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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

5.000 Zeichen Ambivalenz

Hamburg

Eigentlich will ich "100 Zeilen Haß" hier ja verreißen. …

Es wäre im einzelnen darzulegen, warum diese Kolumnen Maxim Billers aus den Neunzigern, plus die drei Nachträge von 2006 und 2010, als Sammlung sorgfältig editiert und herausgegeben bei Hoffmann und Campe, völlig unhaltbar sind; vor dem Hintergrund jeder denkbaren soziohistorischen Gemengelage unhaltbar, auch vor dem Hintergrund jeder denkbaren Geopolitik unhaltbar … das hieße konkret, in Hinblick auf die Neunziger: Unhaltbar auch vor dem Hintergrund eines "Schland" und einer Welt, dem und der kurzfristig selbst noch die Idee von Geschichte abhandengekommen war, mit allen den Schwindelgefühlen und Blähungen, die das so mit sich brachte … Unhaltbar also vor dem Hintergrund der Welt, die wir heute noch bewohnen dürfen, nichtwahr, bloß noch ohne die Sprache, diese Welt adäquat zu beschreiben (weil es nämlich noch kein Youtube gab und keinen Böhmermann, und die Produkte der Firma Apple noch zu selten und zu klobig waren, um ihren vollen Effekt auf Weltanschauung und Ideologie zu entfalten) …

Kolumnen also (um das jetzt nochmal zusammenzufassen), die auch unhaltbar bleiben, wenn man bedenkt, dass sie in den so begriffslosen Neunzigern entstanden sind: Unhaltbar nämlich, insofern sie einerseits dieses ressentimentgeladene, miefige Gruseldeutschland der (s.o.) begriffsblinden Neunziger zum Gegenstand haben, aber andererseits selbst nicht über ein ebenso begriffsblindes (weil habituell gewordenes) Gegen-Ressentiment hinauskönnen. Was mir da in Buchform vorliegt, ist eine Sammlung von vielen, vielen – und unterhaltsam zu beschauenden – Momenten, da ein Kaninchen eine Schlange anstarrt, und wir dürfen den Gedankenprozessen des hypnotisierten Kaninchens im Detail zusehen.

In dem Verriss, den ich gern schreiben würde, käme das Wort "Hofjude" vor. Das würde den Umstand beschreiben wollen, dass Biller innerhalb seiner Kolumnen den Antisemitismus der Deutschen zwar glasklar als das beschreibt, was er ist – unüberwunden, fortdauernd mörderisch, als zu sublimierender Kern den Machtritualen dieser Gesellschaft eingeschrieben –, dass aber diese Klarheit just wegen des Gegen-Ressentiments, des unmittelbarkeitssüchtigen Gestus, von dem seine Kolumnen nun mal (gut) leben, leicht vom unwilligen Leser beiseite gewischt werden kann. Wenn schon in Hans Ulrich Gumbrechts ansonsten sehr klugem Nachwort, das gerade in Hinblick auf die "Biller-Position" zur deutschen Geschichte auch deutlich Reflektierteres weiss, Billers Blick fürs Detail auf die folgende joviale Weise entschärft werden kann –

Der Holocaust, die barocke Pracht von Schuldzuweisungen und Bewältigungsübungen sei ihm "egal", sagt er immer wieder, und ich glaube ihm das. Es ging und geht Biller um das Leben – was erst mal schrecklich vage klingt.

– wieviel harmloser können sich dann die tatsächlichen Antisemiten in Billers (auch) großbürgerlichem Publikum die Lektüre ausgestalten? Überhaupt: Wenn ein Stoß wohlgesetzter, treffsicher zorniger Texte über die Unhaltbarkeit Deutschlands als Wille und Vorstellung Zustand kaum eine weltgeschichtliche Mikrosekunde nach ihrem unmittelbaren Auftauchen schon in beiges Leinen gebunden und der ZEIT-AbonnentInnenschar verkauft werden kann – was sagt das über die gesellschaftlichen Funktion dieses Zorns?

Allein: Ich schreibe hier keinen Verriß. Weil die Kolumnen nämlich trotz meiner Einwände geil sind. Hilft nichts. Dass sie, wie gesagt, den Ressentiment-Matsch ihrer Zeit mit wiederum Ressentiment angreifen, welches dann allerdings zum Ausdruck kommt in jeweils gekonnt verschraubten Redefiguren, Argumentationssubstraten und in erklärt polemischer Absicht gewählten Beispielen bzw. Bildausschnitten – geschenkt. Dass Biller Halt suchend herumrudert und dabei ziemlich viel Wind um zum Teil ziemlich kleine Phänomene macht - auch geschenkt. Selbst, dass da (weil: 90er…) Momente sind, auf die unsere zeitgenössischen Krieger "gegen die 'political correctness'" (also: für Väterrechte und Neger-sagen-dürfen) als Belegstellen ihres Ideals von "unverkrampfter Rede" zeigen werden, dabei verkennend, dass, was bei Biller tatsächlich unverkrampfter Ausdruck eines Soseins gewesen sein mag, bei ihnen zur verschwitz-verschmitzten Bubenfreude an der Übertretung verkommt – wiederum geschenkt.

"Hundert Zeilen Hass" geht als äußerst unterhaltsames Lesebuch durch, welches die vielen kleinen Veränderungen an der ideologischen Inneneinrichtung des Deutschseins zwischen 1989ff und ca. 2000 (wie gesagt, mit ein paar Nachträgen) im Einzelnen mitvollzieht, und zwar mitvollzieht als Erscheinungen im Bewusstsein von jemandem, der den richtigen Instinkt hat, diese Veränderungen meistenteils eklig zu finden. Dass ich so ein Buch verreißen wollte, muss ich dann als Sehnsucht nach "geordneten Verhältnissen" verbuchen, in denen nur schimpfen und fluchen dürfte, wer im Vollbesitz der Argumentationshoheit und der richtigen Argumente wäre. Das geht natürlich gar nicht. Fluchen darf auch z.B., wer sich grade an einem blöden Stein in der Landschaft den Zeh verstaucht hat. Oder an den deutschen Verhältnissen den Verstand.

Maxim Biller
100 ZEILEN HASS
Tempo · Hoffmann & Campe
2017 · 400 Seiten · 25,00 Euro
ISBN:
978-3-455-00110-5

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