den Westen über und schuf so bald eine Renaissance alter Versformen, begründete einen Trend.
Dass vor Ludwig Harigs humorigen Fußballsonetten noch etwas anderes existierte, was wirklich versucht hat, der Sache auf den Grund zu gehen, dass da wirklich mit Worten gekämpft wurde, streng in der Form, gleichzeitig diese Form aufbrechend, wissen nur wenige. Gerade dann,wenn Dichter sich unterDruck auf den Schutz der Sprache angewiesen fühlen, greifen sie zur Form: von Platen, Reimann, Haushofer,Pastior– daneben wirktParlando eher wie Schönwetterdichtung: (…) doch gibt es lebensschläge, todgewitter / die ich mit losen worten nicht vertreibe, / die brauchen strenge formen wie ein gitter, / daß ich sie anschau – aber übrigbleibe. (...), schreibt Gisela Kraft im Sonett Beckmesser (worauf Lothar Klünner voller Esprit mit dem Gedicht Backmessage kontert).
Umso unangenehmer ist deshalb, dass derlei (allzu bekannte) Ablehnungsreflexe bzgl. der gebundenen Form auch immer gleich so ein augenzwinkerndes Einverständnis mit dem Leser voraussetzen, als wäre man sich a priori längst einig, dass Sonette ein exaltiert-exorbitant-exzentrischer Firlefanz von Vorvorgestern seien. Da ist es offensichtlich, dass die Besprechung schon fertig geschrieben auf dem Papier steht, bevor man das Buch überhaupt in die Hand genommen hat. Zumal eben, und das ist der Witz, im Buch selbst das Für und Wider im Umgang mit Sonetten verhandelt wird! Hier das Eingangssonett von Lothar Klünner:
DEN SONETTISTEN
Wenn am Sonette noch so nette Zeitgenossen
wie Rarisch, Rühmkorf, Kraft und Klünner sitzen,
fragt, wer Gedichte liebt: Wem soll das nützen?
Ist das Kapitel nicht längst abgeschlossen?
Wie wahr! Doch narren uns noch stets die alten Possen:
der Dichter Stolz, die Eitelkeit der Schützen.
Mit vierzehn Reimen, vierzehn Geistesblitzen,
wird Weltanschauung in die Welt geschossen.
Die Welt! Wohl kaum! Kopflastig trifft der Pfeil
nichts Lebendes, schafft weder Lust noch Plagen.
Kein Orpheus nimmt an diesem Spiel mehr teil.
Sonette schreiben, wißt ihr, was das heißt?
Im Dorf der Schützenkönig kann’s euch sagen:
Ein Scheibenschießen! Mir geht’s auf den Geist.
12. März 1995
Huch!? Streitsonette? Hieb- und Stichfest? Tenzone? Coda? Was ist da los?
Ganz recht: Streitsonette! Ganz im Stil mittelalterlicher Hofsänger wurde hier ein Strauß ausgefochten, ganze 21 Sonette, die sich recht genau an ihre traditionelle Form halten. Ein Blick ins Haifischbecken hardcoredichtender Sonettsportler?
Dieses Buch hat mich sofort begeistert. Oder sagen wir: es hat mich sofort in seinen Bann gezogen. Denn es ist ein so ganz anderes Lese-Erlebnis. Dazu ein Buch, mit dem man nicht rechnet und dessen Inhalt von Seite zu Seite mehr fesselt. Als geneigter Leser, soviel möchte ich versprechen, nimmt man in jedem Fall etwas davon mit, was heute bei Büchern schon fast etwas Besonderes ist. Hier wird von gestandenen Troubadouren die ganze Sonettistenwelt gerockt.
