Die Nähmaschinchen Gottes
"Das Wort hat ein Doppelleben.
Zum einen wächst es einfach wie eine Pflanze, es zeugt eine Druse ihm benachbarter Klangsteine, und dann lebt das Klangprinzip ein Eigenleben, während der Anteil des Verstandes, Wort genannt, im Schatten steht; oder aber das Wort verdingt sich beim Verstande, der Klang hört auf, >allgroß< und selbstbeherrscherlich zu sein; der Klang wird Name und erfüllt gehorsam die Befehle des Verstandes, dann blüht dieser als das ewige zweite Spiel einer Druse aus sich ähnlichen Steinen."
Das, was V. Chlebnikov da über das Wort sagt, wurde für mich angesichts der Gedichte Oleg Jurjews auf eigenwillige Art lebendig. Ich hatte die Gelegenheit angesichts des Erscheinens des Buches „In zwei Spiegeln“ zur diesjährigen Leipziger Buchmesse den Dichter zu flankieren und die deutschen Übersetzungen vorzutragen, nachdem Jurjew die russischen Originale gelesen hatte.
Mein Russisch ist schlecht genug, um die Wahrnehmung auf der Ebene des Klangs zu belassen, der Musik zu lauschen, die eben in der bedacht gesetzten Sprache liegt. Und Jurjews Gedichte klingen. Sie sind Gesang. Man sollte sich, wenn man die Gelegenheit hat, von einem Muttersprachler die Texte vorlesen lassen.
Zum anderen aber ist mein Russisch gut genug um hin und wieder eine Konstellation zu erkennen. Ich hörte also, und las im Klang, wie man zuweilen in den Wolken liest. Hier und da wird man einer Formation habhaft und meint, ein Gemeintes zu erkennen.
Eine dritte Ebene lag in den Übersetzungen. Genuss! Ohne groß zu üben, gelang es mir die Texte weitgehend fehlerfrei zu sprechen. Öffentlich. Und darin liegt eine der großen Qualitäten dieser Dichtungen und ihrer Übersetzung. Nicht dass sie Unterkomplex wären, nein, sie entfalten eine innere Notwendigkeit derart, dass sie sich gewissermaßen von selbst sprechen. An dieser Stelle kann einmal von Genauigkeit die Rede sein, einem Wort, dem ich sonst in Bezug auf Literatur eher misstraue.
Die Nachdichtungen besorgten im Übrigen Elke Erb, Olga Martynova, Daniel Jurjew und Gregor Laschen, und die vier haben ganze Arbeit geleistet.
Einer meiner liebsten Texte in diesem Band heißt Edenkobenzikaden bzw. Zikaden in Edenkoben. Ich gebe hier zwei Titel an, weil er sowohl von Elke Erb, als auch vom Duo Martynova/ Laschen übersetzt wurde, und der Band beide Varianten enthält. Zum Glück, denn es fiele mir schwer, mich für eine zu entscheiden.
In der Übersetzung von Martynova/Laschen kommt das Wort Nähmaschinchen vor. Ich glaube, das ist etwas originär Russisches. Die Verkleinerungsform kommt in der deutschen Dichtung ohnehin eher selten vor, aber sie von dem Wort Nähmaschine zu bilden, darauf kämen deutschsprachige Dichter wohl nie. In Jurjews Dichtung aber fügt sich dieses Wort nahtlos, zumal es sich ja bei diesen Zikaden um die Nähmaschinen Gottes handelt.
Oleg Jurjew, der seit Anfang der Neunzigerjahre in Frankfurt am Main lebt, ist in Petersburg aufgewachsen. In Deutschland hat er sich bislang mit einer Reihe furioser Romane einen Namen gemacht. Aus dem schönen Nachwort von Ilma Rakusa erfahren wir, dass er in Russland hingegen als Lyriker und Dramatiker bekannt ist. Diese schön gestaltete Sammlung aus dem Hause Jung und Jung hilft uns, hierzulande eine Lücke zu schließen.
Fixpoetry 2012
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben