Zerrissen der Staat unter den sieben Burgen
Geben Sie den Namen „Bonchida“ in Ihre Suchmaschine ein, und Sie finden Vorher-und-Nachher-Bilder eines höchst eindrucksvollen Bauwerkes in der Siebenbürgischen Landschaft, 30km vom heute rumänischen Cluj-Napoca, d.i. Klausenburg bzw. Kolosvár. Die früheren Bilder zeigen neben den Wirtschaftsgebäuden des Gestüts ein Herrenhaus mit runden Türmen und einem neugotischem Bogen im flamboyanten Dornröschenstil an der Stirnseite, der aktuelle Aufnahmen dasselbe Gemäuer als Ruine, aus der Gestrüpp wuchert. Es gibt mittlerweile auch nagelneue Bilder von der teilweisen Wiederinstandsetzung des Märchenschlosses, wie es in der Barockzeit ein Vorfahr jenes Grafen Bánffy erbaut hat, dem wir den vorliegenden Roman verdanken.
Held des Gesellschaftspanoramas ist Bálint Abády, Mitglied des ungarischen Hochadels, Abgeordneter im königlich ungarischen Parlament in Budapest, siebenbürgischer Großgrundbesitzer und Pferdezüchter auf Gut Dénestornya.
Der Autor Miklós Bánffy entstammte denselben Kreisen, d.h. er stand der drittreichsten Familie Ungarns vor, vertrat Siebenbürgen ab 1901 im Parlament, 1906-1909 Präfekt und Zeitungsherausgeber des Komitats Klausenburg, wo er ein eindrucksvolles Stadtpalais bewohnte. Wie die idealistisch-liberale Romanfigur bemühte er sich mit mäßigem Erfolg, den Bauern die Gründung von Genossenschaften nahezubringen und die Korruption durch ungarische Beamte zu bekämpfen. Der ausgebildete Jurist und Maler war 1912-1918 Intendant der Budapester Oper und des ungarischen Nationaltheaters. Zu seinen Verdiensten gehört die Förderung des modernen Komponisten Béla Bartók. – Bánffy hat sich in Abády zwar kein Alter ego geschaffen, doch lebt sein auktoriales Erzählen von der Empathie für die Personen der Handlung. Ihr kennt ihren Charakter gut, seien es Damen von Stand, Herren in der Mitte ihres Lebens, Beamten der Gentry oder ungarische, jüdische und rumänische Untertanen. Den Eliten, denen er selbst entstammt und die er mit allem Gepränge, doch auch in ihrem lächerlichem Snobismus anschaulich schildert, wird in der Siebenbürgischen Trilogie dafür die Rechnung präsentiert, dass sie in den politisch entscheidenden Augenblicken nicht verstanden hätten, zu handeln. Vielmehr hätte ihre Rolle vor 1914 „aus lauter Versäumnissen“ bestanden: „Die Leute lasen die Auslandsnachrichten, als liefe vor ihnen ein noch nicht einmal besonders interessanter Film ab; als wäre alles eigentlich unwirklich, als spielte alles – wie auf der Leinwand im Kino – auf einer einzigen Ebene“. Ganze Parlamentsdebatten gibt Bánffy wieder, um das Unvermögen seiner Klasse zu demonstrieren, die sich in Rechthaberei verzettelt, anstatt die großen Zusammenhänge wahrzunehmen, so kleinlich bleibt sie in ihrem goldenen Käfig beschränkt.
