Wohlkalkuliert und artifiziell, chaotisch und wechselvoll.
„Leontinetante, erzähl.“ Und sie erzählt. Sie erzählt von einer Bauerntochter, die sich in den einen verliebt, aber mit einem anderen verheiratet wird. Verschluckt sich an einer Speckschwarte, stirbt. Aber sie ist doch nicht tot. Und als Grabräuber sie nach der Beerdigung wieder ausgraben, spuckt sie plötzlich die Speckschwarte aus. Will wieder nach Hause, aber ihr Gatte, ihr Witwer eigentlich, und ihre Eltern denken, sie sei ein Geist. Erst ihr Geliebter nimmt sie auf, wärmt sie, gibt ihr zu essen. Sie erzählt von einem Mädchen, deren Vater will, dass sie die Ehre der Familie immer hochhält, und das Mädchen löst das Problem auf ihre Weise. Sie erzählt wahre Geschichten von früher und erfundene. Und viele hören ihr zu.
Mit den Worten „Leontinetante, erzähl“ beginnt ein erstaunlicher Debütroman der Rumäniendeutschen Ursula Ackrill. Sie erzählt von der wechselvollen, bitteren Geschichte der Siebenbürger Sachsen, die kaum jemals ihr Schicksal selbst bestimmen konnten, die hin- und hergeworfen wurden zwischen Ungarn, Österreichern und Rumänen. Aber jetzt haben sie die Chance, zu einer Gemeinschaft zu gehören, „die uns nicht als Fremdkörper bekämpft“: Es ist die Gemeinschaft aller „Volksdeutschen“ im deutschen Reich der Nationalsozialisten. Und jetzt können und wollen sie den Deutschen auch beweisen, dass sie zu ihnen gehören. Sie sind begeistert, melden sich zur SS, hoffen, dass sie vielleicht sogar der Leibstandarte zugeteilt werden. Als Rumänen dürfen sie nicht zur regulären deutschen Wehrmacht. Aber sie sollen eben als „Deutsche“ auch nicht in die rumänische Armee. Nur Leontine Philippi glaubt nicht, dass sich damit endlich, nach all den Jahrhunderten, alles zum Guten wendet. Sie ist die einzige im kleinen Städtchen Zeiden im Burzenland in den Karpaten, die sieht, wohin der Nationalsozialismus führen wird. Dass sich die Sachsen jetzt als Herrenmenschen fühlen und in deutschnationalen Uniformen auf den Straßen paradieren, hält sie für „defensiven Schwachsinn. Von der Schlagkraft aufgeregter Bienen. Stechen und draufgehen.“
Leontine ist die Hauptfigur der Geschichte, die vor allem am 21. Januar 1941 spielt, von 6 Uhr 45 bis 22 Uhr 59, mit Rückblicken ins Jahr 1905, 1930, 1935 und 1939. Es ist ein verschachtelter Roman mit vielen Geschichten, die sich kreuzen, überschneiden, überlagern und wieder trennen: Geschichten von Ioan, der einmal in Wien lebte und sich gern daran erinnert, heute muss er für die Nazis Möbel schleppen. Von Maria, Ioans Tochter, die bei Leontine in Zeiden als Hausmädchen arbeitet, aber auch bei dem jüdischen Händler Brick, der für die Nazis die beschlagnahmten Möbel der rumänischen Juden verkauft. Sie entpuppt sich als geschickte Händlerin des von den Juden gestohlenen Eigentums: Die „Dinge mästen sich einen Schein an unter ihren flinken Äuglein“. Bricks Sohn, der ermordet wird, zerschlagen und in den Rücken geschossen: „Er nuschelte, weil Blut in seinem Mund schneller zusammenquoll, als er schluckte. Sein Mund war wundgetreten, sein Auge eine dunkelblaue Falte, die aufsprang. Mit Krachen beugte und brachen sich ein paar Zähne aus seinem Kiefer heraus und blieben im Stoff ihres Kleides haften.“ Leontine warnt vergebens davor, dass die Nazis mit den Siebenbürgern und den Rumänen genauso umgehen werden, wie sie mit den Juden und den geistig Behinderten umgehen.
Ackrill beschreibt mosaikartig und eigenartig verschachtelt und auseinandergerissen diese chaotische und gefährliche Zeit. Ihr Roman setzt sich aus vielen disparaten Teilen zusammen: Da sind Leontines Diskussionen mit Freund Franz Herfurth, einem Arzt, bis die Politik sie auseinandertreibt. Da ist Edith, Apothekerin in Zeiden, mit ihrem geistig behinderten Angestellten Joseph, der unverblümt mit der Ermordung in einer der Euthanasieanstalten bedroht wird. Da ist der Flugzeugbauer und Pilot Albert Ziegler, der 1940 plötzlich verschwindet, ein Freund und Geliebter von Leontine. Da ist der „Volksgruppenführer“ Andreas Schmidt, der Arzt Fritz Klein, später KZ-Arzt in Auschwitz, und der Apotheker Victor Capesius, später Leiter der Apotheken in Dachau und Auschwitz – zwei historische Personen. Und dann versuchen auch noch die rumänischen, faschistischen „Legionäre“, den Diktator Ion Antonescu zu stürzen, weil er Hitler zwei Tage vorher versprochen hatte, sie unter Kontrolle zu halten oder ganz abzuschaffen, und sie berauben, foltern und ermorden dabei die Juden Bukarests.
Ackrill unterbricht ihre Erzählstränge immer wieder und vermischt sie mit politischen Exkursen, manchmal in den Dialogen der Personen, die dadurch aber schnell etwas Steifes bekommen, mit sentimentalen Rückblenden, mit historischen Einsprengseln. Meist bricht sie die kleinen Sequenzen abrupt ab und setzt irgendwo anders neu an. Das ist wohlkalkuliert und sehr artifiziell, aber diese Verweigerung einer stringenten Erzählung, die Andeutungen über die rumänische Geschichte und die Geschichte der Siebenbürger Sachsen macht das Lesen manchmal eher zu einem Ratespiel der Zusammenhänge, zumal vieles nicht erklärt wird und man oft genug zum Lexikon greifen muss, und man verliert oft den Faden. Warum das so sein muss, erschließt sich dabei nicht, denn dass es eine verwirrende und chaotische Zeit war, die man kaum nacherzählen kann, weiß man auch so.
Und noch eines kommt irritierend bis störend hinzu: Die oft phantasievolle, anspielungsreiche, assoziativ bildhafte, oft archaisierende Sprache: „Ihr Knochenmark lebt auf und ist einen Augenblick hart wie eine Perle, im nächsten Augenblick wie die Augen des Rennpferdes Syglavi Kapriola“. Häufig ist sie schwülstig und überfrachtet, eine von Ackrill erfundene Kunstsprache, manchmal auch umständlich: „Denn nicht einmal die Rückkehr der Königin von Saba von Salomons Bettstelle zum Tohuwabohu ihres Thronraums war bitterer, als dem zu entsagen, was einen sein lässt.“ An einer anderen Stelle schreibt sie: „Zwischen ihm und der Sonne häuft sich vaporisierende Materie und leert die Luft schleunigst von Photonen.“ Einmal heißt es: „Zornig schlüpfte Maria ihr Kleidchen über“, an einer anderen Stelle von Jugendlichen: „Viele hätten beim besten Willen nicht genug Substanz anhäufen können, um ihr Angewiesensein darauf nicht mehr als Versuchung, sondern Normalität anzusehen.“ Das ist dann doch oft zu dick aufgetragen und zu gewollt einfallsreich und ambitioniert. Schade.
Ursula Ackrill wurde 1974 im rumänischen Kronstadt geboren, studierte in Bukarest und lebt heute in Nottingham, wo sie als Bibliothekarin arbeitet. Ihr Buch wurde für den Leipziger Buchpreis nominiert.
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