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Kritik

KRUSO

Lutz Seilers Buchpreis-Kandidat und erster Roman
Hamburg

KRUSO, der erste Roman des 1963 in Gera geborenen Lutz Seilers, hat es auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises geschafft. Bisher wurde der Schriftsteller in erster Linie als Lyriker wahrgenommen, obwohl er bereits 2007 den Bachmann-Preis für die Erzählung „Turksib“ erhielt. 2000 fand sein Lyrik-Band „pech&blende“ Anerkennung und für „Kruso“ wurde ihm soeben der Uwe-Johnson-Preis verliehen. Mit Ehrfurcht spricht man seit Kurzem von Lutz Seiler als von einem der nächsten Großen der deutschen Literatur. KRUSO löst dieses Versprechen bereits ein.

Der großformatige Roman beginnt im Sommer 1989 mit dem Aufbruch des Protagonisten Edgar Bendler aus Halle nach Hiddensee und endet in der Gegenwart mit einer Recherche Edgars, die ihn in die Gerichtsmedizin und die Archive der Polizei in Kopenhagen führt, wo er versucht, etwas über die Flüchtlinge, die die DDR über die Ostsee verließen, in Erfahrung zu bringen.

Die Recherche seiner Figur fällt mit Lutz Seilers eigener akribischen Recherche in eins. Im Sommer 1989 arbeitete Lutz Seiler wie seine Figur als Abwäscher in der Gaststätte „Zum Klausner“ auf dem Dornbusch auf Hiddensee. Die genauen Ortskenntnisse, die in den Roman einfließen, werden ergänzt von Seilers eigener Recherche zur Fluchtbewegung über die Ostsee. Das ist deshalb erwähnenswert, weil man während der Lektüre das Gefühl hat, neben der Fiktion ein wichtiges Stück Geschichtsaufzeichnung in Händen zu halten. Das präzise Festhalten an realen Gegebenheiten ermöglicht wiederum den eigensinnigen und poetischen Zugriff auf den Stoff, der mit Elementen der Verfremdung und zarter poetischer Überhöhung die realen Bestände in ein dichtes literarisches Gewebe überführt.

Mit dem Tod seiner Freundin G. verlässt der 24-jährige Literaturstudent Edgar Bendler, genannt Ed, Halle, um nach Hiddensee zu reisen. Auf der Suche nach einem Quartier schläft Ed in einer Höhle am Strand, als er zum ersten Mal den Namen „Kruso“ vernimmt. Zufällig findet er das Gasthaus „Zum Klausner“ auf dem Dornbusch, wo er schließlich auf den sagenumwobenen Kruso trifft.

Alexander Krusowitsch, auf der Insel Hiddensee aufgewachsen, aber Sohn eines Generals bei den Sowjets, auch Kruso oder Losch genannt, ist der Führer der Saisonarbeiter der Gaststätte „Zum Klausner“. Die um ihn Versammelten, Esskaas genannt, eine Abkürzung für Saisonarbeiter, sind „Schiffbrüchige“, Verlorene und Gescheiterte, die sich auf Hiddensee geflüchtet haben, eine Insel, auf der es möglich ist, „das Land (zu) verlassen, ohne die Grenzen zu überschreiten.“. Wie die auf ihr Zuflucht Findenden, hat auch die Insel selbst eine Außenseiterposition in der Geografie der DDR. Viele hegen den Gedanken an die Freiheit, die von hier aus mit Dänemark am Horizont aufscheint. Doch Kruso hält Wacht, dass niemand über die Ostsee nach Dänemark zu fliehen wagt, nicht nur, weil seine Schwester Sonja, als er ein Junge war, nach dem Hinausschwimmen auf der Ostsee verschwunden ist, während er sich, wie von ihr befohlen, am Strand nicht vom Fleck rührte. Sonja blieb verschwunden, vielleicht aufgegriffen von einem Patrouillenboot, vielleicht verheddert in einer Schiffsschraube, vielleicht ertrunken.

An der Außengrenze eines Systems schafft Kruso für seine zwölf Esskaas einen eigenen Raum von Freiheit, die „Freie Republik Hiddensee“. Seine Utopie lautet, jeden Schiffbrüchigen innerhalb von drei Nächten zur Freiheit zu führen. Das Personal des Klausners ähnelt einer Geheimgesellschaft. „Der Keim der wahren Freiheit, Ed, gedeiht in Unfreiheit.“, erklärt Kruso. Als charismatischer Führer der Esskaas erinnert Kruso an den Dichter Stefan George, der mit dem George-Kreis eine ähnliche Anhängerschaft mit quasireligiösen Riten und männerbündischen Aufnahmeprozederen bildete, wie Kruso sie im Klausner um sich versammelt.

Von Kruso wird Ed schließlich an einem Initiationsabend, auch „Vergabeabend“ genannt und an ein magisches Ritual erinnernd, in den Bund der Esskaas aufgenommen. Eine eigenartige Suppe wird hierzu gegessen. Auch werden die Schlafplätze auf der Insel bestimmt. Ed kommt sogar in der Gaststätte selbst unter, wo er als Abwäscher zu arbeiten beginnt - in dem Zimmer seines verschwundenen Vorgängers Speiche.

