Ins Offene
Im Februar dieses Jahres ist die erste Nummer einer neuen Literaturzeitschrift erschienen. Sie heißt offenes Feld und wird von Jürgen Brôcan und Frank Wierke redaktionell betreut. Herausgegeben wird sie vom Verein Offenes Feld e.V. Frank Wierke ist Filmemacher und Jürgen Brôcan Lyriker, Kritiker und Übersetzer. Beide gehören zu den eigenwilligsten Personen im deutschen Kunstbetrieb. Verfolgt man das Werk dieser beiden Künstler, wird deutlich, dass sie mit dieser Zeitschrift ihrem unformulierten, aber nichtsdestotrotz erkennbaren Programm einen neuen Punkt folgen lassen. Ich fühlte mich jedenfalls beim Lesen an die Eingangssequenz von Wierkes Film über den Dichter Michael Hamburger erinnert. Es sind eindringliche Bilder. Der alte Mann Hamburger geht unter laublosem Obstgehölz durch seinen Garten. Es sind starke und ruhige Bilder von hoher Symbolkraft, die diesen Film eröffnen. Darüber hinaus denke ich an Brôcans großartige Übersetzung von John Muirs Die Berge Kaliforniens, aber auch an seine eigenen Gedichte, die zuletzt in der Edition Rugerup erschienen sind.
Ähnlich stark wie Wierkes Film beginnt auch das Heft, das ohne Editorial auskommt, dessen Kontur aber klar zu erkennen ist. Und es ist ja das Schöne an Literaturzeitschriften, dass sie sowohl durch Texte selbst, als auch durch die Hand der Redakteure Kontur gewinnen, deshalb auch kann es gar nicht zu viele von ihnen geben, transportieren sie doch, auch wenn sie Gruppenarbeiten sind, eine jeweilige Individualität. Die Auswahl von Texten verrät eine Handschrift zweiter Stufe.
Der erste Text des Heftes ist ein langes Gedicht des 2010 verstorbenen Schweden Bengt Emil Johnson, das von Lukas Dettwiler ins Deutsche übertragen wurde. Das Gedicht heißt Aus dem Sumpf und unternimmt einen Streifzug auf verschiedenen Ebenen angesichts einer Naturgegebenheit, eines Sumpfes. Natürlich fühlt man sich sofort an Droste Hülshoff erinnert, aber weniger an den Knaben im Moor als vielmehr an ihr großes und großartiges Gedicht Die Mergelgrube.
Dass Lyrik die Nähe zur Natur sucht, ist naheliegend und seit mehreren tausend Jahren eingeführt, also nicht erst seit der Romantik, wie ein Kolumnist uns kürzlich glauben machen wollte. Erinnert sei hier nur an Lucrez, der in seinem De rerum natura philosophische und naturwissenschaftliche Reflexionen lyrisch verbindet, und es ist auch kein Wunder, ist die Natur doch das radikale Gegenteil zur Kunst und ihr somit auf diese spezifische Weise auch nahe.
Kunst funktioniert da am besten, wo sie Natur nicht einfach abbildet, sondern selbst natürlich wirkt, eine zweite Natürlichkeit herstellt. Das, was wir in unserem alltäglichen Sprachgebrauch Natur nennen wiederum, ist selbst gesellschaftlich überformt, ist in weiten Teilen also künstlich, ist mehr Garten als Wildnis.
Diesem Verhältnis trägt Johnsons Text Rechnung, indem er im einen nach Momenten des jeweils anderen sucht. Unsere Naturerfahrung wird von unserer Gesellschaftlichkeit bestimmt. Johannes Bobrowski sagte einmal, dass er nur in Häusern, die über einen Aufzug verfügten, Naturgedichte schreiben könne. Und ich denke nicht, dass Johnson, einem Landschaftsmaler gleich, seinen Text über den Sumpf im Sumpf selbst verfasst hat. Es handelt sich jedenfalls um einen großartigen Text, der unter anderem deutlich macht, dass das, was wir Natur nennen, von Wiederholung geprägt ist:
Daher sticht derselbe Dornenbusch
in meinen rechten Arm jedesmal,
wenn ich mich in sein Revier begebe,
ich kann mir nicht vorstellen,
andere Wege zu wählen
Und hier wird ein weiteres fundamentales Unterscheidungsmerkmal angeführt. Die Freiheit, die in der Wahl liegt, ist ein gesellschaftliches Phänomen, das die Natur nicht kennt und von ihr, sofern wir als gesellschaftliche Wesen auch natürliche sind, eingeschränkt und zurückgenommen wird. Dieses Verhältnis ist nicht an Epochen gebunden, wie die Romantik eine war, sondern wird in jeder Zeit neu formuliert und erfahren.
Auch Godela Unseld, die 1951 geboren wurde und in Hamburg und Lappland lebt, formuliert es in ihrem im Heft enthaltenen Tagebuchtext Tage/Momente auf eine zunächst vielleicht naiv klingende Weise:
Hätten nun all diese Politiker und Flußbauingeneure früher mehr an kleinen Schneebächen in der Sonne gespielt, so hätten sie unsere Flüsse nicht so dämlich schnurgerade verbaut, und sich dann nachher nicht darüber wundern müssen, wieso jetzt weiter unten alles immer öfter unter Wasser steht.
Das Verhältnis der Gesellschaft zur Natur ist eines der wechselseitigen Beeinflussung, und dieser Text, diese Naturbeschreibung, die er letztlich ist, wäre ohne die gesellschaftlich-sprachliche Herkunft der Autorin nicht denkbar, auch wenn er sich zuweilen als pure Beschreibung tarnt.
Der Wind schien aus dem Zentrum der schwarzen Wolkenmasse zu kommen: er trieb diese nach oben mit wütender Wucht, bis das Schwarze ins Nichts hin zerstob, trieb es solange, bis nur noch der Sturmwind war und matter Schein der tief stehenden Sonne.
Dem ganzen Gedankenspiel setzt dann ein Gedicht der Amerikanerin Dana Gioia, die 1950 in Hawthorne geboren wurde und heute in Santa Rosa in Kalifornien lebt, eine imaginäre Krone auf. Hier wird das ganze Verhältnis unter Einbeziehung mythologischer Topoi verkehrt. Das Gedicht heißt: Autobahnen als irdische Götter betrachtet und beginnt mit folgender Strophe:
Dies sind die Götter, die übers goldene Land herrschen
Ihre massigen Leiber erstrecken sich durch die Landschaft,
Füllen die Täler, erklimmen Hügel, kurven an der Küste,
Zerbröckeln die Erde, aus der sie ihre Nahrung ziehen
Aus Teer und Beton, Asphalt, Sand und Stahl.
Goia ist mit neun Gedichten im Band vertreten, die allesamt von Jürgen Brôcan übersetzt wurden. Darüber hinaus finden sich Texte von Thilo Krause, Ranjit Hoskoté, Rolf Jacobsen, und Esther Kinsky in dieser Ausgabe, die beschlossen wird von einem Gespräch Zwischen Hanns Zischler und Michael Girke. Dieses Gespräch ist überschrieben mit: Wechselndes Licht, Skizzen zu einer Poetologie des Mündlichen, und beschäftigt sich unter anderem mit heutigem Wahrnehmungsverhalten, dem Gehen und der Fotografie, jener Kunst also, die vorgibt, der natürlichen Gestalt der Dinge am nächsten zu sein.
Mitwirkende: Bengt Emil Johnson, Thilo Krause, Ranjit Hoskoté, Godela Unseld, Rolf Jacobsen, Dana Gioia, Esther Kinsky, Michael Girke, Hanns Zischler
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