„Harmlos begann es. HEL hatte eine Reihe von Abendveranstaltungen angekündigt, bei denen Sonette gelesen werden sollten. Klünner hielt Sonette zu lesen für anachronistisch und teilte das am 12. März 1995 HEL mit – ironischerweise in einem Sonett. Der schickte das an Klaus M. Rarisch, den reputierten Experten dieser poetischen Gattung. Rarisch antwortete mit dem Sonett vom 22. März. Damit war eine „Tenzone“ entfesselt, ein Wettstreit, wie ihn weiland die provençalischen trovadores an den Höfen der Renaissancefürsten auszufechten hatten. Nach und nach fielen immer mehr Stimmen ein …“
Dabei geht es um alles und durchgespielt wird die ganze Bandbreite der Sonettform: Ein verbaler Streit der Virtuosen, bei dem es so nett gar nicht zugeht und bei dem zwischendurch wirklich die Fetzen fliegen. Ich möchte fast sagen: großes Kino, zusammengerückt auf Quartette und Terzette, bei dem man vor Anspannung das Popcorn vergisst. Und stattdessen Sonette vom Blatt lutscht. Eben weil sich hier auf sehr angenehme Art und Weise das „E“ vom „U“ scheidet – und sich beides auch wieder verbindet.
Gleichzeitig ein neuer großer Wurf aus dem kleinen engagierten Reinecke & Voss Verlag, herausgegeben von Bertram Reinecke, dem Begründer des Fachverlags für Horizonterweiterung (Dirk Uwe Hansen), man könnte auch sagen: Nischenverlag für außergewöhnliche Entdeckungen. Es ist ein ganz außergewöhnliches Feuerwerk, das einen ein- und umfängt, zudem einzigartig. Gerade diesem Büchlein wünsche ich ganz viele Leser, die wie ich Feuer fangen. Und sich von der Tatsache nicht verunsichern lassen, dass es hier um (… so etwas Ödes? wie …) Sonette geht. Ein gedichtgefecht auf hoher warte, an tiefe fragen rührend, wann hat es das zuletzt gegeben? wir wissen von Meckel / Törnes freundschaftlichem versewechsel eine generation zuvor. Hier beversen sich wieder zwei dichter. Doch beiden geht es um angelpunkte, die welt in der waage zu halten oder zum klingeln zu bringen. Am ende wedelt die coda mit der kadenz, die fuge steht aus, schreibt Robert Wohlleben als Herausgeber zur Originalausgabe von 1996.
Es sind Texte, in denen es um etwas geht, was schon etwas Besonderes ist, wenn man all den Sonettsportlern landauf landab mal auf die Finger sieht, die sich im Immer-noch-Hype der fröhlichen „Sonetterei“ als großartige Artisten gerieren, aber mit ihrer Klapperkunst diese sehr alte Form auch ein wenig in Verruf bringen – ganz als könnte man sich als Purist der reinen Formerfüllung um Inhalte herumschreiben. Wohinter sich auch Mutlosigkeit zu eigenen Themen verbergen kann. Da bekommt es gelegentlich etwas Kunsthandwerkliches, ganz als könne sich das Sonett qua Sonettform gegen Kritik immunisieren.Es sind eben nicht nur 14 Verse in 4 Strophen mit je 5 Hebungen. Es ist mehr.
Klaus M. Rarisch:
DEN SONETTISTEN
Du bist Genosse einer netten Zeit,
die scheinbar nur auf tote Scheiben schießt
und den zum Schützenkönig sich erkiest,
der Blech betrommelt und der Glas zerschreit.
Statt Mut preist unsre Zeit Gemütlichkeit.
Sie zielt aufs Leben. Wenn sie Blut vergießt,
dann soll es Blut sein, das gemütlich fließt:
Poetenblut, am liebsten unverbleit.
Es spielt das Spielchen, bis er ausgeblutet,
Old Orpheus oder wie er heute heißt.
Gleichviel, ob er noch singt, ob er nur tutet –
die Witze, die er reißt, besitzen Geist.
Gleichviel, mit wem die Welt sich grad beschäftigt –
es gilt die Kraft nur, die sich selbst bekräftigt.
22. März 1995
Es geht ans Eingemachte. Es geht um die Form. Es geht überhaupt um die Tragfähigkeit von Form. Um die Wiedererkennbarkeit von Form. Und es geht darum, ob es schon Dichtung ist, wenn man die Form perfekt beherrscht. Jedes erdenkliche Argument kommt zur Sprache, alles in 14 Versen. Und die Variationsbreite ist groß, mal nimmt die Anzahl der Hebungen zur Mitte hin ab (von 6 auf 1) und wieder zu. Mal sind es pro Vers nur 2 oder gar nur 1 Hebung. Es geht gewaltig zur Sache. Die beiden Barden wollen pro Durchgang einen Stich machen.
