Anzeige
ostra-gehege Zeitschrift für Literatur und Kunst
x
ostra-gehege Zeitschrift für Literatur und Kunst
Kritik

Ein Wal und ein Möhrenfeld im Schwimmbad „Nautiland“.

Marine Blandin hat mit „Eine nautische Fabel“ eine skurrile und wunderbar vielschichtige graphic novel geschrieben
Hamburg

„Hallo, Matz“, sagt das kleine rothaarige Mädchen: „Wie geht es dir? Diese Woche gibt es Chantenay-Möhren! Das wird dir schmecken! Die beste aller Möhren für das beste aller Kaninchen.“ Aber Matz ist tot. Er liegt beerdigt auf einem Tierfriedhof. Und es ist einer der letzten Besuche des Mädchens an seinem Grab, denn sie wollen, wie sie ihrem Matz erzählt, den Friedhof einebnen und ein Schwimmbad darauf bauen. „Und wir, Matz? Was wird aus uns?“

Eine Seite später, in einem Sprung in die Zukunft, sehen wir dieses Schwimmbad: „Nautiland“. Es ist riesig, groß wie eine Stadt: Kilometerlange Rutschbahnen, meterhohe Wasserfälle, ein Wellenbecken, Dutzende Schwimmbassins, in denen man sich frei tummeln kann. Runde Becken, die in ungeahnte, nie erforschte Tiefen führen, eine ausufernde Vegetation, die sich hoch hinaufrankt, und labyrinthische Wege. Tausende von Menschen, die plantschen und springen und schwimmen. Sie spielen Wasserball und Wasserballett und geben sich ganz dem nassen Freizeitspaß hin.

Aus: Eine nautische Fabel, Carsen

Aber nicht alles ist so einfach und schön. Da ist die alte Frau, die immer wieder eine Möhre ins Wasser wirft, und Matz, der es sich zur persönlichen Aufgabe gemacht hat, die Alte dabei zu erwischen, abzuführen, irgendwo „unterzubringen“. Einmal hat sie ihm sogar erzählt, dass die Möhre für ihr Kaninchen ist, das so heißt wie er – aber das interessiert Matz überhaupt nicht. Er hat seine Aufgabe, aber die alte Frau entwischt ihm immer wieder, und in dem riesigen Urwald, der Teil von Nautiland ist, findet er sie nicht.

Marine Blandin (mit diesem für die Wassergeschichte so passenden Vornamen) erzählt diese rührende Geschichte der Anhänglichkeit in ihrer graphic novel „Eine nautische Fabel“. Warum der Verlag den Originaltitel, „Fables nautiques“, im Plural, nicht übernommen hat, wird ein ewiges Rätsel bleiben. Denn der ist richtiger: Es sind viele Geschichten, die Blandin erzählt. Denn es ist nicht nur die Obsession der alten Frau, die ihrem toten Kaninchen immer noch zu essen bringt, und die Obsession des Bademeisters, das zu verhindern.

Es gibt von Anfang an Risse in der Geschichte. Da ist der Apnoe-Taucher, der sich in das tiefe Loch wagt. Als er wieder auftaucht, ist er halbtot und völlig durchgedreht, denn er behauptet, er habe einen Wal gesehen. Da sind die drei alten Damen in ihrem privaten Jacuzzi-Becken, die sich vor allem dafür interessieren, ob jemand endlich dieses Schlüsselband vom Grund des Beckens hochgeholt hat. Und die unbedingt eine „neue und prickelnde Geschichte über Nautiland“ hören wollen. Da sind geisterhafte Wesen auf dem Grund eines Beckens – vielleicht die Geister der toten Tiere vom Friedhof. Und ein geheimnisvolles, riesiges, dunkles Wesen, das auch schon mal ertrinkende Kinder rettet.

