Das Tiefbegrabene und das Plötzliche
„Wie aus weiter Ferne zu Dir“. Die Erläuterungen Barbara Wiedemanns machen den Briefwechsel zwischen Paul Celan und Gisela Dischner zu einem spannenden Zeitdokument.
Was macht eine Beziehung aus, die hauptsächliche aus Briefen, Widmungen und Postkarten besteht und in der die Beteiligten sich innerhalb von sechs Jahren nur zehn- bis elfmal sehen können? Mit „Sehr geehrter Herr Celan“ eröffnet im Juli 1964 die 24 Jahre alte Germanistik-Studentin und spätere Literaturwissenschaftlerin Gisela Dischner den Briefkontakt mit dem damals 43 jährigen berühmten Dichter und anhand von 121 schriftlichen Lebenszeichen kann der Leser verfolgen, wie sich diese Beziehung „aus der Ferne“ entwickelt. Noch im selben Monat wird die Anrede vertraulich. Fortan ist Celan ihr „Lieber“, er antwortet mit „Du“ oder „meine kleine Ulla.“ Sie schreibt viel häufiger als er. Auf 89 Dokumente von Dischner kommen nur 32 von Celan. Oft hat sie keine Adresse von ihm, fragt nach, ob er an sie denke. „Sehr viel öfter als manchmal, meine liebe kleine Ulla – Bloß: mir wollen keine richtigen Briefe aus der Feder fließen“, schreibt er am 26. 1. 1970 in seinem letzten Brief. Vier Monate später ist Paul Celan tot. Dischner will nicht wahrhaben, dass ihr Freund bewusst Selbstmord begangen hat. „Es wäre möglich… daß er gesprungen ist, ohne vielleicht zu wissen, was er tut. Glauben Sie, daß das möglich wäre?“, fragt sie ratlos Celans Frau Giséle Celan-Lestrange.
Bei aller Nähe, bei all den intellektuellen und politischen Themen, welche die beiden in ihren Briefen diskutieren: letztlich bleibt von Celans Seite vieles ungesagt. „Ich war längere Zeit krank, konnte Deine Briefe nicht abholen“, schreibt er im Juni 1967. Was er damit (durchgehend) verschweigt, sind die schweren Depressionen, sein Selbstmordversuch und die tätlichen Angriffe auf seine Frau und auf einen Nachbarn, die schließlich zweimal zu Zwangsaufenthalten in der Psychiatrie führen.
Dischner, die bei Adorno studiert und über Nelly Sachs promoviert, heiratet später den Suhrkamp-Lektor und Lyriker Chris Bezzel. Sie ist eng vertraut mit der literarischen Szene, beschreibt und beurteilt diese ausführlich. Dabei nimmt sie oft Celans Sichtweise ein, mokiert sich beispielsweise darüber, dass Erich Fried mit Celan auf eine Stufe gestellt wird und nimmt ihren Briefpartner in Schutz, wenn ihm im deutschen Feuilleton „Metapherngestöber“ vorgeworfen wird. Zu Adorno hat sie bei aller Wertschätzung wegen dessen Distanz zu der Studentenbewegung und anderen politischen Ereignissen ein recht widersprüchliches Verhältnis. Auch dies mag von der Enttäuschung, wenn nicht Verbitterung, Celans getragen sein, der Adorno übelnahm, dass dieser den versprochenen Essay über den Gedichtband „Sprachgitter“ nie geschrieben hat.
Dischner, sehr links, hoch politisiert, steht der Studentenbewegung nahe. Es ist die Zeit der Proteste, gegen die Notstandsgesetzte, gegen die Große Koalition und vor allem gegen den Vietnamkrieg. „Der große Che Guevara“ schreibt sie nach dessen Tod und im Mai 1968 als in Frankreich die „Farben der Anarchie“, durchaus mit Celans Sympathie, über dem Odéon wehen, spricht sie davon, dass sie aus Deutschland auswandern will, „da der verdeckte Faschismus bald zum offenen, brutalen Faschismus übergehen wird.“ Dies ist genau der Punkt, an dem Celan – wie schon bei Ingeborg Bachmann – bewusst wird, wie sehr sich ihre Sichtweisen, ihre unterschiedlichen „Neigungswinkel“ unterscheiden. Denn in ihrer (komfortablen) Situation von Faschismus zu sprechen, davon, nicht mehr in Deutschland leben zu können, empfindet Celan in Bezug auf seine Geschichte und auf die Ursachen seiner Emigration als äußerst unsensibel. Auf diese Verharmlosung kann er heftig reagieren: „blackpowere“ nicht, ruft er Dischner entgegen; Rassismus sei dem Judenmord nicht gleichzusetzen. Ebenso ist er von Rudi Dutschke enttäuscht, wenn dieser schreibt „man machte sich zum Juden, rationalisierte damit die eigene Unfähigkeit, sich an die Massen zu wenden.“
Zur größten Auseinandersetzung zwischen Gisela Dischner und Paul Celan kommt es aber über Israel. Celan, der im Herbst 1969 nach Israel reist und dort seine Czernowitzer Jugendfreundin Ilana Shmueli wiedertrifft, erwartet von Dischner mehr Verständnis für Israels Bedeutung für die Juden. „Dein Brief über Israel – nein, laß mich davon schweigen“, schreibt er ihr im November 1969. Als eine israelische Tageszeitung sein wichtiges Gedicht „In Ägypten“ in hebräischer Sprache veröffentlichte, bittet er sie fast beschwörend „lies, bitte, dieses Gedicht nach.“ Liebe und Schreiben nach der Shoah. Einst für Ingeborg Bachmann geschrieben, versucht er sich mit dem Gedicht nun Gisela Dischner zu erklären.
Dischner hat an dem Buch mitgearbeitet und ihre „Erinnerungen an Paul Celan“ hinzugefügt. Tragen schon diese Ausführungen zum besseren Verständnis der teilweise für Außenstehende schwer verstehbaren Andeutungen in den Briefen bei, so sind noch mehr das Nachwort und vor allem die 82 Seiten starken Kommentare und Erläuterungen der Herausgeberin hervorzuheben. Zwar wird das Lesen etwas mühsam, wenn man ständig zwischen Briefen und Kommentaren hin- und herblättert, dafür werden dem Leser aber viele spannende Details zu Zeitgeschichte und Literatur sowie zu damals tonangebenden Persönlichkeiten geboten, ohne die man viele Äußerungen der Briefe nicht verstände.
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