"Die Philosophie beginnt mit der Weigerung, Ansichtssache zu sein."
Lange hat mich kein philosophisches Buch so gefesselt. Nicht weil ich beim Lesen in einen Zustimmungsmodus verfallen wäre. Das ginge am Grund dieses Buches vollends vorbei, sondern weil es mich in meinen konstruktiven Fähigkeiten forderte, und weil es mir eins ums andere Mal die Collagehaftigkeit unserer Weltwahrnehmung und daraus unserer Weltkonstruktion vor Augen führte. Und vor allem, weil es dem widerspricht, was die akademische Wissenschaft von einem philosophischen Text verlangt. Vor allem Geschlossenheit.
Unter der Überschrift Ansichtssache formuliert Steinweg:
Die Philosophie beginnt mit der Weigerung, Ansichtssache zu sein. Zu ihr gehört die Überschreitung der reaktiven und oft reaktionären Partikularismen, der Meinungen und Interessen.
Inkonsistent sind Dinge oder Aussagen, die je für sich Wahrheit beanspruchen, sich aber widersprechen oder sogar ausschließen. Dieses sich Ausschließende zusammenzudenken mag eine der wichtigsten verbliebenen Aufgaben der Philosophie sein und es kann dabei nicht darum gehen, Realitäten und Begriffe in Deckung zu bringen, in dem man das Eine oder Andere beschneidet.
Das Überschreitende
Bedingung menschlicher Erkenntnis ist im Gegenteil die Fähigkeit des Denkens, sich selbst und den bereits konstruierten Objektbereich überschreiten zu können. Erkenntnis, auch theoretische, zielt auf Neues, Unbekanntes. Und was unbekannt ist, ist nicht vorwegzunehmen. Wir befinden uns also in einem Zustand permanenter Vagheit.
Würde Erkenntnis sich nur im bereits vorkonstruierten Objektbereich bewegen, ohne eine Umkonstruktion vorzunehmen, ohne dass der Objektbereich selbst Gegenstand der Reflexion würde, handelte es sich um eine einfache Doppelung des Vorhandenen und widerspräche dem Begriff des Denkens selbst.
Positiv wird sich hier auf die Hegelsche Bestimmung des Denkens in §22 der Enzyklopädie bezogen, dass "vermittelst der Veränderung, die wahre Natur des Gegenstandes zu Bewußtsein kommt.“ Denken wird gefasst als Tätigkeit, Arbeit. Und überhaupt ist es großartig zu verfolgen, wie Steinweg auf Hegel und die Dialektik rekurriert, ohne in eine Verfestigung des Denkens zu kippen. Er bewahrt ihr das Fluide, was sie unempfindlich für Merksätze macht. Er konfrontiert sie mit posthegelianischer vor allem französischer Erkenntnis des späten Zwanzigsten und frühen Einundzwanzigsten Jahrhunderts und gibt ihr damit die Abenteuerlichkeit zurück, die ihr von Grund auf anhaftete.
Schon die Reproduktion des vorhandenen Wissens verlangt, dass dieses selbst zum Gegenstand des Denkens wird. Durch diese Vergegenständlichung wird das Vorhandene modifiziert und stellt sich als Anderes, dem Vorgefundenen bereits Verschiedenes vor. Der Objektbereich stellt sich als Ensemble von Begriffen dar, der Prozess des Denkens oder theoretischen Erkennens, als identifizieren von Begriff und dem Nichtbegrifflichen, negativ dem Objektbereich aber angehörenden.
Die Form des Denkens als Identifikation verlangt die Modifikation der Begriffe, aber auch das Nichtbegriffliche wird in gewisser Weise modifiziert, dem Begriff angepasst. Das Moment der Differenz des Nichtbegriffenen am Begriff ist das Nichtidentische wie Adorno in seiner verschwisterten Theorie der Negativen Dialektik formuliert.
Der Begriff als Konstruiertes selbst aber verfügt in diesem Prozess auch über ein, die Summe des von ihm Gemeinten realen überschreitendes Moment, gleichsam als Pendant zum Nichtbegrifflichen, da sonst das oben angesprochene Nichtidentische am Identifizierten nicht denkbar wäre, da es deckungsgleich mit der Summe des zu Denkenden restlos im Begriffe aufginge, kein dem Begriff Verschiedenes mehr bildete. Als solches ist es auch ein Nichtidentisches am Begriffe selbst als Produkt der Denktätigkeit.
In Rekurs auf Nietzsche formuliert Steinweg:
Mit der Loskettung der Erde von der Sonne und dem Tod Gottes erfährt das Subjekt die Haltlosigkeit von Realität als Inkonsistenz seiner Welt.
Auch wenn Begriffsbildung zunächst wesentlich Abstraktion beinhaltet, erschöpft sich diese nicht darin, sondern geht über reine Abstraktion hinaus zu einem formierenden Charakter. Denkleistung als Abstraktion und Wiedererkennung ist die Denkleistung eines Schimpansen. Aber selbst der Schimpanse würde verhungern, wenn er nicht darüber hinausginge.
Ohne ein anderes worauf es zielte, was es auch selbst sein kann, indem es sich äußerlich, also Gegenstand wird, verlöre sich der Anlass des Denkens und es würde in diesem Sinne hohl, weder Erkenntnis noch Konstruktion. Es bliebe also auf der Ebene des bereits als möglich Erkannten und würde diese Ebene im Weiteren unterschreiten. Mithin wäre Denken bloße Verlaufsform, und würde sich selbst unterbinden. Bloße theoretische Reproduktion des zu Erkennenden wäre Abbildung/Widerspiegelung, mechanisch. Dieses Verfahren produziert "Reibungsverluste". Darin liegt die Unterschreitung des Objektbereiches, der Verlust an Wissen begründet (und auch die Unmöglichkeit von Archiv und Enzyklopädie im Sinne einer 1:1 Wiedergabe vorhandenen Wissens).
Das hier grob umrissene Überschreitende des Denkens sucht seinen Ausdruck in konkreten Denkprodukten. Utopie, als in diesem Sinne Ausdruck des Überschreitenden, lässt sich mithin darstellen als produktiver Umgang. Utopieverzicht hingegen als destruktive Selbstbeschränkung des Denkens.
Steinweg trägt vor allem in der Form seiner Philosophie dem dargestellten Inkonsistenzcharakter Rechnung. In kurzen Artikeln lässt er Gedanken aufkeimen und sich gegeneinander positionieren, ohne dass er sich der traditionellen Versuchung unterwürfe, ein konsistentes, widerspruchsfreies und damit ideologisches Weltbild zu entwerfen. Und hier ist er ganz bei Schestow, der im Vorwort zu Apotheose der Grundlosigkeit schreibt:
Sollte man sich aber nach Maßgabe des zunehmenden Misstrauens gegenüber aller Folgerichtigkeit und des Zweifels an der Tauglichkeit jeglicher Art von Allgemeinideen, nicht auch von einer Darlegungsform abwenden, die sich den bestehenden Vorurteilen am meisten angepasst hat?
Schestow und Steinweg machen das auf ihre je eigene Weise. Das ist spannend, fordernd und erhellend.
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