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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Verstörende Nachrichten über ein Leseland

Hamburg

Während der Jahrzehnte deutsch-deutscher Teilung flackerte immer wieder die Diskussion auf, wieviele deutsche Literaturen es gäbe. Und bezüglich der DDR-Literatur interessierte die Frage, wie Schriftsteller mit einer kulturpolitischen Situation zurechtkommen, in welcher es keine freie Presse sowie rigide Druckgenehmigungsverfahren gibt.

In der vorliegenden Publikation werden in sechs Beiträgen aus verschiedenen Perspektiven Versuche unternommen, die in der DDR entstandene Literatur zu charakterisieren. Diese Veröffentlichung stellt das Ergebnis eines wissenschaftlichen Kolloquiums dar, welches zu Ehren des 60. Geburtstages von Jürgen Fuchs (1950-1999) im November 2010 an der Friedrich-Schiller-Universität zu Jena abgehalten wurde.

Daniel Börner nimmt in seinem Vortrag „Jürgen Fuchs zum 60. – Ein Leben zwischen Anspruch und Wirklichkeit“ die Gelegenheit wahr, am Beispiel des kritischen Dichters Jürgen Fuchs Möglichkeiten und vor allem Grenzen im literarischen Leben der DDR, wie auch im staatsbürgerlichen Engagement aufzuzeigen. Jürgen Fuchs hatte in der DDR politische Ausgrenzung, Bespitzelung, Verhaftung und Gefängnis sowie eine erzwungene Abschiebung nach Westberlin erfahren.

Die Schriftstellerin Ines Geipel erweitert in ihrer Präsentation „Die Unerhörten“ den Rahmen und stellt einige DDR-Schriftsteller vor, die in ihrem Lande so gut wie keine Chance hatten, sich Gehör zu verschaffen.

Als ausgesprochen ergiebig präsentiert sich der Beitrag von Wolfgang Emmerich, der als Verfasser unter anderem des grundlegenden Werkes „Kleine Literaturgeschichte der DDR“ seine langjährigen Forschungsergebnisse bereits unter Beweis gestellt hat. Sein Referat „DDR-Literatur zwischen Anpassung und Widerspruch“ arbeitet einige neuralgischen Punkte heraus, die als spezifisches Kennzeichen von DDR-Literatur Geltung beanspruchen können. Emmerich belegt, daß auch jene DDR-Schriftsteller, die sich in direkter oder auch indirekter Abgrenzung zum Regime verhalten hatten, fast durchgängig den ideologischen Anspruch des Sozialismus beibehalten hatten, wenn auch in modifizierter Form. Kritische DDR-Schriftsteller waren in der Mehrzahl Anhänger eines „demokratischen Sozialismus“, wie er beispielsweise im Reformexperiment des sogenannten „Prager Frühlings“ unter der Führung des KPČ-Politikers Alexander Dubček im Jahr 1968 durchgeführt worden ist. Der Ausgangspunkt dieser politisch linksorientierten Ausrichtung liegt in den furchtbaren Jahren der Nazi-Diktatur. Mit der Errichtung der DDR sollte ein System geschaffen werden, welches derartige Zustände für alle Zeiten verhindern sollte. Schriftsteller wie etwa Stefan Heym oder Stephan Hermlin, die während der NS-Zeit Verfolgung und Exil erlebt hatten, fühlten sich in der jungen DDR gebraucht und zuhause. Autoren wie etwa Franz Fühmann oder Erich Loest, die im 3. Reich aktiv oder als Mitläufer agiert hatten, empfanden in ihrer Konversion zum Marxismus oft aufrichtig eine Art tätige Sühne, um an der neuen Zeit mitarbeiten zu können. Kritik an Zuständen im sozialistischen Deutschland hatte in dieser Konstellation keinen Platz. Bestenfalls wurden lediglich Mißstände oder gewisse Fehlentwicklungen bemängelt, eine grundsätzliche Distanz zum Regime war faktisch ausgeschlossen. Der von der DDR für sich in Anspruch genommene Antifaschismus barg eine unlösbare Dilemmasituation, die von Annette Simon einmal als eine „Loyalitätsfalle“ beschrieben wurde. Wer nicht vorbehaltlos für die DDR einstand, bewegte sich quasi automatisch im Dunstkreis nationalsozialistischen Denkens.

Eindringlich skizziert hier Emmerich einschlägige Entwicklungsverläufe: „Im Verlauf der 60er Jahre beginnt nun die vertrackte Verschränkung von `Anpassung´ und `Widerspruch´ in der DDR-Literatur“. Eine Entwicklung, die im November 1976 kulminierte, als zwölf DDR-Schriftsteller öffentlich gegen die Ausbürgerung des kritischen Liedermachers und Kommunisten Wolf Biermanns protestierten. Mehr als 150 Schriftsteller und Künstler hatten sich diesem Einspruch angeschlossen.

Erst widerständige wie auch widersprüchliche kulturelle Szenen wie etwa jene des Ostberliner Prenzlauer Berges hatten eine dezidiert politische Ausrichtung hinter sich gelassen.

Am Beispiel des Dichters Jürgen Fuchs arbeitet Udo Scheer in seinem Porträt „Jürgen Fuchs – Grenzgänger zwischen Ost und West“ dessen eminent politischen Einsatz heraus. Fuchs hatte sich, ausgehend von den Erfahrungen im Nationalsozialismus, geweigert, stumm und ergeben das Unrecht in der DDR hinzunehmen. Mit seiner poetischen Stimme wollte er die Dinge beim Namen nennen, ohne sich aus taktischen Gründen zu verbiegen. Genau an dieser Stelle setzt Ulla Fix mit ihrer Analyse „Widerständige Sprache in der Literatur der DDR am Beispiel Jürgen Fuchs“ ein. An etlichen Textbeispielen referiert die Linguistin die Sprachkraft von Jürgen Fuchs. Dabei ist besonders bemerkenswert, daß Ulla Fix den oft kritisierten Stasi-Aufarbeitungsroman „Magdalena“ von Jürgen Fuchs anhand von Kriterien des russischen Philosophen Michail Bachtin als ein gelungenes Beispiel von Mehrstimmigkeit anführt.

In seinem abschließenden Referat „DDR-Literatur – der Streit um ein ungeliebtes Erbe“ kommt Henning Pietzsch zum Ergebnis, daß es sich bei Diskussionen über die DDR-Literatur oft um akademische Konstrukte handelt, „denn die Literatur überdauert in der Regel die Zeiten, die über die jeweilige Gegenwart hinaus allgemeingültige Grundsätze des Lebens beschreibt“.

Martin Hermann (Hg.) · Henning Pietzsch (Hg.)
DDR-Literatur zwischen Anpassung und Widerspruch
Tagungsband zum Jürgen-Fuchs-Literaturseminar am 26. und 27. November 2010 in Jena / [Collegium Europaeum Jenense, Friedrich-Schiller-Universität Jena].
IKS Garamond
2011 · 148 Seiten · 17,90 Euro
ISBN:
978-3-941854-53-6

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