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Kritik

Die Nebenrolle der Hauptperson

Orhan Pamuks Roman „Diese Fremdheit in mir“ ist ein Buch über einen Boza-Verkäufer. Aber eigentlich steht Istanbul an erster Stelle.
Hamburg

Rayiha wird etwas ungehalten. „Jetzt sag mir doch in Gottes Namen, was mir dir los ist!“ Und da antwortet ihr Mann endlich, nachdem er vorher immer versucht hatte, die Unruhe zu verbergen, die Schlaflosigkeit, die Scham. „Was immer ich auch tue“, sagt er, „ich fühle mich ganz einsam auf der Welt.“ Und: „Da ist so eine Fremdheit in mir.“

Es war eine Gedichtzeile von William Wordsworth, auf der dieser Satz beruht, der dann gleich dem ganzen neuen Buch von Orhan Pamuk den Titel gab: „There is a strangeness in my mind.“ Pamuk hat erzählt, er habe diese Zeile vor Jahren mal gehört, und sie habe ihn daran erinnert, dass man von ihm als Junge immer behauptet habe, er habe einen irgendwie fremden, fremdelnden Geist. Seitdem wollte er ein Buch mit dem Titel schreiben. Jetzt hat er es getan.

Der Untertitel veranschaulicht bereits erschöpfend, worum es geht: „Abenteuer und Träume des Boza-Verkäufers Mevlut Karataş und seiner Freunde sowie ein aus zahlreichen Perspektiven erzähltes Panorama des Istanbuler Lebens zwischen 1969 und 2012.“ Boza ist ein aus Hirse oder Weizen bereitetes Getränk, leicht alkoholisch – so leicht, dass man behaupten konnte, man tränke etwas Antialkoholisches, was im feuerwassserfeindlichen Sultanat und auch später noch sehr beliebt war. Boza-Verkäufer zogen abends durch die Straßen und boten ihre Erfrischung feil, oft zusammen mit Joghurt. Diese Verkaufstradition gibt es auch heute noch, sie ist aber zur Rarität geworden.

Das mit der Rarität geht schon zu Mevluts Zeiten los. Er kommt vom Dorf, er folgt seinem Vater nach Istanbul in eine windschiefe Hütte. Auch der Vater verkauft Boza, der Junge hilft ihm, neben der Schule. Istanbul wächst unter den Landflüchtigen unkontrolliert, die Leute stecken sich ein Stückchen Grund und Boden ab und bauen was hin. „Gecekondu“ nennt man diese provisorischen und nicht legalen Siedlungen („gece“ heißt „Nacht“, es handelt sich also um quasi über Nacht hochgezogene Bauten). Die Viertel aber erweisen sich, wie alles Provisorische, als erstaunlich langlebig, bis der Staat doch irgendwann durchgreifen zu müssen meint. Die Stadtbevölkerung ist explodiert – im gesamten Zeitraum, den der Roman umfasst, steigt sie von einer auf 13 Millionen.

Mevluts besonderes Schicksal ergibt sich durch den Umstand, dass er sich bei einer Hochzeit in ein Mädchen verliebt, ihm glühende Briefe schreibt und sich schließlich entscheidet, die junge Dame mit Hilfe seines Cousins zu entführen. Sie starten eine abenteuerliche nächtliche Aktion. Aber bei der ersten Gelegenheit, bei der es etwas Licht gibt – es ist ein Blitz –, entdeckt Mevlut, dass er die falsche entführt hat. Verliebt war er in Samiha, die jüngste der Schwestern, abgekriegt hat er Rayiha, die mittlere. Unruhe, Schlaflosigkeit, Scham. Fremdheit.

Aber: Mevlut ist ein anständiger junger Mann, und wenn er eine Frau entführt, heiratet er sie auch. Was sich als wunderbar erweist. Denn die beiden passen sehr gut zueinander, entwickeln eine tiefe Liebe, bekommen zwei Töchter. Die Familie ist arm, aber zufrieden. Bis Rayiha mit 30 stirbt. Da gewinnt wieder die Fremdheit (die nie weg, aber im Zaum gehalten war) die Oberhand über Mevlut. Am Ende bekommt er dann auch noch Samiha, die er einst so geliebt hat. Und er wird zufriedener, weil älter, und geduldig war er schon immer. Aber die Intensität, die das Leben mit der Entführungsüberraschung Rayiha hatte, die stellt sich nicht mehr ein.

Man könnte sagen, dass sich Mevluts Geschichte vor dem Hintergrund der Entwicklung Istanbuls in den fast fünf Jahrzehnten abspielt, die Orhan Pamuk den Boza-Verkäufer begleitet. Aber eigentlich ist es andersherum. Die Geschichte der Stadt steht im Vordergrund – die wuchernden Gecekondus, die Eingriffe der Ordnungsmacht, die Versuche einer Legalisierung der Armenviertel, die von Korruption und Vetternwirtschaft gezeichnet sind. Dann kommen der Bauboom mit dem Abreißen der Hütten und das Pflastern der Stadt mit brachialen Betontürmen, und immer wird geschmiert und betrogen und übervorteilt. Zeitgleich laufen die Auseinandersetzungen zwischen Linken und Rechten, zwischen Gläubigen und Säkularisten, zwischen Modernisierern und Traditionalisten, und alle scheren sich einen Dreck um die Menschen, solange sie nur ihre Ideologie hochhalten können. Istanbul bleibt eine brodelnde, quirlige Stadt. Aber die Intensität, die sie früher hatte, die stellt sich nicht mehr ein.

Istanbul – das ist das Thema des Nobelpreisträgers Pamuk. In nahezu jedem seiner Romane spielt diese Stadt eine Rolle, mal eine größere, mal eine kleinere. In „Diese Fremdheit …“ hat sie eindeutig den Hauptpart. Dass Mevlut jemand von den „kleinen Leuten“ ist, die nicht unbedingt zu Pamuks Hauptrollenstandardpersonal gehören, trägt vielleicht auch dazu bei, dass sein Schicksal mitunter wie ein Nebenschauplatz wirkt. Dennoch ist „Diese Fremdheit in mir“ ein schönes Buch, gut erzählt, auch spannend, und mit den rund 20 Erzählperspektiven wird es sowieso nie langweilig.

Nein, das ist nicht das beste Buch von Pamuk (das ist bislang wohl „Schnee“, interessanterweise kein Istanbul-Roman). Aber ein gutes ist es allemal.

 

 

 

Orhan Pamuk
Diese Fremdheit in mir
übersetzt aus dem Türkischen von Gerhard Meier
Hanser
2016 · 592 Seiten · 26,00 Euro
ISBN:
978-3-446-25058-1

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