Neben dem tragischen Scheitern der Hauptfigur, die ihre Position als Verpflichtung wahrnimmt, geht es um die Schicksale seiner Freunde, allesamt – schwer vorstellbar für uns Menschen des 21. Jahrhunderts – von ihrer Stellung im europäischen Adel abhängig. Nicht wenige scheitern im Leben, weil ihnen die Liebe mit nicht standesgemäßen Partnern verwehrt ist oder das Überschreiten von Regeln von der Gesellschaft, der sie privilegiertesterweise verpflichtet sind, mit Ausschluss geahndet wird. Da gibt es den künstlerisch veranlagten Freund Bálints, den musikalischen Cousin Lászlo, dessen Mutter aus ihren Kreisen verstoßen wurde und der sich letztlich in Selbstmitleid zu Tode säuft, unfähig, die Hilfe anzunehmen, die ihm mehrmals im Leben Frauen angedeihen lassen; bezeichnenderweise ist die rothaarige Tochter des jüdischen Dorfkrämers eine Retterin, die den verwahrlosten Säufer wie einen verwunschenen Prinzen behandelt – 1940 ein bewusstes Statement. Sympathisch ist auch der belesene Baron Gazsi, Bálints uriger Nachbar auf dem Gestüt, der an der Borniertheit der Gentry bis zum Selbstmord verzweifelt. Daneben werden etliche Haupt- und Nebenfiguren in glücklichen und unglücklichen Ehen, bei Duellen und am Spieltisch, im Grandhotel und auf der Jagd portraitiert. In Fontane'schem, kommentarlosen Realismus stellt Bánffy Menschen mit lächerlichen Lastern und solche, die sich selbstlos aufopfern, dar, als könnten sie nicht anders als sich gemäß ihrer angeborenen Standesnatur verhalten. Da gibt es den viel belächelten Frédi, dessen einziger Wunsch die Mitgliedschaft bei einem elitären englischen Club ist, die ihm, als Verwandter des britischen Königshauses, zusteht. Er sitzt dieses Recht im wahrsten Sinne des Wortes aus, indem er die Monate, die er in England verbringt, störrisch auf seinem Sessel im Club bleibt, ohne sich umzusehen noch mit jemandem ein Wort zu reden; wie sollte er auch, wo er nur Ungarisch spricht. Durch die Pferdezucht fühlt sich der ungarische Adel Siebenbürgens zwar den Engländern näher als den Österreichern, ist aber alles andere als weltoffen. Das zeigt Bánffy an einem anderen Grafen, der zurückgezogen auf seinem verfallenen Herrensitz lebt, um mit Hilfe von Landkarten und Büchern imaginäre Weltreisen zu unternehmen, während nebenan am Balkan schon das Vorspiel zum Weltkrieg angepfiffen wurde. – Es wirkt selbst erlebt, wenn Bánffy beschreibt, wie Abády die Bauern – was Nationalität oder Glaubensbekenntnis betrifft, macht er keinen Unterschied – in einer Aufklärungskampagne die Raiffeisen-Idee nahebringen möchte, damit sie selbstständig wirtschaften können. Doch man bringt wenig Geduld auf, dem Modernisierer zuzuhören, da die Herrschaft vor Ort zu einem Fest gerufen hat, auf das man sich lieber vorbereitet.
Bánffy schildert eine Reihe von Maskeraden, Streichen und Bällen, die für das Gesellschaftsleben der ungarischen Edelleute in Siebenbürgen bezeichnend sind. Unterschied sich doch das Leben der Adligen im waldig-bergigen Osten des Königreichs wesentlich von dem im Flachland, wie man es heute mit Ungarn verbindet. Vor den Budapestern fühlten sich die Siebenbürgener Ungarn allerdings als Hinterwäldler. Selbst der Held der Geschichte zögert lange – zu lange –, ob er für seine große Liebe Adrienne nicht zu „rau“ erscheint; worauf sie einen anderen heiratet und alle Beteiligten unglücklich werden. Selbst im dritten Band wird nicht alles gut. Im Gegenteil, er endet mit dem Abschied des Helden, der in den Ersten Weltkrieg aufbricht. Wie nun Bánffy, der Maler, die Landschaft beschreibt, kündet vom bevorstehenden Fanal der Geschichte und dem Untergang seiner Welt:
„Die Stadt und das Tal lagen schon im Schatten. Der Abend brach herein. Der Himmel flammte einzig im Westen. Lange Wolkenfetzen schwebten dahin. Aschfarbene Streifen mit glänzenden Fransen zierten den Horizont. Unter ihnen war alles Feuer, lauter Feuer. Die ganze Welt dort hinten war in Brand geraten. Der untere Rand des Himmels leuchtete blutrot. Flammende Tränen glühten zahllos, blendend, als weine das All über dem Meer von Blut. Träge, violette, dunkle Berge erhoben sich vor dem karmesinroten Himmel. Hart zeichneten sie sich ab, eng nebeneinander, ihre langen Körper lagerten in der Runde die Schneeberge von Gyalu, die Magura und zuhinterst, weit gestreckt, die Vlegyásza.
Lange Bergkämme mit Steilhängen. Riesige Särge, die Särge von Völkern. In ihrer unbeweglichen Majestät standen sie dort in der Reihe unter dem Weltenbrand. Das Auto fuhr vor. Bálint stieg von der Anhöhe herunter.“
In der Tat war, als Bánffy den Roman schrieb, nichts mehr so geblieben, wie es gewesen war. 1920 bestimmte der Vertrag von Trianon, dass der größte Teil des ungarischen Siebenbürgen Rumänien zugeschlagen werden sollte. Miklós Bánffy wurde 1921/22 in Budapest ungarischer Außenminister unter Horthy bzw. Bethlen, optierte allerdings 1926 für die rumänische Staatsbürgerschaft, um seinen Besitz zu erhalten. Zwischen 1934 und 1940 ist schließlich „Erélyi történet“, d.h. „Siebenbürger Geschichte“ im Sinne von „Begebenheit“, nicht „Historie“, wie der Übersetzer Andreas Oplatka im unentbehrlichen Nachwort erklärt, in drei Bänden in Ungarn erschienen. Eine Figur aus Ursula Ackrills Siebenbürgen-Roman „Zeiden, im Januar“ (2015) besucht 1935 das Schloss des Grafen, das man gegen ein Eintrittsgeld bestaunen kann: „Jetzt sollte das Gestüt selbst für seinen Unterhalt aufkommen, zumindest zum Teil, die Toren standen offen und die Besucher waren willkommen.“ Die Autorin dieser auf der vorjährigen Leipziger Buchmesse nominierten Siebenbürgen-Romans aus sächsischer Warte hat gut recherchiert, daher stimmt wohl die Meinung der Sachsen über die Ungarn, dass die ungarischen Großgüter und deren Erben „<...> sich auf nichts besser verstanden, als sich sagenhaft zu verschulden. Vor zweihundert Jahren noch wären ihre Leibeigenen dran gewesen und wenns hochkam immer wieder Sachsen, die einfach lebten und ihr verfügbares Einkommen aufsparten.“
Dem Faschismus folgte der Zweite Weltkrieg: Im Zweiten Wiener Schiedsspruch oder Wiener Diktat (Hitlers und Mussolinis durch Ribbentrop) im Schloss Belvedere wurde Nord-Siebenbürgen 1940 neuerlich ungarisch. 1943 verhandelte Bánffy in Bukarest, wo er Rumänen und Ungarn zum Verlassen der Achsenmächte zusammenbringen wollte, doch vergebens. 1944 marschierten sowjetische Truppen in Ungarn ein, Bánffys Familie floh nach Budapest. Schloss Bonchida wurde erst – aus Rache für Bánffys Geheimverhandlungen – von der SS gebrandschatzt, dann als sowjetische Besatzungskaserne in Mitleidenschaft gezogen, zuletzt rumänisches Staatseigentum. Endgültig und vollends enteignet, reiste Miklós Bánffy 1949 nach Ungarn aus, wo er 1950 starb. In der kommunistischen Zeit verschwiegen, erlebte sein Abgesang auf den Untergang des ungarischen Siebenbürgen nach der Wende eine erfolgreiche Wiederbelebung. Dieser Umstand verdankt sich einem erwähnenswerten Zufall: Im Marokko der 1970erjahre lernte der englische Publizist Patrick Thursfield auf einer Autofahrt die Exil-Ungarin Kathy Jelen kennen. Sie war in die Hauptstadt unterwegs, sich das Copyright an den Werken ihres Vaters zu sichern. Nachdem Thursfield dessen Lebensgeschichte gehört hatte, begeisterte er sich für ein gemeinsames Übersetzungsunternehmen der Siebenbürger Trilogie, die 1999 in England mit einem Vorwort des bekannten Reiseschriftstellers Patrick Leigh Fermor erschien, einem Kenner des Balkans während der Zwischenkriegszeit. Inzwischen war 1989 schon die erste von mehreren Auflagen des ungarischen Originals erschienen. Alle drei nach alttestamentarischen Menetekeln benannten Bände wurden auch ins Französische und Italienische übersetzt und liegen jetzt erst im traditionsreichen Wiener Zsolnay-Verlag auf Deutsch vor. Der ungarnstämmige NZZ-Publizist Andreas Oplatka hat das Unterfangen vorangetrieben und für seine Worterklärungen und historischen Zusammenfassungen kann man ihm nicht genug danken. Muten doch sowohl die Geschichte als auch die Orts- und Personennamen der Region, um die es in der Trilogie geht, durchaus exotisch an.
Der Stil ist mitreißend, doch sehr ungewohnt. Bánffy erzählt altmodisch wie im 19. Jahrhundert, was ihm den Beinahmen „Tolstoi Transsilvaniens“ einbrachte. Als hätte Hofmannsthal nie (1902) einen Lord Chandos erfunden... Sprachskepsis liegt Bánffys Erzählleidenschaft fern, er bedient sich mit größter Selbstverständlichkeit der Worte, das lässt sich selbst von der Übersetzung sagen. Wenn man bedenkt, dass der Autor sein Untergangsepos zur selben Zeit wie Joseph Roth den Abgesang auf die Donaumonarchie verfasste, wird einem bewusst, dass Welten dazwischen liegen. Ich erinnere an die von Roth mit großer Menschenkenntnis beschriebene Figur der Frau von Taussig, Geliebte des weit jüngeren Militärs Trotta im „Radetzkymarsch“ und vergleiche sie mit Bánffys Adrienne, Geliebte des Helden – ebenfalls in einer Ehe mit einem Mann gefangen, der in einer Anstalt lebt. Im hier vorgestellten letzten Band der Siebenbürgischen Trilogie schwelt die Unerreichbare weiter als erotische Verheißung. Das gibt im Roman einerseits den magyarischen Heißsporn, andererseits treibt Bánffys standesgemäß diskrete Züchtigkeit seltsame Blüten. Die begehrte Partnerschaft bleibt neuerlich nur gesellschaftlich, nicht sexuell unerfüllt. Hemmung führt hier zu Kitsch: Wie Adrienne nach der Vereinigung mit Bálint in einer Waldquelle badet, wird malerisch zum Ideal des Friedens verklärt:
„Es war ein Traumbild, die Vision antiker Sagen, die in der Wildnis badende Nymphe oder Artemis selber, die Göttin der Wälder. Sie streckte ihre Arme über dem schwarzen Helm der Haare aus, dann drehte sie sich langsam um. Allmählich stand sie nun schon im Strom, Schaumflocken strichen um ihr Kinn, und das Wasser legte sich über die Spitzen ihrer Brust und das Schattendreieck ihrer Fraulichkeit, als stünde sie unter einer Glasglocke. Die Flut, die an ihrer Schulter auseinanderspritzte, zerfiel in den dünnen Sonnenstrahlen in unzählige Diamanten. Und dann zeichnete sich in Hintergrund jäh ein Regenbogen ab, als hielte sie ihn mit ihren Händen in die Höhe.“
Durch die fremdartigen ungarischen Namen wirken die Geschehnisse wie hinter einem Märchenschleier. Schon als Bram Stoker den Dracula erfunden hat, galt Transsilvanien als suspekt hinterwäldlerisch. (Erst sollte die Steiermark das Musterbeispiel für rückständiges Hinter-den-sieben-Bergen abgeben...) Zusammen mit der Arroganz, die wir WesteuropäerInnen den durch kommunistische Abschottung ins Hintertreffen geratenen Regionen entgegenbringen, ergibt sich ein Weißer Fleck im Verständnis Europas. Nicht erst Produktionen wie „Borat“ und „Budapest Hotel“ machen sich das zunutze. Doch die Gegenden liegen in der Nachbarschaft und die Geschichte dieser Zerstückelung nicht lang zurück. Man sollte sich wieder in sie hineinversetzen, um – auch im aktuellen politischen Interesse – zu verstehen, wie Bánffys gescheiterter Held Bálint idealistisch formuliert: Die Grundlage einer Nation machen aus: Kraft, Selbstkritik und Eintracht.
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