Und dann kommt Gormone, die Starwasserballetteuse, mit einer Frage zu den drei Jacuzzi-Nymphetten, denn die „wissen alles über alles.“ Die Frage lautet: „Wie kommt man von hier fort?“ Die Nymphetten tun so, als wüssten sie, wo der Ausgang ist, aber dafür muss Gormone diesen mythischen Schlüssel vom Boden des Schachts holen. Und erzählen, was sie dabei erlebt. In der Nacht, als alle, eingemummelt in ihre Schlafsäcke, schlafen, wagt Gormone es. Springt in den Schacht, taucht und taucht, bis zu einem Gitter. Taucht weiter und weiter. Immer dunkler wird es, bis sie nur noch tasten kann. Und da, in einem Riss des Beckens, steckt der Schlüssel.

Es ist eine ganz und gar phantastische Geschichte, die Blandin in ihrer graphic novel erzählt. Denn Nautiland ist eine Welt für sich, dort hat man, wie die Nymphetten sagen, „Kost und Logis, müssen niemals arbeiten“. Ein utopisches Land, ein kleines Paradies für sich. Noch nie hat jemand gefragt, wie man das verlassen kann.

Passend zum Thema sind die Panels und Zeichnungen meist grünlich und bläulich. Sie werden bunt, wenn es um den Jux in diesem Spaßbad geht, manchmal bewegt und lebendig, wenn man vor lauter Armen beim Ballspielen das Wasser kaum noch sieht, bedrohlich dicht und eng, wenn die „Beinlinge“ wie die Lemminge plötzlich einen anderen Weg für ihre Wanderen als üblich einschlagen. Schwarzweiß sind die Träume und Erinnerungen ge(kenn)zeichnet. Und düster und dunkel wird es, wenn es in die Tiefe geht, wenn die Wellen über die Menschen hinwegrauschen, sie mitzureißen drohen, wenn sie sie gewalttätig wegspülen wie eine riesige Tsunamiwelle. Manchmal sind die Bilder hart angeschnitten, manchmal geben sie große Überblicke über das Gewimmel, manchmal zoomen sie ganz nah heran, sodass die Beine der Menschen, die um den geretteten Jungen stehen, riesig wie Baumstämme werden. Krumm und schief, flexibel und biegsam sehen die Menschen und Wesen aus, ganz passend zum wässrigen Thema, selbst wenn sie, wie die Bademeister, wie Herkulesse gebaut sind. Oder vielleicht sind sie auch nur verbogen.

Denn diese „Fabeln“ spielen auf vielen Ebenen gleichzeitig, mit Andeutungen und Assoziationen, Bildern und Symbolen, die aber nie ganz aufgelöst werden können – wie in jedem guten Buch. Was die „Beinlinge“ sind, wird beispielsweise nie richtig aufgeklärt, oder wie das rothaarige Mädchen es geschafft hat, ein ganzes Beet mit Möhren anzulegen und es nie jemand fand, welche Rolle der rettende „Wal“ spielt, der eigentlich kein Wal ist, sondern manchmal an Poseidon erinnert. Blandin breitet ein ganzes, eigenes Universum aus, eine Welt für sich. Und überlässt es dem Leser, sich seinen eigenen Reim darauf zu machen. Wie soll er dieses fabelhafte, fabelreiche Buch deuten? Philosophisch? Der Mensch auf dem Weg in die Freiheit? Aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit, wie Kant 1784 die Aufklärung definierte? Politisch? Psychologisch? Mythisch, als Kampf des Menschen gegen die Elemente (wie z.B. den Urwald)? Metamorphisch-literarisch? Für alle diese (und noch mehr) Ansätze gibt es Hinweise in diesem vielschichtigen Buch, das auf nur 140 Seiten so viele Geschichten erzählt, dass manch anderer Autor fünf Bücher gebraucht hätte.

Marine Blandin
Eine nautische Fabel
Lesealter ab 14 Jahre
Carlsen
2014 · 144 Seiten · 17,90 Euro
ISBN:
978-3-551-75753-1

Fixpoetry 2014
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.

Letzte Feuilleton-Beiträge