"Aber das wird zum Kniefall vor / dem Drang, Abkürzungen zu / finden"
Ich halte den bei Reinecke & Voß erschienenen Band in Händen und rätsle, was mir die Umschlaggestaltung sagen will – sollen das Meereswellen sein? Linien aus einem alten, analogen Seismographen? … Nebenbei nehme ich in den Anhängen zur Kenntnis, dass die beiden Herausgeber_innen, Matthias Friedrich und Slata Kozakova, Kinder der Neunziger sind, ihren "B.A." schon hinter sich haben und derzeit an ihrem jeweiligen "M.A." arbeiten … Woraufhin ich mich alt, alt, alt fühle, der Selbstverständlichkeit jener für mich noch immer exotischen Angaben zur akademischen Laufbahn wegen (wie staubig-pompös steht man denn da mit seinem "Mag.Phil."?), aber auch, weil mir zu diesem Anlass erstmals so richtig bewusst wird, dass es das inzwischen schon eine ganze Zeitlang gibt: …
… Herausgeber – nicht einfach Autoren, sondern Herausgeber, Mitverantwortliche für das Wachsen der Kanones! – die aus eigener Anschauung keine andere Welt als diese aktuelle hier kennen, in der die stacheldrahtbewehrten Mauern nicht zwischen sog. Freiheit und sog. Gleichheit, sondern ganz offen zwischen Arm und Reich gezogen sind; eine Welt, in der Figuren wie Francis Fukuyama und selbst noch Helmut Kohl als Propheten gelten dürfen! … Herausgeber, die es nicht mehr – wie anno Trümmerfrau bis Nine-Eleven eh fast alle Zuständigen tiutiscer Zunge – als Selbstverständlichkeit auf dem Schirm haben, dass es ein natürliches Bündnis zwischen ästhetischem und gesellschaftlichem Fortschritt gibt (welches Bündnis sich seitdem als unpraktisch und geschäftsschädigend herausstellte und folgerichtig entsorgt wurde) … Nostalgienostalgie … Wenn wir uns nun im konkreten Fall der vorliegenden kurzen Anthologie von Ostsee-Anrainer-Lyrik fragen, von welchen anderen Selbstverständlichkeiten die Herausgeber_innen ausgegangen sein können, finden wir uns mangels Vor- oder Nachwort auf den Klappentext und die Beiträge selber verwiesen – und vor ein Rätsel gestellt:
Das politische Thema sozialer und staatlicher Grenzen führt zu Fragen nach grenzen der Existenz, der Erkenntnis, der Sprache oder der Begrenztheit der Dinge. Bei der Auswahl wurde Gedichten, die Haltungen zur Wirklichkeit erproben, der Vorzug vor solchen gegeben, die explizit Anschluss an modernistische Verfahren suchen.
Der versuchte Anschluss an "modernistische Verfahren" wäre demzufolge keine "Haltung zur Wirklichkeit"? Oder wäre keine Pluralität von "haltungEN" möglich, wenn man sich "modernistischer Verfahren" bediene? Oder ist da v.a. gemeint, es hätte das bewusste Aufsuchen von Verfahrensweisen etwas Unlebendiges, Epigonales, und dem stünde "Haltung zur Wirklichkeit" gegenüber? Das können die nicht so meinen … und so und so auch nicht … (würde aber alles gut zu der Illustration passen, mit der auf der letzten Seite des Buches Werbung für die Zeitschrift "Risse" gemacht wird: Eine Guillotine mit der Aufschrift "egalité", und zwei gesichtslose Figuren, Mutter und Kind o.ä., entfernen sich von ihr) … Ahhh: Da steht noch etwas anderes auf der Umschlagseite, ein Zitat aus einem der Gedichte, und macht uns klar, wohin der nordische Schneehase läuft bzw. laufen will:
Mit der modernen Literatur
wollte er sich nicht befassen.
Er fand, ihre Worte hätten sich zu weit
von den Taten entfernt.
