"spacewalk sutra"
I Gewissermaßen eine unerfreute Rezension des Nachworts
Die aktuelle Neuauflage von Paul-Henri Campbells programmatischem Gedichtband "space race" aus 2012 gleicht der Erstausgabe laut Nachwort des Verfassers "zu kaum einem Drittel". Dieser Umstand wirft die Frage auf, was da eigentlich erschienen ist: Ein neuer Band? Ein Teil einer Serie von Variationen? Der gleiche Band, nur "verbessert", gleichsam ein "Director's Cut"? Campbell schreibt dazu im Nachwort:
"Es ist mir wichtig, dass der Leser (...) anerkennt, wie sehr 'space race' ein Dauerprojekt sein wird, das mit jeder weiteren Edition sich wandeln wird, der kinetischen Energie gleich, die sich durch immer neue Zusammensetzungen der Materie bewegt und jene ruhelos macht, bis sie an ein anderes Objekt weitergegeben wird. Es ist auch ein Bekenntnis dazu, dass ein Werk nie abgeschlossen ist und jedes Gebilde nur ein Zwischenstadium auf dem Weg zur vollkommenen Gestalt der Empfindung sein kann. (...) Die Abgründigkeit dieser Doktrin wird jedem vertraut sein."
Völlig unbenommen, dass es von "space race" mehrere Iterationen gibt und noch mehr geben soll - die in jener Erläuterung ausgedrückte Haltung dazu finde ich mindestens diskussionsbedürftig: Der Literaturbegriff des Verfassers dieser Zeilen beruht auf der Gleichsetzung von "vollkommener Gestalt der Empfindung" und "Werk". Das Produkt, welches Leser lesen, Hörer hören, so oder so aber Konsumenten bezahlen, erscheint nur noch als ephemeres Artefakt eines Annäherungsprozesses; die Kunst der Zirkulationssphäre enthoben. Die eigentliche Show, sagt dieses Nachwort, sind nicht die jeweils vorliegenden einzelnen Arbeiten, sondern ist die Entwicklung der Sprache jener Gedichte, oder die Entwicklung des Verfassers, über einen Zeitraum hin. Es geht um die Entwicklungsbewegung, nicht um das Ding. Um wirklich mitzukriegen, worum es geht, musst du eben vergleichende Textstudien betreiben, kontemplieren und "...anerkennen" (wenn dazu die Tagesfreizeit fehlt - Pech gehabt). Das Dichtersubjekt wird, wenn auch unter der Hand und wohl unbeabsichtigt, anstatt der Texte zum rezipierten Etwas der Kunst. (Wer will, darf nun darüber schmunzeln, dass in jenem Absatz Campbells auch das zur Geschichte solcher Positionen "reiner Kunst" stilistisch passende, adornitisch nach hinten gezogene rückbezügliche Fürwort sich findet.)
Anders, freundlicher gesagt: Ja, man kann als Rezipient die Bereitschaft entwickeln, sich auf solche Entwicklungen einzulassen - aber man braucht einen wirklich guten Grund dafür. Das einzelne Artefakt muss auch für sich genommen knallen. Die Fernsehserie Buffy the Vampire Slayer beispielsweise kann gelesen werden als sieben Staffeln lang immer dieselbe TV-Episode, unter den Bedingungen der kontinuierlichen Annäherung an die "vollkommene Gestalt" eines bezeichenbaren Grundgedankens. Aber ich kam nicht in die Lage, solches zu denken, weil mich jemand aufgefordert hätte, es "anzuerkennen" und folglich Stunden um Stunden fernzusehen. Ich kam in diese Lage, weil die einzelnen Folgen von Buffy Teenagerdrama, Actionsequenzen und lustige Dialoge zu bieten hatten, ganz wie sie meinem sechzehnjährigen Ich zusagten. Woraus sich nun die Frage ergibt: Knallt "space race"?
II Die erfreute Rezension des Bandes selber
Ja, "space race" in der vorliegenden Fassung, "space race" das Artefakt, nicht der langjährige Plan, "space race" das eben erschienene Buch: Es knallt. Es handelt sich um eine Serie von Texten, die die Geschichte der Raumfahrt nachzeichnen - vom "sputnik schock" bis zu den "linsen im licht" des Hubble-Teleskops. Die optisch anspruchsvoll gesetzten Gedichte haben jeweils genau ein konkretes Ereignis aus der Raumfahrtgeschichte zum Thema, beziehen sich auf ein Datum und einen Umstand und folgen in der "richtigen" Reihenfolge aufeinander. Das ganze lässt sich nach einer kurzen Eingewöhnungsphase fast wie ein Roman, oder sagen wir besser: wie ein Versepos lesen, in einem Zug und ohne oft innehalten zu müssen. Die zahlreichen rein textlichen "Attraktionen", Zitate und Querverweise, sie tun, was sie in zeitgenössischen Werken ersten Ranges allzu oft nicht tun: Das Verständnis unmittelbar befördern; klären, statt zu verunklären.
Das Programm, das Campbell dabei verfolgt, ist ungefähr dieses: Die Story von der Urbarmachung des Weltraums, deren wichtigstes Erzählsubjekt die Menschheit als Gattungswesen ist, in einer Weise zu erzählen, die diese Story nicht als eine vom finalen Bruch mit den Mythen, metaphysischen Paradoxa, künstlerischen Formkanones und Philosopheme der letzten ca. dreitausend Jahre begreift, sondern vielmehr als extrapolierende Fortführung, als eben aktuell wirksamste Mythenmaschine unter anderen möglichen. Das bedeutet konkret: Von Laika, Gagarin, Aldrin, dem Apollo-, dann dem Spaceshuttle-Programm, von der Mir, der Voyager und von Hubble in einer Sprache zu schreiben, die unapologetisch aus dem Vollen der Ausdrucksmittel und Metaphernvorräte aller Geschichtsepochen seit der attischen Polis schöpft. Ich sollte vielleicht einschränkend sagen: aller "westlichen" Geschichtsepochen, aber das kann sich ja - work in progress und all das - noch ändern; gut vorstellbar, dass eine allfällige dritte Augabe von "space race" auch Chuang'e - Sagengestalt und Mondsonde gleichermaßen - mit aufnimmt.
Zu den besten Qualitäten von "space race" zählt die souveräne Art, wie Campbell seiner Geschichte der Raumfahrt disparate Stoffe und Zitate einverleibt. Schwierig daran ist allenfalls eben die zugrundeliegende These Campbells selbst, der man nicht folgen muß, um den Band mit Genuß zu lesen: Dass sich nichts Wesentliches geändert habe; dass die alten ethischen und (meta)physischen Diskurse samt ihren Herschreibungslinien intakt geblieben seien beim Durchbrechen des Gravitationsfelds der Erde; dass es unter der Sonne der Geschichtsschreibung nichts Neues gibt und auf absehbare Zeit nicht geben wird ...
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