Unheilbares, grausames Heimweh
Natascha Wodin will es wissen, wer war die Mutter, war die Frau überhaupt ihre Mutter, wie die Mutter selbst zweifelte, ob dieses Kind ihres sei. Sie will wissen, was die Mutter meinte, wenn sie sagte: „Wenn du gesehen hättest, was ich gesehen habe.“ Das Kind Natascha betete: „Lass mich fühlen, was meine Mutter fühlt, nur einen Moment lang, damit ich sie verstehen kann.“ Das Gebet wurde nicht erhört. So sah sie die Mutter täglich weinen, sie musste sich für kleinste Vergehen schlagen lassen; die großen vollzog der Vater im Auftrag der Mutter, bis Blut floss. Und sie wollte gern mit der Mutter ins Wasser gehen, wie diese mehrfach ankündigte, froh darüber, dass die Mutter sie mitnehmen wollte: Wann gehen wir ins Wasser?, fragte sie die Mutter. Doch die Mutter ging allein in den Fluss.
Da war Natascha Wodin elf Jahre alt. Die einzige gute Erinnerung blieb das gemeinsame mehrstimmige Singen mit Mutter und Vater, deutsche und russische Lieder, der Gesang zog auch die Nachbarn an, denn die Wodins lebten in einem Lager für Displaced Persons. Was diese NS-Zwangsarbeiter, Zwangsverschleppten, ihre Familien und vor allem die Kinder nach Kriegsende erlebten, ist so literarisch noch nicht verarbeitet worden. Natascha Wodin ist Jahrgang 1945. Von Menschen dieses Jahrgangs weiß man, dass sie immer Hunger haben, auch später, als es endlich eigentlich genug gab. Wie diese Menschen sowohl von den Deutschen als auch von den Befreiern, in diesem Fall von den Amerikanern, behandelt wurden: im Stich gelassen, immer wieder aufgefordert, doch endlich dahin zurückzugehen, wo sie herkommen – in die Sowjetunion. Wenn sie sonst nicht wussten, wohin mit dem nach jahrelanger körperlicher Ausbeutung mühsam geretteten Leben, eines wussten sie genau, in die Sowjetunion konnten sie nicht. Dort galten sie als Kollaborateure, kamen in Gulags oder mussten sich jahrzehntelang verstecken. Und so litten sie alle an unheilbarem grausamem Heimweh, wie Wodins Mutter, die daran schon zerbrochen war, lange bevor sie ins Wasser ging.
© Privat +++ Das Bild zeigt Jewgenia Iwaschtschenko (1920–1956) mit ihrer Mutter Matila Iosifowna De Martino (1877–1963); etwa 1938
Das Buch „Sie kam aus Mariupol“ endet mit dem Tod der Mutter. Die Jahre der furchtbaren Kindheit bilden das letzte Kapitel. Es sind Wodins eigene Erinnerungen. Doch den größten Teil des Buches nehmen Recherchen ein, die der Suche nach der Herkunft der Mutter dienen. Dabei ist Natascha Wodins bester Freund, das Internet, ein kaum zu überschätzendes Medium. Sie, die familienlos geglaubte, findet mit Hilfe eines besessenen Genealogen vom Asowschen Meer schließlich soviel Verwandte, einige noch lebende und vor allem viele Tote, dass es ihr viel zu viel wird. Denn diese Büchse der Pandora liefert mit den Verwandten deren Geschichten. Fast keiner ist eines natürlichen Todes gestorben, Mord, außerdem Inzest, Wahnsinn. Sie bedauert schon ihren Schritt, es lebte sich besser ohne dieses Wissen. Besessen führt Natascha Wodin nun im Buch auch Verwandten für Verwandten, Vorfahren für Vorfahren auf, bis es auch dem Leser zu viel wird und er sich gar nicht mehr zurechtfindet.
Tragisch, und damit holt Wodin die Leser wieder zurück, dass etliche der Familienmitglieder noch gelebt haben und sie sie hätte treffen können bei ihren häufigen Reisen in die Sowjetunion. Den Onkel, der Opernsänger war, die Tante. Die nun in ihrem Buch eine zentrale Figur wird. Einer der fernen Verwandten fand im Staub auf einem Schrank die Memoiren Lidias, der älteren Schwester der Mutter. Diese 1911 in der Verbannung in Warschau geborene Tochter eines Revolutionärs und einer Mutter aus einer begüterten Familie mit italienischen Wurzeln erlebt noch ein bisschen von dem ehemaligen Glanz der einstmals vermögenden Familie in Mariupol, bevor die Oktoberrevolution ausbricht. Das Haus der Großmutter wird geplündert, Lidia trifft die „Revolutionäre“ in den Kleidern der Familie, findet in einem „Werktätigenclub“ den heimischen Flügel.
Die Geschichte der Schwester der Mutter erzählt Wodin sehr ausführlich. Ihre Tätigkeit in einer trotzkistischen Bewegung während des Studiums wird entdeckt, die 22-jährige kommt in ein Lager in der Taiga, wo sie tapfer jugendliche Schwerverbrecher unterrichtet. Auch nach Ablauf der Strafe bleibt sie dort, heiratet, bekommt einen Sohn. Es ist eine fast unerträglich zu lesende Odyssee, wie sie viele Sowjetbürger, inzwischen sprechen Historiker von Millionen, nicht überlebt haben. Die Geschichte der Schwester der Mutter ist der Roman im Roman, denn über ihre Mutter erfährt Natascha Wodin in den Memoiren der Tante fast nichts, ja eigentlich nur, dass sie geboren wurde und indirekt, in welchen Verhältnissen sie gelebt hat. So füllt die Autorin diese Zeit mit dem Konjunktiv, das könnte der Mutter geschehen sein, dies könnte sie gefühlt haben. Die manisch geführte Recherche ergibt ein paar Fotos mehr, auf denen die Mutter stets traurig und verloren schaut.
Die vielen Fragen, die Wodin angetrieben haben, bleiben unbeantwortet. Das Buch ist um eine große Leerstelle geschrieben um den Schmerz der Herkunft. Und ergibt ein erschütterndes Bild eines Menschen des 20. Jahrhunderts, den die politischen Entwicklungen in zwei grausamen Diktaturen geistig und körperlich entkräftet, heimatlos, gefühllos gemacht haben und dem das Kind aus seinem Leib nichts geben kann, sondern ihm als Sinnbild des Furchtbaren erscheint, dass er „gesehen“ hat. Der Mensch ist eine Frau, eine schöne Frau, die keine Gelegenheit gehabt hat, das zu spüren oder sich gar daran zu freuen.
„Sie kam aus Mariupol“ ist auch ein gnadenloses Buch, so gnadenlos die Autorin in ihrer Familiengeschichte gesucht hat, vieles gefunden hat, was sie nicht glücklich machte, aber sie fand nicht das, was sie suchte: die Mutter und nicht, was sie gefühlt hat. Ein mutiges Buch.
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