Die in "Einbildung eines eleganten Schiffbruchs" gesammelten und übersetzten Texte sind zum Glück durch die Bank nicht so doof. Selbst der eben zitierte Text, "Ithaka" von Malte Persson, grenzt sich von der anti-intellektuellen, anti-abstrakten, anti-historischen Attitüde jener vier Zeilen klar ab, indem er ihn noch um das entscheidende Stück weitertreibt, nämlich bis dorthin, wo wir erkennen dürfen, worauf diese Attitüde hinausläuft:
Wenn jemand ihn bat, zu erklären,
was er damit meinte,
zeigte er bloß auf das Schwert.
Bzw. eben "Wenn ich Kultur höre … entsichere ich meinen Browning!" (Hanns Johst, fälschlich Hermann Göring zugeschrieben). Insgesamt fällt auf, dass die Beiträge aller neun vertretenen Autor_innen jener zitierten Kürzestprogrammatik auf der dritten Umschlagseite zu widersprechen scheinen, laut der, s.o., die gemeinsame Tendenz der Texte vom Sozialen weg ins Allgemeinmenschliche (vulgo Metaphysische, dürfen wir denken – "Begrenztheit der Dinge" und so) führt. Das stimmt vielleicht für das hervorragende, multipel überformte und ja, vitalistische Langgedicht "Von A bis ✝" von Jonas Sandved Rudjord, dem übrigens der Titel entnommen ist – aber selbst hier hat es mit den anthropologischen Konstanten, auf die das Gebilde hinausläuft, eine Bewandtnis, die keinesfalls inkompatibel zu "modernistischen Verfahren" erscheint.
Asta Olivia Nordenhof liefert unbetitelten Beat, von dem ich weder sicher bin, ob ich ihn "social Beat" nennen soll, noch, ob es sich um einen Text handelt oder um zwei; wenn mich an ihrem ziemlich coolen, konfrontativen Singsang etwas stört, dann höchstens, dass ihr Text-Ich die politisch "richtige" Sprache (ein modernistisches Verfahren, oder?) ein wenig zu sehr verinnerlicht zu haben scheint … aber knallt schon.
Bei den Gedichten von Jussi Hyvärinen und Theis Ørntoft vermute ich, dass da etwas Wesentliches unübersetzbar geblieben sein muss (und vermute Sprachspiele mit veralteten Klischees der jeweiligen nationalen Identitätsdiskurse), und angesichts der Aphoristik von Vladimir Gorochov bekenne ich gerne, dass ich mit ihr nichts anzufangen weiß (was nichts notwendig Schlechtes über die Texte sagt). Die Texte von Marko Heikkinen und Anne Helene Guddal haben zwar ebenfalls aphoristische Wirkmechanismen, aber weisen weiter und sind, sorry, schlicht zu kurz, um mich mit dem notwendigen Wissen auszustatten, wie ich sie zu lesen habe.
Bleibt Igor Kotjuchs "Die Metaphysik beginnt am Freitag", ein (im engen Wortsinn) realistisches Zugfahrt-Gedicht, das, jawoll, Haltungen zur Wirklichkeit (Plural) erprobt, sehr greifbar Spaß macht, aber eben ohne die Anknüpfung "an modernistische Verfahren" (hier: unechtes Cut-Up) nicht funktionieren würde.
Der langen Rede kurzer Sinn: Eine lesenswerte Anthologie, bei der wir interessante Lyriker_innen kennenlernen dürfen, der es aber gut getan hätte, die Texte entweder ganz ohne Begleittext zu präsentieren oder ein wirklich ausführliches Nachwort zur Lyrik an der Ostsee bereitzustellen.
Beteiligte Autor_innen der Ausgabe: (Autor_innen deren Webseiten oder ähnliches wir im Netz gefunden haben, sind im Text verlinkt) Vladimir Gorochov, Helene Guddal, Marko Heikkinen, Jussi Hyvärinen, Igor Kotjuch, Asta Olivia Nordenhof, Theis Ørntoft, Malte Persson, Jonas Sandved Rudjord | Übersetzer_innen: Matthias Friedrich, Svenja Knoke, Marcel Knorn, Slata Kozakova, Tjorven Inken Pichner, Sabrina L. V. Scholz, Charlotte Wenke
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