Rätselhafte Bleistiftbegleiter
Es war vielleicht nicht einmal die erklärte Zielsetzung, wohl aber das Ergebnis dieser eindrucksvollen Zusammenarbeit zwischen einer Lyrikerin, zwei Übersetzern und einem Grafiker, die der Augsburger MaroVerlag soeben unter dem Titel “Kleine Satelliten” herausgebracht hat: nämlich Verbindungslinien zu finden zwischen verschiedenen Disziplinen künstlerischen Schaffens, kongeniale Erlebnisräume aufzutun und eine gleichberechtigt-respektvolle Durchdringung von semantischen und semiotischen Elementen zu erarbeiten.
Die 1980 in Berlin geborene und heute in Augsburg lebende Lyrikerin und Musikerin Lydia Daher ist schon länger künstlerisch mehrgleisig unterwegs zwischen Sprache, darstellender Kunst und Tönen. Ihre zahlreichen interdisziplinären Projekte legen ein gleichermaßen beredtes, bildnerisches wie klingendes Zeugnis davon ab. Dazu kontrastiert in diesem Fall der zehn Jahre ältere Zeichner Warren Craghead aus Virginia, der u.a. in Richmond und Austin studierte und dessen bildkünstlerischer Antrieb sich eigenem Bekunden nach seit seiner Kindheit kaum verändert habe: “Just for fun and in order to understand the world”. Als Übersetzer der Sprachwelten von Lydia Daher ins Englische fungierten ihre Kollegen Paul-Henri Campbell und Lukas Wahden.
Was sich in der eingangs skizzierten, sehr theoretischen Beschreibung wie ein abstraktes Mammutunterfangen anhört, entpuppt sich im Ergebnis als auffallend frisch und duftig gestaltetes kleines Kunstwerk, das in Form eines handgeschriebenen und faksimilierten Textbildbuches daherkommt, konsequent schwarzweiß mit Bleistiftzeichnungen, in welche die Gedichtzeilen und ihre jeweiligen Übersetzungen nicht nur eingebettet sind, sondern selbst bildgestalterische Aufgaben übernehmen. Aufmachung und Papierqualität sind edel und schlicht, und der Preis von 24 Euro geht angesichts der gebotenen und für viele Stunden des Blätterns und Entdeckens ausreichenden Materialfülle mehr als in Ordnung. Hilfreich für das reine Textverständnis ist ein beigefügter sechsseitiger Einleger aus leichtem Karton, der die poetischen Gebilde und ihre Übersetzungen in gedruckter Form enthält. Hierbei handelt es sich um lediglich fünf Gedichte, die bis auf das letzte nicht einmal besonders lang sind: “TENDENZEN”, das titelgebende “KLEINE SATELLITEN”, “ÜBERALL”, “NOTFALLPLAN” sowie das von Anfang an zweisprachig deutsch-englisch konzipierte “KOMM NÄHER/COME CLOSER”.
Als allen Texten gemeinsam fällt schon beim ersten Lesen ein leicht melancholischer Grundton und ein ineinander verwobenes Ich-Du-Wir auf, welches gleichsam nicht nur einen Dialog, sondern einen Trialog zu eröffnen scheint; das Wir hat seine ganz eigene Position, ist mehr als die bloße Summe aus Ich und Du, übt vielmehr eine Wechselwirkung auf sie aus. Fast erscheint dies als inhaltliche Parallele zum Projektkonzept, in dem Text und Grafik durch den Faktor Übersetzung einer Metamorphose unterliegen. Verstärkt wird dieser Umstand noch dadurch, dass es sich ja sogar um zwei Übersetzer handelt, die jeweils unterschiedliche Aspekte des deutschen Originaltextes herausarbeiten, was wiederum zu einer Erweiterung der möglichen Konnotationen bei LeserInnen bzw. BetrachterInnen führt. Ein schönes Beispiel ist die Übertragung des folgenden Satzes aus “TENDENZEN”:
“Seit Jahren feilst du an der Theorie des Trans.”
