Beifang einer Tätigkeit
Er ist Slawist und mit dem polnischen Stiernacken Andrzej Stasiuk befreundet, er hat einen Teil von Stasiuks Werken ins Deutsche übersetzt, außerdem Witold Gombrowicz, Lech Walesa und andere. Er wurde für seine Übersetzungen ins Polnische und Russische ausgezeichnet und ist seit fast 20 Jahren Russlandberater des regierenden Bürgermeisters von Berlin. 2011 veröffentlichte er nun den ersten eigenen Roman: Tote Tiere. Offensichtlich ermuntert durch Stasiuk, der als polnischer Partner des Helden in dem Roadmovie durch die Ukraine zu erkennen ist. Olaf Kühl hat nun, zwei Jahre nach Tote Tiere seinen wahren ersten Roman veröffentlicht, an dem er mehr als ein Jahrzehnt geschrieben hatte: Der wahre Sohn.
Es liest sich spannend: Konrad, Ende dreißig, hat einen seltsamen Job. Er recherchiert für eine Versicherung gestohlene Autos und bringt sie zurück. Sein Operationsgebiet ist Osteuropa, Polen, Ukraine. Diesmal handelt es sich um einen Mercedes 500 SE der Baureihe W140, seit 1991 auf dem Markt. Handlungszeit ist Mitte der 1990er Jahre. Der Auftrag kommt Konrad gerade recht, er flüchtet vor der eingefahrenen Beziehung mit seiner Lebensgefährtin Marlene. Sein Ziel ist Kiew, er hat den Namen des eingetragenen Fahrzeughalters, dessen Adresse. Es gehört zu Konrads Arbeitsweise, dass er sich das Umfeld des Stehlers oder Hehlers genau anschaut, um eine Spur aufzunehmen, er fertigt eine Zeichnung an, wo er die beteiligten Personen einträgt und ihre Beziehungen untereinander.
Er trifft auf die Witwe des Fahrzeughalters, der über 90jährig verstorben ist. Er verfolgt sie und findet in einer psychiatrischen Anstalt einen Sohn. Das Geflecht der Beziehungen wird immer enger, je mehr Konrad in diese fremde Familiengeschichte einsteigt. Die Familiengeschichte als Beifang zur Recherche nach dem gestohlenen Auto. Ein Sog der Faszination zieht Konrad, gleichzeitig tut sich seine eigene Familiengeschichte auf. Sie reicht zurück bis in den zweiten Weltkrieg.
Olaf Kühl breitet die Karten aus, der Leser ist gespannt.
Und wird bitter enttäuscht. Der Mercedes als Motiv ist schon nach wenigen Seiten unwichtig geworden. Das ist nicht so schlimm, denn der Leser weiß ja, dass Konrad irgendwie auch auf der Flucht vor sich selbst ist. Aber dass er nun wie besessen in der fremden Familiengeschichte unterwegs ist, wäre nur zu erklären, wenn es eine Verbindung zur eigenen Familie gäbe, was der Leser dauernd wittert. Kühl spielt mit dem Leser, indem er über mehrere hundert Seiten den Verdacht nährt, Konrad sei der „wahre Sohn“. Seine eigene gebrochene Biografie wird zum Vehikel. Die Mutter ist Alkoholikerin, hat eine inzestuöse Beziehung zum eigenen Bruder, der wohl schwul, mittels ihres schönen Körpers überzeugt werden soll, sich doch bitte endlich Frauen zuzuwenden. Der Vater zieht den Sohn schweigend auf. Der Sohn, Konrad, wird beziehungsunfähig. Und der schwule Onkel war als Soldat in Kiew. Wo die Witwe des Mercedes-Fahrzeughalters im Zweiten Weltkrieg eine Beziehung mit einem deutschen Soldaten hatte.
„Der wahre Sohn“ funktioniert weder als Thriller, als der er anfangs angelegt zu sein scheint, noch als Familienhintergrundgeschichte, auf die der Roman im Weiteren hinausläuft.
Als Ermittler in Sachen Autosuche leistet er sich eklatante Anfängerfehler, indem er direkt die Frau des Autohalters befragt. Das könnte man hinnehmen, wenn es ihm um die Familiengeschichte ginge.
Doch der indirekte Erzähler Konrad, aus dessen Perspektive berichtet wird, wird schließlich vom wahren Sohn des Fahrzeughalters (ausführlich, filmisch erzählt) erschossen.
Wieder einmal soll anhand einer Familiengeschichte Geschichte des 20. Jahrhunderts erzählt werden. Wenn das gut gemacht wird, ist dagegen nichts einzuwenden.
Hier wird, vermute ich, möglicherweise ein Stück eigener Familiengeschichte zusammengestrickt zu einem Werk, das es sogar (vielleicht wegen des Themas) auf die Longlist zum Deutschen Buchpreis 2013 geschafft hat.
Wenn man sich literarisch dem Massaker von Babij Jar nähert, kann man durchaus sagen, dass die Erinnerung daran in Kiew zum unschönen kommerziellen Event verkommen ist, wie es Kühl eindrucksvoll- erschauernd sagt. Aber dem Haupthelden die Worte in den Mund zu legen: „Nehmt den Wagen, meinetwegen als Kompensation für unsere Kriegsgräuel, wenn ihr auf so was überhaupt noch Wert legt. Barbij Jar 1941.“ - wird in diesem Zusammenhang zur Blasphemie.
Nein, er kann es nicht. Nicht wirklich erzählen. Die Motive zerflattern. Der zu suchende Mercedes, schon nach hundert Seiten unwichtig. Die Anziehung Konrads zu der fast 90jährigen Frau des Mercedeshalters könnte ein Erzählmotiv sein. Aber da gibt es den Sohn in der Psychiatrie, der nicht ihr Sohn ist, das Kindermädchen, das etwas mit ihrem Mann hatte, das daraus entstandene Kind, der Mann im Mercedes, der Konrad am Schluss erschießt. Ein heilloses Durcheinander. Dazwischen endlose Protokolle aus der Psychiatrie, die man praktischerweise überschlagen kann, da sie kursiv geschrieben sind.
Der Leser wird hin und her geworfen. Natürlich ist es verdienstvoll, eine alte Frau, die dem sowjetischen System treu ergeben war, ernst zu nehmen. Natürlich könnte man in dem Sohn in der Psychiatrie eine Entsprechung sehen für Menschen, die sich auf die Suche nach sich selbst begeben.
Aber, fragt man sich, warum muss ein Kenner der Verhältnisse in der Ukraine - Kühl hat zu Recherchezwecken mehrere Wochen in Kiew in einem Neubauviertel gelebt - ausgerechnet das Klischee des von Osteuropäern geklauten Autos bedienen. Auch wenn das Motiv zerflattert, wie vieles in dem Roman zerflattert.
Ich wage hier mal die böse These, dass ein guter Übersetzer von guter Literatur nicht selbst ein guter Literat sein muss. Das scheint mit diesem Roman bewiesen. Der Roman ist ein Beifang für den Literaturbetrieb, der auf Namen abfährt. In diesem Fall auf den Namen eines guten Übersetzers und die Namen der übersetzten Autoren.
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