Unverblümte Grausamkeit der Idylle
Nominiert für den Leipziger Buchpreis 2016 - Übersetzung
Der Titel des Romans „Eine Straße in Moskau“ von Michail Ossorgin (1878-1942) evoziert eine unpolitische Idylle, die als Kulisse menschlich-allzumenschlicher Irrungen und Wirrungen dient. In gewisser Weise trifft dieser Eindruck auch zu. Zugleich aber, und das macht das Besondere dieses Romans aus, belegen die geschilderten Figuren die ungeheure Wucht der gewaltsamen Totalität, die über das Russland des 20. Jahrhunderts hereingebrochen ist. Insofern könnte das Buch genauso gut mit der Überschrift „Vom Schicksal Russlands“ versehen sein.
Der Ausgangspunkt dieser ungeheuerlichen Entfaltung ist denkbar harmlos gestaltet. Iwan Alexandrowitsch, ein Professor der Ornithologie, sitzt in seinem Moskauer Arbeitszimmer und sinnt über die ihm noch verbleibende Lebenszeit nach. Er weiß, dass er nicht mehr allzu lange zu leben hat, und sorgt sich um seine junge Enkelin Tanjuscha. Sie studiert Musik bei Eduard Lwowitsch, einem etwas kauzigen Junggesellen, der sich regelmäßig im Hause zu einem Klavierabend einfindet. Die Stammgäste kennen sich, die Zeit scheint wie unter einem Glassturz erstarrt.
Es sollte freilich alles ganz anders kommen. Der gnadenlose Lauf der Zeit überzieht die dargestellten Lebensläufe unangekündigt und unbarmherzig zugleich. Der Erste Weltkrieg bricht herein und fordert auch von den einstigen Gästen des Klaviersalons seine Opfer. Schleichend fügt sich zur Idylle unverblümte Grausamkeit hinzu. Der blinde Kaschtanow gerät mit Stolnikow in einen makabren Streit über eine imaginäre Frau,
die der eine nicht sehen, der andere nicht umarmen konnte.
Stolnikow,
der ein gutaussehender und mutiger Offizier, ein guter Kamerad und passabler Tänzer gewesen war
verliert an der Front beide Arme und Beine.
Michail Ossorgin versteht es meisterhaft, die unterschiedlichen Charaktere darzustellen. Ein geschickt eingesetzter Wechsel der Perspektive ermöglicht es, dass eine längst vergangene Welt zu einer geradezu sinnlich erfahrbaren Wirklichkeit gerät. Die Abfolgen der geschilderten Erlebnisse sind authentisch dargestellt. Angereicherte Gedanken und Gefühle entfalten die Freuden des Lebens ebenso wie seine Dramatik.
In wechselnder Reihenfolge illustrieren die Schicksale der Freunde und Bekannten des Professors Iwan Alexandrowitsch den Wechsel der Zeiten. Dass die Oktoberrevolution stattgefunden hatte, verbreitete sich zunächst lediglich auf dem Wege von Gerüchten. Der Alltag ist schon schwer genug zu bewältigen, wen interessiert da schon eine weitere Revolution. Der Professor sieht sich Zug um Zug gezwungen, seine wertvolle Bibliothek zu verkaufen, um vor allem seiner Tanjuscha das bloße Überleben zu sichern. Es folgen Einquartierungen und Beschlagnahmen. Der Bürgerkrieg mit seinem unbarmherzigen Kampf zwischen den Roten und den Weißen, den Bolschewisten und den Antikommunisten, macht auch vor den stillen Straßen in Moskau keinen Halt. Das Unterste wird nach oben gekehrt und Nichtsnutze vom Schlage eines Andrej Koltschagin, dem Bruder des Hausmädchens Dunjascha, kommen unversehens an die Schalthebel von Macht.
Sawalischin, ein charakterloser Schwächling, erhält eine „Stellung mit Verantwortung“, wie seine Lebensgefährtin stolz berichtet. Ihr geht es bei ihm nicht schlecht. Eine größere Wohnung ist ebensowenig ein Problem wie die exzellente Versorgung mit Lebensmitteln. Swawalischins Arbeit, der er regelmäßig nachging, fand zumeist nachts statt. Eigenhändig hat er „Gesetzesbrecher“ im Keller seines Dienstgebäudes zu erschießen:
Die Vollzugsbefehle waren Sawalischin zuvor ausgehändigt worden, nach dieser Vorgabe empfing er seine Kundschaft, glich die Namen nicht ab, sondern arbeitete genau nach Stückzahl – nicht mehr und nicht weniger.
Alkohol, Schmutz und der Geruch nach Blut kennzeichnen das Wüten der selbsternannten Gesetzeshüter:
Wir müssen sehr wachsam sein, denn die Sowjetmacht ist von Feinden umgeben!
Dieser Roman legt Wurzeln frei und zeigt die Eigendynamik des Bolschewismus auf: Die russische Revolution war in Wirklichkeit ein Putsch gegen das eigene Volk.
Michail Ossorgin gehörte zu jener Personengruppe von Intellektuellen, Philosophen und Schriftstellern denen auf persönlichen Befehl Lenins bei Androhung drakonischer Strafen der weitere Aufenthalt in der Sowjetunion untersagt wurde. Die kollektive Ausweisung erfolgte im Herbst 1922 auf den sogenannten "Philosophenschiffen" über die Ostsee. Auf den Passagierlisten finden sich so bekannte Namen wie Sergej Bulgakow, Simon Frank oder Fedor Stepun.
Mit großer Sorge verfolgte Michail Ossorgin neben der politischen Devastierung seiner Heimat deren kulturelle Zerstörung. Die im Roman "Die Straße von Moskau" dargestellte Dramatik ist in ihrem Zustandekommen eindrucksvoll dargestellt und manches im heutigen Rußland läßt sich somit erklären. Ossorgin hätte es sich in seinen finstersten Albträumen nicht vorstellen können, dass auf den Straßen des heutigen Moskaus zuweilen wilde Biker-Rudel mit offen zur Schau gestellter Aggression auffahren, um mit Stalin im Gepäck die "traditionellen Werte" der orthodoxen Kirche und der "russischen Zivilisation" zu verteidigen - selbsternannte glühende Patrioten, mit dem amtierenden Präsidenten an der Spitze ihres Rudels.
„Eine Straße in Moskau“ von Michail Ossorgin stellt ein eindrucksvolles Opus dar. Die erzählerische Klarheit und eine feine Linienführung in der Beobachtung sind glänzend übersetzt. Ein kundiger Apparat mit Anmerkungen spricht für die umsichtige Präsentation dieser Veröffentlichung.
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