Rumpelstilzchen im Atomkraftwerk
Matthias Nawrats kurzer Roman Unternehmer ist Parabel, Märchen, Dystopie, Coming-of-age-Roman: Eine aufregende Kombination, mit Sinn fürs Detail ausgearbeitet, die leider aber an manchen Stellen übers Ziel hinausschießt oder auch einfach nur anstrengend zu lesen ist.
Die Umschlagabbildung von Unternehmer ist bereits ein klug-doppeldeutiges Sinnbild für das Thema von Matthias Nawrat, der 1979 im polnischen Opole geboren wurde, Biologie und später am Bieler Literaturinstitut studierte und beim Wettlesen in Klagenfurt – wie passend für diesen Roman – mit dem Preis der Kärntner Elektrizitäts-Aktiengesellschaft ausgezeichnet wurde. Als Nicht-Muttersprachler erhielt er 2013 außerdem den Förderpreis zum renommierten Adelbert-von-Chamisso-Preis der Robert Bosch Stiftung.
Zu sehen sind zerfledderte Magnetspulen – genauso gut könnte es sich aber auch um Heuballen handeln, beides passt zum Setting dieser im ländlichen Schwarzwald verorteten Erzählung von Lipa, Berti und ihrem Vater, die als verschworene Gemeinschaft aufgelassene Fabriken nach Elektroschrott durchforsten, der gewinnbringend weiterverkauft werden kann.
Der Leser blickt auf das Geschehen durch die Augen der dreizehnjährigen Lipa, die ein Musterbeispiel für eine unzuverlässige Erzählerin ist, durchschaut sie doch nur ansatzweise, was um sie herum passiert; den Rest erklärt sie sich mit kindlich-naiven Verständnismustern. Noch dazu gehört es klar zu Matthias Nawrats erzählerischem Können, diese Geschichte mit gleich mehreren Ebenen geradezu fantastisch aufzuladen: Wald, Berge, die Fahrten zu den Fabriken, das alles hat den Geruch von Abenteuer und Märchen. Die Magnetspulen, nach denen Vater, Lipa und Berti auf der Jagd sind, sind durchweg „Herzen“, die Maschinen, aus denen sie diese entfernen, nahezu lebendige Ungeheuer, gegen die es zu bestehen gilt. Dem Vater, folgt man wiederum der Umschlagabbildung, fehlt nicht viel zum Rumpelstilzchen, das aus Stroh Gold spinnt.
Aber das ist noch nicht alles: Wie ungefähr nach dem ersten Drittel des Buches klar wird, scheint sich die kleine Welt von Lipa in einer Art postindustrieller Ruinenlandschaft zu befinden, ein mysteriöses Buch taucht auf, das von verstrahlten Gebieten und einer besseren Welt hinter den Bergen erzählt. Dazu passt auch, dass schließlich die gefährlichste Expedition von Lipa, Berti und ihrem Vater zu einem verlassenen Atomkraftwerk führt. Das Märchenland dieses Romans ist alles andere als ein Idyll, vielmehr ist es von unheimlichen Industrieruinen, Umweltverschmutzung und Radioaktivität verseucht.
Die Fülle an Details und Gattungsanspielungen macht Unternehmer zu einem sehr riskant konstruierten Roman, der unter diesem Ballast nicht selten einzustürzen droht. Freilich hat Matthias Nawrat ein klares Motiv für sein Vorgehen: Ihm ist mitnichten daran gelegen, eine Genre-Erzählung zu schreiben oder der Abenteuerlust zu frönen. Unternehmer ist, und das an vielen Stellen auf eine ganz unerhört grimmige Weise, eine Parabel auf die Geschäftswelt, tagtägliche Ausbeutung und erdrückende Arbeitsbedingungen. Fast perfide muss man da die Entscheidung nennen, diese Parabel am Beispiel einer vierköpfigen Familie zu erzählen: Die Kinder Lipa und Berti durchschauen ohnehin kaum die Zusammenhänge ihrer Existenz – und werden vom Vater darüber hinaus noch als kostenlose Arbeitskräfte ausgenutzt sowie mit dem Versprechen, bald nach Neuseeland auszuwandern, auf sein eisernes Unternehmerdenken eingeschworen. Das schmerzt fast, liest man von Lipas mehrfach geäußertem Wunsch nach „unternehmensfreier Zeit“, also Urlaub, der vom Vater, ganz kaltschnäuziger Chef, rüde abgetan wird, und von Bertis Bemühungen, doch auch einmal wie seine Schwester „Mitarbeiter des Monats“ zu werden. Die Mutter, im Ganzen eher blass bleibend, fällt gerade dadurch besonders auf, dass sie sich fügt und weitgehend gute Miene zum bösen Spiel macht.
Wenn ein neuer Auftrag lockt, ist für Berti „Spezialtag“, und Lipa übernimmt Geschäftsassistenz und Buchführung: Die Unternehmersprache, und wie sie von Lipa und Berti immer nur geradeso halb richtig imitiert wird, ist ein Stilmittel, das Matthias Nawrat wunderbar gewinnbringend einsetzt. Überhaupt strotzt dieser Roman vor aberwitzigen sprachlichen Einfällen und Wortschöpfungen, die man oft zwei- oder dreimal lesen muss – oder auch gar nicht versteht: Was hat es genau mit den „Maschinenherzen“ oder „Hall-Detektoren“ auf sich? Was ist ein „Robuster“? Ist das „Paradies“, in dem Lipa, Berti und Vater ihre Funde abliefern, jetzt eine Metapher oder schlicht ein farbig-schillernder Werbename für den örtlichen Schrottplatz?
Trotz der eigentlich sehr verlockenden Kürze dieses Romans, der sicherlich zu einem der außergewöhnlichsten in diesem Frühjahr gehört, kann man sehr viel Zeit mit Matthias Nawrats verschrobener Unternehmerfamilie verbringen. Sei es, weil man manche Szenen mehrmals lesen muss, um sie zu verstehen – das würde eher nicht für das Buch sprechen – oder sei es, weil einen diese Geschichte doch gehörig zum Nachdenken bringt – was man Matthias Nawrat, aller Kritik zum Trotz, klar zugutehalten muss.
Fixpoetry 2014
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben