Sunset Park
Die „aufgegebenen“ Dinge
„Jedes Haus eine Geschichte des Scheiterns.“ Miles Heller ist Entrümpeler, Angehöriger einer der letzten Branchen, die in dieser Gegend – Südflorida – noch floriert. Aber anders als die meisten seiner Kollegen lässt er nichts mitgehen, sondern schießt Fotos der verlassenen Gegenstände und Häuser, der aufgegebenen Dinge. Miles will keine Dinge, sondern nur Bilder von Dingen - eine Metapher, die ihre Stärke noch am Ende des Romans entfalten wird. Miles hält sich aber nicht nur an den Vorsatz nicht zu stehlen, sondern auch an eine Reihe anderer Vorsätze, etwa während der Arbeit nicht zu sprechen, nicht mehr in Restaurants zu essen, nicht zu rauchen, nicht zu trinken, keinen Fernseher, keinen Computer, keine Pläne haben und nichts zu ersehnen. Sein einziger Luxus sind Bücher und die 17-jährige Pilar Sanchez, die er abgöttisch verehrt und in seine literarische Welt einführt und sie ihn. Doch genau dieser einzige Luxus wird ihm zum Verhängnis, macht ihn erpressbar und führt schließlich zum Zerschellen seines Traums, ein normales Leben zu führen.
Last man standing
Bing Nathan, ein alter Jugendfreund von Miles, ist es, der nicht nur Miles, sondern auch Ellen und Alice im Haus in Sunset Park in Brooklyn zusammenbringt. Bing ist „der Großmeister der Empörung, der Champion der Unzufriedenheit, der militante Entlarver des zeitgenössischen Lebens, der davon träumt, aus den Ruinen einer gescheiterten Welt eine neue Realität zu schmieden“. Bing verfügt über genügend Charisma, die anderen drei für seine Idee, die Besetzung eines Hauses, zu gewinnen und bis zur letzten Aufforderung zur Räumung durchzuhalten. Eine besonders schöne und ironische Charakterisierung Bings durch seinen Autor soll hier zitiert werden als Synonym auch für die anderen beiden Bewohnerinnen: „Seine Rebellion mag in belanglosen Taten bestehen, in mürrischen Gesten, die auch kurzfristig wenig oder nichts bewirken, aber sie tragen zur Stärkung seiner Würde als menschliches Wesen bei und adeln ihn, wenn auch nur in seinen Augen.“
Zwei Generationen: verzweifelt und gescheitert
Wer sich von Sunset Park nun aber eine Aussteiger-Geschichte a la „Drop City“ (T.C.Boyle) erwartet, irrt. Im Vordergrund steht nämlich nicht das Leben der Wohngemeinschaft miteinander und die Auseinandersetzung mit der Gesellschaft draußen – etwa der Polizei – sondern vielmehr der Überlebenskampf jedes Einzelnen. Die vier sind eher eine Zweckgemeinschaft, sie verfolgen kein übergeordnetes politisches Ziel - außer vielleicht Bing - sondern sind vielmehr auf der Suche nach sich selbst. Es mag sein, dass Auster damit genau den Unterschied zwischen den Sechzigern und heute zeigen will, vor allem geht es ihm aber um eine Vater-Sohn-Geschichte, um Miles und Morris Heller, die am Ende des Romans dann doch wieder zueinander finden. Die Generation der Eltern, die im Verlagswesen oder Schriftsteller sind, wird von Auster fast ebenso verzweifelt und gescheitert beschrieben, wie die Generation der „Kinder“, alle in ihren Endzwanzigern, fürchtend den 30er nicht mehr zu erleben. Paul Auster beschreibt seine Personen nicht nur durch Körpergröße und Gewicht (was etwas unprofessionell wirkt), sondern webt auch Baseball-Wissen und einen in europäischen Breiten wohl eher unbekannten Film namens „Die besten Jahre unseres Lebens“ (R: William Wyler), der sich mit der amerikanischen Nachkriegsgesellschaft auseinandersetzt, in seinen Roman ein: die schweigenden Männer, die aus dem Krieg zurückkehren und ihren Platz in der Gesellschaft nicht mehr finden können. Paul Auster, 1947 geboren, schweigt nicht, er erzählt auch deren Geschichte.
Jeder wie er’s braucht
Sunset Park fesselt den Leser durch seine Charakterisierungen der ProtagonistInnen, besonders natürlich die psychologische Einfühlsamkeit in Miles‘ Trauma, der wohl nur deswegen allem entsagen möchte und sich in Puritanismus verwickelt, weil er ein schlechtes Gewissen hat und sich schuldig fühlt. Erst während des klärenden Gesprächs mit seiner Mutter – die „Heimkehr des verlorenen Sohnes“ – trinkt er wieder, legt seine Kamera aus den Händen und handelt wieder, wenn auch vorschnell. Gleichzeitig ist der Asket aber doppelt in eine Schuld verwickelt, da er Pilar, die noch minderjährig ist, missbraucht (Zitat: „das lustige Loch“). Auch wenn sie sich lieben und es in Übereinstimmung geschieht, ist es doch inakzeptabel. Möchte man diesen Gedanken bis zum Ende denken, könnte man jeden verkappten Entsager eines schlechten Gewissens bezichtigen. Aber genau darin steckt wahrscheinlich auch die Stärke von Austers Werk, dass man die Figur Miles eben auch so oder ganz anders deuten und interpretieren kann. Jeder wie er’s braucht.
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