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Kritik

Heraldik

Orsolya Kalász' Gedichtband „Das Eine“ bei Brueterich
Hamburg

22.01.2017:  Peter-Huchel-Preis 2017
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Die Brueterich Press von Ulf Stolterfoht hat mit Orsolya Kalász' Gedichtband „Das Eine“ eine exzellente Veröffentlichung herausgebracht. Das neunte Buch des noch jungen Verlages besitzt Verve, Performance und Nachhall. Nicht nur von textlicher Seite eine äußerst anregende Lektüre. Auch die minimalistische Gestaltung des Bandes ist der besonderen, sinnlichen Atmosphäre von "Das Eine" sehr zuträglich. Der Kalenderformat-Band mit dem weichen Papier ist in starker, origineller, serifenloser Schrift gedruckt, deren pechschwarze Zonen auf dem Blatt eine ziemliche Sogwirkung erzielen. Da alle Gedichte fußbündig gesetzt sind, auch die kurzen, kommt es häufiger zu großen weißen Lücken zwischen Titel und Text, von Zeit zu Zeit haben einige Strophen doppelte Zeilenabstände, Leerseiten schleichen sich dazwischen – alles das wirkt als subtiler Eingriff, der die Sinne bestens einschwört und vorschärft auf den komplexen Inhalt. Und immer wieder wird die streng-grafische, installierte Struktur aufgebrochen und z.B. von kopfbündigen Motti eröffnet, oder Illustrationen, Reproduktionen von Röntgenaufnahmen eines Schädels aus der Hand von Frank J. Schäpel namens „Tryptichon des ‚Starchild-Schädels‘“, schieben sich in den Gedichtfluss hinein. Alle gestalterischen Entscheidungen, inklusive das zurückhaltende Cover mit dem möglicherweise „Einen“ – ein schwarzer amorpher Fleck – sind bewusst und behutsam getroffen/ angewendet. Sie sind zu keinen Zeitpunkt überkandidelt oder exaltiert, sondern stützen das textliche Argument maximal.

Orsolya Kalász, die seit vielen Jahren in Berlin lebt, ungarischer Herkunft und auch als Übersetzerin tätig ist, schreibt ihre Gedichte interessanterweise sowohl auf Ungarisch als auch auf Deutsch und oszilliert auf diese Weise bilingual zwischen Ausdruck, Prüfung und Entscheidung, ähnlich wie es auch Beckett praktiziert hat. Die Gedichte in „Das Eine“ zeichnet eine besondere Weichheit der Sprache aus. Sie sind direkt, treffen, beschreiben auf den Punkt, sind aber dennoch niemals hart. Keine Kontrast-Collagen, keine Fragmente, keine abgehackten Stenogramme von Mathematik imitierenden Programmen oder rhythmische Stunts finden sich an, stattdessen im Gegenteil: weiche Sätze, die fast einen Prosatext ergeben könnten, beinahe eine Argumentationskette, lyrisch durchgestaltet, in der die Umbrüche genau an den richtigen Stellen erfolgen. Die Gedichte strahlen Ruhe, Bestimmtheit, Ernst aus, sind dennoch spielerisch in ihrem Aufbau von wiederkehrenden Elementen, Regeln. Teile, aus dem Fluss der vorweggeflossenen Gedichte gefischt, tauchen als Motti extrahiert in den späteren Gedichten wieder auf, Themen werden angerissen, benannt und in Varianten oder Verschiebungen erneut bearbeitet, einzelne Gedichte sind in mehrere Abschnitte aufgeteilt und finden ihre Fortsetzung zu einem späteren Zeitpunkt.

Von den vornehmlich behandelten Themen sind die Heraldik, das Wappen und die Tier-Komponente sicherlich die hervorstechendsten. Häufig wiederkehrend verwendet Kalász Eindrücke und Bildkomplexe wie See, Vögel, Werkzeuge, aber auch Zwiegespräche zwischen dem lyrischen Ich und Du, die wie sehnsuchtsvolle Rechtfertigungen oder Bestandssichtungen klingen und sämtlich gefühlsstarke Aussagen auf ihren poetischen Punkt bringen, ohne Volten oder undienliche Ornamente. Es ist eine traumähnliche Atmosphäre in Kalász Gedichten, die schon bei den Titeln beginnt wie „Die Vergleiche hissen die Segel“, „Verstehen heißt antworten“, „Blinde-Kuh-Flashmob“, „Sturzsucht“ oder „Lied über dunkle Dinge“ und „Verneinung ohne Beine“, oder Versen wie „Da es ein ausgefuchster Ort ist / wirst du hier über keine Fragen stolpern“. Zwei der kürzeren Gedichte herausgestellt:

Immerhin

Was wir für fühlende Herzen empfinden,
macht uns bitter nötig für fühlende Herzen.
Immerhin sind wir es,
die wachsen, über uns hinaus,
schnell und ohne Bedauern
wie wilde Tiere … und die Nacht.
Immerhin glauben wir,
dass Sterne uns bestaunen,
weil wir glauben, dass Schmerzen einer Logik folgen,
an Gedanken, wie immer weiter kreisen,
dem Herzen Arme immer höher wachsen,
bitte und im Nichts den nächsten Ast ergreifen.

 

Die Herde soll verschollen bleiben

Die Herde soll verschollen bleiben,
unverwundet tapfer sein
ist eine Vorstellung, die erst
in dritter Generation hemmungslos
ihre Reize ausspielen kann,
dich zum Beispiel
zum besten Leser aller Zeiten macht.
Auf deine Zustimmung bauen
die neuen Gewebe
und beschleunigen ihr Wachstum.
Ich rede nicht verdeckt
und keiner rede unbedacht von Schuld,
sehr lange noch sind wir,
jeder von uns, auf sich gestellt.

Orsolya Kalász schreibt frei von kurzfristigen Moden, ihre Schreibe ist eigen und kaum einzuordnen. Ihre Gedichte verweigern sich der klaren Rhythmik, sie sind vielmehr a-rhythmisch, beziehungsweise stehen ganz einfach drüber. Das macht sie resistent gegen sich selbst beschleunigende Lesbarkeit, jede Silbe beansprucht ihren Platz im Strom und die Gefahr, etwas im Fluss einer vorhersehbaren Rhythmik zu überspringen, ist nicht vorhanden. Behutsam kommen die Wendungen, die Schwenke und retroaktiven Verschiebungen daher, jeweils nur ein bis zweimal angewendet, um sich dann anderen Mitteln der lyrischen Expression zuzuwenden. Das ist nichts weniger als virtuos. Alles, was diese Gedichte in „Das Eine“ zeigen, können sie auch. Die inhaltliche Performance erfüllt wie ihre äußere Erscheinung. Der schwarze Fleck ist voll und nicht leer – wenn auch klein. „Das Eine“ ist ein maßgeblicher Band und sollte ausgezeichnet und vor allem gelesen werden.
 

 

Orsolya Kalász
Das Eine
BRUETERICH PRESS
2016 · 88 Seiten · 20,00 Euro
ISBN:
978-3945229095

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