Lothar Klünner:
DEM HALBTIER
Zwo-
mal
Mo-
ral?
So
zahl
to-
tal!
Barst? –
Irrst
schwer:
Sparst.
Birst
eh’r.
19. Mai 1995
Touché!
So epistelt und pistolt sich das Buch in 21 Streitsonetten, und es wird ein ums andere Mal klar, dass auch Einheber und Einreimsonette noch Aussagen ermöglichen; die Faszination dabei liegt darin, dass auch die kühnste Form‑Komplikation Tacheles redet und Inhalte offenbart.
Der Aufbau des Buches ist nicht streng chronologisch, sondern versucht in der Tenzone, der Kunst des Streitgesangs, zunächst nur den intellektuellen Disput dieser beiden Herren zu zeigen, die sich nach bestem Wissen mit den „Waffen“ ihrer Sonette ihre Argumente um die Ohren hauen. Mitte der Neunziger fanden sich zwei, die diese unterschiedlichen Positionen, die man zum Sonett einnehmen kann, aufeinander losließen. Ein Bashing auf höchstem Niveau, in das anschließend auch andere Dichter wie Hel usw. hineingezogen wurden. In dieser so genannten Coda werden auch Genderfragen behandelt, so in Gisela Krafts trochäischem Einreimsonett VOM TITTENTIEF: während du an deiner dänenschäre / deine lenden wälzt im kühlen meere / hängen meine titten noch ins leere /ohne dass ich ein sonett gebäre (…), worauf Lothar Klünner im Sonett ZUM HODENHOCH postwendend pariert mit Versen à la Wie sollten sie mich etwa nicht erregen, / der Titten Trauer und der Sehnsucht Qual?
Im Nachgang analysiert Rarisch anhand eines Beispiels, inwiefern doch für den wahren Sonettisten ein „perfekt“ aussehendes Sonett noch lange nicht perfekt sein muss. So ist doch auch die Form heutzutage wie immer schon als einengend empfunden worden; heutzutage ist jede Form auch gleichzeitig Anlass, quicklebendig und clever durchkreuzt zu werden. Auch 1995 wird hier allerlei Spiel getrieben, in einer Zeit, als die „trendige“ Renaissance des Sonetts noch nicht so wirklich erfolgt ist, wo Ann Cottens Fremdwörterbuchsonette noch nicht geschrieben, Marion Poschmanns Geistersehen noch in weiter Ferne lag und noch keiner etwas ahnte von Ludwig Harigs Fußball Sonetten.Dass damals abseits des großen Interessesdoch eine anregende Auseinandersetzung möglich war, zeigt der Band Hieb- und Stichfest. In der Coda warten weitere Leckerbissen, u. a. zwei Schüttelreimsonette, eines davon gar ein Oulipo-Sonett auf „o“, 1970 entstanden, von Lothar Klünner alias Leo Kettler, TOAST IM O-TON, deren erster (durchaus ernster) Vers Da lodernd Sonne troff vom groben Schoß im vierten die Ergänzung findetund vor den Mond sich Wolken schoben groß. Ein Gedicht, auf das Hel im Zuge dieser Tenzone reagiert.
Dem Hieb- und Stichfest wünsche ich ganz viele Leser, die sich von der Tatsache nicht verunsichern lassen, dass es hier ausschließlich um Sonette und deren gegenwärtige Situation geht, die sich in den vergangenen 18 Jahren auch nicht groß verändert hat. Nimmt man es einfach als einen Sängerwettstreit der besten Virtuosen, muss man von Metrik und Sonettform nicht wirklich viel verstehen. Ich bin ohnehin der Meinung, dass man – was die Rezeption von Sonetten angeht – sich vom leichten Auf und Ab der Jamben tragen lassen kann, ohne groß etwas davon verstehen zu müssen; dem Sonett liegt kein Geheimwissen zu Grunde, was ganz oft so kolportiert wird, ein wenig Leseerfahrung, vielleicht …
Insgesamt ein Buch, für dessen Delikatessen mancher Gourmet erst die Geschmacksnerven ausbilden muss, es aber dann umso mehr goutieren kann. Dann lassen sich Raffinesse und Kunstfertigkeit in der (traditionellen) Form wertschätzen. Die ja eben in dem Bändchen gar nicht so traditionell gehandhabt wird.
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