Zwischen Ed und Kruso entwickelt sich eine eigenartig, zärtliche Freundschaft. Sie sind einander liebende Gefährten, die eine intime Verbundenheit hegen, wie sie Geschwister haben. Beide leiden sie unter dem Verlust einer Frau, der sie, wie auch die Hingabe an die Gedichte, verbindet. Die Gedichte verhelfen Ed zum Überleben. Sein Auswendigbestand an Gedichten, vor allem Trakls, ist groß. Der als empfänglich, mit „Fühligkeit“ versehen und leicht erregbar beschriebene Ed, der lieber flüstert als laut spricht, ist Krusos (Crusoes) Freitag.

Ed lernt die Gesetze der Saisonarbeit kennen und findet in diesem Sommer im Klausner seinen Platz.

Als es Herbst wird, verlassen die Esskaas jedoch einer nach dem anderen Kruso und Hiddensee. Nur Ed bleibt bei ihm, achtet auf ihn und beschützt ihn. „Aufgrund irgendeiner monströsen Verzerrung bestand die Welt nur noch aus ihm und Kruso, den zwei beiden.“ Er hat Angst um den von allen Verlassenen, der Verrat empfinden musste. Mit Kruso zusammen übernimmt er von jetzt an alle im Klausner anfallenden Aufgaben, um die verbleibenden Gäste zu bedienen. Der Auswendigbestand seiner Gedichte neigt sich dem Ende zu und er spürt, dass nichts mehr werden wird, wie es in diesem Sommer war. Kruso dagegen spricht von den üblichen Veränderungen im Herbst und hält fest an der Hoffnung auf die Rückkehr der Abtrünnigen. Er trifft Vorbereitungen für die kommende Saison und spricht vom nächsten „Vergabeabend“, während er für den Herbst 1989 auf eine wichtige Spätsaison hofft. Traurig stimmen seine Hoffnung und seine resignative Rede von der „Täuschung der Warenwelt“ des Westens. Kruso hält fest an Hiddensee, wo in diesem Herbst niemand mehr hinkommt. Eds Sorge ist groß, als auch Kruso verschwindet. Er hält Wache, übernimmt das Kommando. Er stellt sich vor, alle anderen würden nur schlafen und er wäre nicht alleine in der Gaststätte. Seine Hand ist vom vielen Abwaschen ausgelaugt, er spürt fast nichts mehr. Sein Frühstück nimmt er immer noch an seinem eigenen Platz am Personaltisch ein, obwohl alle anderen Plätze inzwischen leer sind.

Als Kruso verletzt wieder auftaucht und Ed Hilfe bei der Inselärztin suchen will, ist diese ebenfalls verschwunden und ihre Praxis geplündert. Niemand ist mehr hier. Nur noch Ed hält, hilflos gemacht durch den Verrat der anderen, zu Kruso. Als Kruso abgeholt, das heißt von Sowjets aus seinem Klausner getragen wird, und Ed selbst nur noch die Krankenhaustasche hinterher trägt, erkennt er einen Panzerkreuzer am Horizont. An den Klausner hängt er ein Schild: „Wegen Personalausfall geschlossen.“ Ed hält die Stellung und sein Versprechen. Mit Verspätung begreift er, welche Veränderung um ihn herum vorging.

Stellt Krusos Geheimgesellschaft einen eigenen kleinen Staat im großen Staat dar, der ein bisschen ist wie die DDR, nur ohne Einschränkungen für seine Anhänger, wird auch das Scheitern des Kleinen im Scheitern des Großen deutlich. Auch Krusos Utopie kann niemanden halten, als der Weg von Hiddensee in den Westen frei und ihre Notwendigkeit plötzlich in Frage gestellt ist. Die Verbundenheit der „Schiffbrüchigen“ wird selbst brüchig, sobald sich das Netz um sie auflöst und sie in Freiheit entlässt. Ed stellt sich Kruso vor, „wie er die Netze der Fischer von Vitte entwirrte unter Wasser und den Fischen im Netz die Freiheit erklärte“ und findet hierin ein treffendes Bild für Krusos Utopie und die Bedingung für die Empfänglichkeit, die sie voraussetzt.

Im Epilog führt Lutz Seiler zu den historischen Tatsachen zurück. Seit 1961 versuchten etwa 5000 Flüchtlinge über die Ostsee ihr Entkommen zu finden. Die meisten von ihnen wurden auf der See festgenommen. 1000 schafften es. 174 lautet die Zahl der erfassten Todesopfer.

Die Sanftheit seines Erzählens und der gesamtlyrische Zugriff, das Erzählen vom Rand eines vielfach reproduzierten Genres aus, das diese beeindruckende Eigenheit ermöglicht, fasziniert bei der Lektüre von Lutz Seilers überwältigendem Debüt, das die Frage nach der Möglichkeit von Freiheit seziert. Es würde nicht verwundern und wäre ebenso verdient, wenn KRUSO den Deutschen Buchpreis erhielte.

Lutz Seiler
Kruso
Suhrkamp
2014 · 484 Seiten · 22,95 Euro
ISBN:
978-3-518-42447-6

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