Die Prozession der Individuen
Manche Schriftsteller nutzen das Unausweichliche und schreiben im Alter über das Altern. Etwa Philip Roth, oder auch Martin Walser, dessen letzte Arbeiten sich nahezu ausnahmslos mit den Gebrechen und Gelüsten alternder und älterer Männer befassen. Parallel dazu werden Tagebücher veröffentlicht und Nachlässe geregelt, was man zu Lebzeiten dann korrekterweise als „Vorlass“ bezeichnet. Dabei geht es vermutlich nicht allein darum, etwas Geld in die Pensionskasse zu spülen; die Arbeit an der eigenen Historisierung dürfte ebenfalls eine Rolle spielen. Offenbar sind nicht nur Politiker, sondern auch der eine oder der andere Schriftsteller darum bemüht, ihr Bild in der Geschichte mit Blick auf den ersehnten Nachruhm in die rechten Bahnen zu lenken. Auch der ebenso obligate wie unglaubwürdige Hinweis in sämtlichen Tagebucheditionen, die Originaltexte seien selbstverständlich unverändert veröffentlicht worden, ändert daran nichts.
Anders Milan Kundera, der bereits vor Jahren verkündete, seine erzählerische Kraft sei versiegt, und der sich seither auf das Schreiben kleinerer literatur- und kunsttheoretischer Reflexionen beschränkt. Gut zwanzig dieser häufig nicht mehr als zwei oder drei Druckseiten umfassenden Texte liegen nun in deutscher Übersetzung vor, wobei der Titel des französischen Originals – Une recontre (Gallimard 2009) – vom Hanser Verlag übernommen wurde. „Eine Begegnung“ trifft es auch recht genau: Das Buch ist eine, Kundera selbst weißt darauf hin, „Begegnung meiner Reflexionen mit meinen Erinnerungen; meiner alte (existentiellen und ästhetischen) Themen mit meinen alten Lieben (Rabelais, Janáček, Fellini, Malaparte ...)“. Was hat man sich darunter vorzustellen? Nehmen wir als Beispiel den Roman „Hundert Jahre Einsamkeit“ von Gabriel Garcĩa Márquez: Bei der neuerlichen Lektüre des Buches fällt Kundera auf, dass kaum einer der großen Romanhelden Kinder hat. Sowohl Don Quijote als auch die Protagonisten bei Stendhal, Proust und Balzac sind stets kinderlos; dasselbe gilt für Dostojewski, Kafka und Musil. Und selbst bei Thomas Mann, der bekanntlich sechs Kinder hatte, ist von Nachwuchs, abgesehen von der Familiensaga „Buddenbrooks“, eher selten die Rede. Warum ist das so? Der Roman, so Kunderas Antwort, ist mit der Neuzeit entstanden, die aus dem Menschen – so Heidegger – das „erste und eigentliche Subjectum“, den Allgrund gemacht habe. Erst mit ihm sei der Mensch als Individuum auf die Bühne Europas getreten. Wenn aber eine Geschichte über das Leben des Protagonisten hinaus weitergehe, dann bedeute dies, dass das Leben keine abgeschlossene Entität darstellt, sondern dass der Einzelne – in diesem Fall der Romanheld – mit seiner Nachwelt verschmilzt, mit seiner Familie, oder, das kriegerische Ende von Thomas Manns „Zauberberg“ lässt diese Deutung zu, mit der Nation. Die Idee vom Individuum, so Kundera, entpuppe sich daher als eine Illusion, die der europäische Roman zu vermeiden sucht. Nicht so in „Hundert Jahre Einsamkeit“: Im Mittelpunkt stehe hier nicht länger der Einzelne, sondern eine ganze „Prozession von Individuen“. Jeder von ihnen trage bereits sein künftiges Vergessensein mit sich und ist sich dessen bewusst; niemand bleibe von Anfang bis Ende auf der Bühne des Romans. „Ich habe den Eindruck, dass dieser Roman, der eine Apotheose der Kunst des Romans ist, zugleich ein Abschiedsgruß an die Ära des Romans ist“, so Kunderas Fazit. Interessant wäre freilich zu wissen, wie Kundera selbst, dessen große Romane (abgesehen von „Der Scherz“) allesamt nach „Hundert Jahre Einsamkeit“ entstanden sind, sein Werk in diesem Rahmen verorten würde; zumal die Familienplanung bei seinen Protagonisten ebenfalls keine Rolle spielt. Eine Antwort darauf bekommt der Leser leider nicht.
Die Lektüre dieser klugen literaturgeschichtlichen Miniaturen lohnt sich. Zumal man, wie gesagt, ein großes Alterswerk aus der Feder Kunderas nicht mehr erwarten darf. Auch mit der Veröffentlichung etwaiger autobiographischer Notizen kann wohl zu Lebzeiten nicht mehr gerechnet werden, was einerseits für ihn spricht, da damit die Beurteilung seines Werkes und seiner Person anderen überlassen bleibt. Andererseits wird man auf eine Stellungnahme zu dem schwerwiegenden Vorwurf, Kundera habe als Student antikommunistische Aktivitäten seiner Kommilitonen bei der Polizei diffamiert, vergeblich warten. Hier Licht ins Dunkle zu bringen, und damit eventuell auch das Werk Kunderas neu zu bewerten (nicht qualitativ, sondern was die Themen anbelangt), wird Aufgabe der Historiker und Literaturwissenschaftler sein. „Ich will Entscheidungen von Halbwüchsigen nicht mehr Vernunft zuschreiben, als ihnen zukommt“, schreibt Kundera an einer Stelle in „Die Begegnung“ mit Blick auf den italienischen Schriftsteller Malaparte. Womöglich hofft er, dass andere das bei ihm einmal ebenso sehen werden.
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