Aus dem Zusammenhang lässt sich nun nicht eindeutig auf die Bedeutung des Wortes “Trans” schließen. Ist es eine Substantivierung der lateinischen Vorsilbe oder der Genitiv von “Tran”? Hier wäre allenfalls durch die Betonung im gesprochenen Wort Klarheit zu bekommen. Entsprechend unterschiedlich fallen die Übersetzungen aus:
“For years now you’ve brooded over a theory of blubber.”
heißt es bei Campbell, wohingegen Wahden zu folgendem Ergebnis kommt:
“Years of honing your theory of trans.”
Und wie gestaltet Craghead diese Textstelle jeweils grafisch? Sie begegnet uns dreimal, Craghead hat im ersten Abschnitt des Buches zunächst die deutschen Originaltexte, im zweiten die Übersetzungen Campbells und im dritten diejenigen Wahdens verarbeitet. Die zeichnerischen Grundkomponenten ähneln sich zwar, der Satz “spielt” jeweils in einem Flur mit angedeuteten Türen, und rechts im Bild verschwinden Treppenstufen nach oben im Off. Beim deutschen Text und bei Campbell finden wir jedoch eine angedeutete Lache von Flüssigkeit auf dem Boden, was mit dem “Tran” im Sinne von “blubber” korrespondieren würde, bei Campbell scheint diese Flüssigkeit sogar mit einem Schwall über den Gang hereinzubrechen; bei Wahden finden sich hingegen Strahlen, im Hintergrund geht in einem Fenster gar eine Sonne auf, was dann entsprechend von der Bedeutung des “Trans” als “Jenseits” beeinflusst sein könnte. In Lydia Dahers Original sind die von Warren Craghead handgeschriebenen Buchstaben des Satzes zudem folgendermaßen angeordnet:
“SEITJAHREN / FEILSTDUAN / DERTHEORIE / DESTRA / NS.”
Die typisch deutsche Konnotation bei NS wird vom italienischen DESTRA (= rechts) noch zusätzlich verstärkt.
Das mag natürlich Zufall sein und ordnet sich auch nicht in einen semantisch erschließbaren Kontext ein, aber dieses Beispiel zeigt, wie vielschichtig sich über die Faktoren der Übersetzung und Bildgestaltung neue, zusätzliche Bedeutungs- und Wirkmöglichkeiten von Lyrik ergeben.
In allen Gedichten finden sich auch Zeilen, die - an Craghead gerichtet gelesen - auf hintergründige Art und Weise mit der Projektidee zu spielen scheinen:
“Einmal in einem Traum nicht weit von hier verschwand meine Sprache in Bildern.”
oder, ganz ironisch und gegen alle Wahrscheinlichkeit bei einem solchen Unterfangen:
“Ich möchte dich daran erinnern dass wir niemals verschiedener Meinung sind.”
Nirgendwo im Buch wird die gestaltete Schrift selbst so stark zum tragenden Bildinhalt wie bei der grafischen Umsetzung des zweisprachigen “KOMM NÄHER / COME CLOSER”. Es erscheint als reiner Text im Beiblatt weniger als ein zusammenhängendes Gedicht, eher wie eine lockere Fügung aus inhaltlich korrespondierenden Fragmenten, die jeweils in kurzen Passagen ins Englische übertragen werden. Daraus resultieren bei Craghead spannende Bilder, in denen die Buchstaben selbst zu Schwertern, Figurinen, Galaxien im All oder abstrakten semiotischen Haufen mutieren, ohne dass sonst noch allzu viel an Dazugezeichnetem auf den Blättern zu finden wäre. Der beinahe kindlich-selbstverständliche Umgang mit Ver- und vermeintlicher Ent-Rätselung ist dem Text wie den Zeichnungen stets immanent:
“Ein Bild sagt: Es gibt hier nichts was nicht vorher schon fehlte. An image speaks: There is nothing here that hasn’t been missing before.”
“Kleine Satelliten” ist ein ebenso herb-skurriles wie melancholisch-verspieltes Experiment mit den verschiedenen Ebenen von Bedeutungen und Zeichen, welches den Zugang zu einer individuellen Kunstauffassung auf ästhetisch gelungene Weise zu befördern versteht.
Kleine Satelliten –– LYDIA DAHER | WARREN CRAGHEAD III from MaroVerlag on Vimeo.
Fixpoetry 2016
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben