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Kritik

Wo sonst ist Horizont

Michael Starcke, "Das Meer ist ein alter Bekannter, der warten kann"
Hamburg

Die Literaturgeschichte kennt den ein oder anderen schreibenden Arzneimittelspezialisten, so etwa Fontane oder, die neuere deutsche Lyrik betreffend, vor allem Trakl. Der Lyriker Michael Starcke war bis zu seiner Pensionierung als Apotheker in Bochum tätig. Vielleicht ist dieser Brotberuf ja der Grund, weshalb die Texte Starckes etwas Heilsames an sich zu haben scheinen, gerade so als handle es sich um individuell komponierte Elixiere, um sich gesund zu lesen. Und in der Tat sind ja Gedichte immer auch das, was das lesende Individuum aus ihnen macht.

Bereits beim ersten Durchblättern von “das meer ist ein alter bekannter, der warten kann” vermittelt sich der Eindruck, einen Lyrikband in der Hand zu halten, dem ein wohlkalkuliertes Gesamtkonzept zugrunde liegt, welches die Sinne anzusprechen versteht. Der Einband der schlicht und elegant gestalteten Klappenbroschur mit seiner weichgezeichneten bläulich-maritimen Fischefotografie verbindet sich organisch mit dem aquarellhaft ausgeführten Hintergrund der Textseiten, beides aus der Werkstatt des Freisinger Grafikers und Webdesigners Ümit Kuzoluk, den sich der Elif Verlag aus Nettetal am Niederrhein für dieses Projekt an Bord geholt hat. Die Freude über eine solch text-empathisch gestaltete Printpublikation stellt sich auch im Zeitalter neuer, rein aufs Digitale zugeschnittenen Lyrikdarreichungsformen immer wieder ein, so zukunftsweisend und spannend diese auch sein mögen.

Und was steckt nun drin in der schönen Hülle? Die scheinbare Monothematik – es geht tatsächlich in allen weit über sechzig Gedichten immer im engeren oder weiteren Sinne um das Meer – ist freilich nur die äußere und konsequent gewählte Klammer für eine lyrische Reflexion über Träume, Impressionen, Erinnerungen und Erkenntnisse.

Das Meer also ist der Ort, an den es den Dichter Michael Starcke immer wieder hinzieht:

“zurück am meer / ist dem überleben / der sehnsucht ähnlich, / die lebenslang bleibt.” (S.46).

Es ist kein südliches Meer, das hier aufgerufen wird, die Verse tragen unverkennbar die Herbheiten der Ostsee in sich, die wiederkehrenden und erwartbaren Motive wie Sand, Möwen, Leuchtturm, Schiff bilden den monochrom verwobenen Hintergrund für den eigentlichen Reichtum der Gedichte Starckes: mit wenigen fein dosierten Veränderungen auf der vorbereiteten Kulisse zu spielen, eine Atmosphäre der Melancholie zu erschaffen, die uns einhüllt wie ein selbsttragendes Kleid aus Worten, Schatten und Echos, etwas, das selbst zu leben scheint. Spätestens nach dem fünften Gedicht stellt sich das Gefühl ein, Salz auf der Zunge zu schmecken und das leise Knirschen von feinstem Sand auf der Kopfhaut zu spüren.

Überhaupt funktioniert diese Lyrik so ganz anders als die meisten zeitgenössischen Gedichte – es stellt kein Problem dar, sie unmittelbar nacheinander zu lesen, dabei freilich immer wieder zurückblätternd, um in einer zweiten Einlassung die Klippen oder Brücken zu erkunden, die zunächst verborgen geblieben sind: diese Sprache öffnet sich für die unmittelbare Rezeption wie nur wenige poetische Texte, die in diesen Zeiten geschrieben werden. Michael Starckes Verse sind das Ergebnis langer lyrischer Erfahrung, und die Leichtigkeit, mit der Worte und Begrifflichkeiten zueinander finden, sind ganz sicher das Ergebnis von großer Kunstfertigkeit: die Nahtstellen, die Verschraubungen, mögen sie auch da sein, bleiben unsichtbar.

Das geht so weit, dass bei einigen Texten die schon allein optisch prägnant herausstechenden ersten Zeilen der Strophen hintereinander gelesen so etwas wie ein kleines Gedicht innerhalb des eigentlichen Gedichtes bilden. Beispiel?

“wo sonst // magischer moment / zurück am meer / wo sonst hörte man / wo sonst wäre man / wo sonst ist horizont” (S.46).

Natürlich funktioniert das nicht überall, und es ist sicher auch nicht intendiert, aber es zeigt, wie sehr die gebundene Sprache Michael Starckes unvermuteten (vielleicht unterbewussten?) semantischen Wechselwirkungen unterworfen zu sein scheint.

Die Binnenstruktur der formal gänzlich freien Verse (es gibt weder Reim noch einen regelmäßigen Strophenbau) weist nicht selten eine wohlabgewogene innere Rhythmik auf. Inhaltlich folgt in der letzten Strophe oft eine überraschende Wendung oder mindestens eine entscheidende Veränderung des Blickwinkels, an der sich die Rezeption einerseits reibt, aber auch festmachen kann:

“den radfahrer, / der vorbeihuscht an uns, / schmückt eine weihnachtsmütze. / im sturzflug hat uns / der blick der möwe / schon vergessen. // auf der düne / überdauert braun / und grau das wintergras. // jemand, der ja sagt, / meint nein.” (S.27).

Die Melancholie als Grundzug wird mitunter von einer weiteren atmosphärischen Strömung flankiert. Auch ein leiser, immer freundlicher Humor wohnt einigen der Texte inne. Am Ende der Gedichte stehen nicht selten diese ironischen Zeilen, die das vorher Gesagte spielerisch entdramatisieren:

“manches habe ich gelesen / über das alter, / übers lieben und verlieren: / ein hieroglyphe auf meinem hemd, / ein blut-, / nein, ein rotweinfleck.” (S.25).

Diese Gedichte begreifen die menschliche Existenz als etwas auf Zeit Überlassenes, das sich letztlich vielleicht überhaupt seiner Aneignung entzieht:

“im spiegel / ein mensch, / sein erstaunen, / wenn er sich erblickt / und erkennt. // spiegel. / spiegel als hilfe / an einer unübersichtlichen / straße. / wir nähern uns / auf geliehenen rädern.” (S.30).

Vielleicht sprechen die finalen Verse Starckes auch nur von einer scheinbaren Resignation; erzählen in Wahrheit weniger vom Ende als vom Beginn einer Reise, von möglicher Wiederkehr:

“ob er, der stoisch aufrechte, / sich wie gemacht fühlt / für den stetigen wechsel / der zeiten, haupt-/ und nebensaison, // wenn die strandkörbe / weggekarrt werden / und leere gähnt, / als kehre keiner zurück, / während er, der baum vorm / haus, kein schaulustiger, / aber ein hochgewachsener traum, / den horizont fest im blick behält?” (S.73).

Mit dieser fast ein wenig trotzig anmutenden Frage endet der Gedichtband und damit leider auch unwiderruflich das literarische Schaffen von Michael Starcke, der im Februar diesen Jahres im Alter von nur 66 Jahren gestorben ist.

 

Michael Starcke
Das Meer ist ein alter Bekannter, der warten kann.
Elif Verlag
2016 · 76 Seiten · 13,95 Euro
ISBN:
978-3-9817509-2-8

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