Rezension eines Ressentiments
»Jakob blieb allein zurück an der Furt im Jabbok. Ein Mann rang mit ihm, bis das Morgengrauen aufzog. Als er sah, dass er ihn nicht übermochte, schlug er ihn, und Jakobs Hüfte verrenkte sich, wie er mit ihm rang. «
(Genesis 32:23-33 Buber/Rosenzweig, adaptiert)
Auf die Frage, ob er konservativ sei, wird Felix Philip Ingold vermutlich antworten: »aber nein, ich bin nur reaktionär. « Wenn ich nicht seit Jahren ›VOLLTEXT. Zeitung für Literatur‹ abonniert hätte, auch weil ich mich immer wieder auf die differenzierten Aufsätze von Ingold freue1, ginge es mir jetzt so, als leide der Großinquisitor der Literaturkritik plötzlich an PMS.
In einer Polemik stellt Ingold die Jurys der Klagenfurter Tage der Literatur, sowie des Lyrikpreises Meran vor ein Standgericht, sein Standgericht—und da er offensichtlich gerade auch gedrängt ist, bei der Gelegenheit alles andere mitzuteilen, was er an der Literatur der Gegenwart als geistlos empfindet, entwickelt sich Ingolds Kernschmelze zunehmend zu einer Globalpolemik gegen die gegenwärtige Romanliteratur, die gegenwärtige Lyrik, gegen die gegenwärtige Literaturkritik und gegen so ziemlich alles, was sonst noch fähig ist Worte aneinanderzureihen.
In der bestürzenden Maßlosigkeit und Eindimensionalität seiner Hybris jedoch macht Ingold etwas offenkundig, das tatsächlich immerfort erkämpft sein will: ein Verständnis dessen, was gute Literatur von gefälliger Literatur unterscheidet, was wertvolle Literatur von trivialer Literatur unterscheidet. Ingold hält dies für eine Frage nach den »Kriterien« der Beurteilung von Literatur, das Maß der Kritik.
Es ist schade, dass es dieser Art von Polemik bedarf, um eine Debatte anzuschüren. Ich gehe im Folgenden so vor, dass ich zunächst die wichtigsten Punkte aus Ingolds Polemik herausarbeite, die meiner Ansicht nach zutreffend sind, danach zeige ich, an welchen Punkten der Autor irrt, kolossal irrt, und formuliere in diesem Zug eine Replik auf Ingolds Wonne an der Empörung.
Wo er Recht hat, hat er Recht.
Felix Philipp Ingold führt also die Wasser des Herrn über das Land, darin der »Literaturbetrieb« seine unreflektierte Unzucht betreibe und ISBN für ISBN den Pfuhl seiner Sünden mehre. Was Ingold aber vorträgt, ist nicht bloß eine Betriebsschelte.
Erster Punkt. Ingold beginnt mit einer mittlerweile wohl zum eigenen Genre avancierten Globalkritik der »diesjährigen« Klagenfurter Tage der deutschsprachigen Literatur. Er glaubt, die Jury (die für Ingold wohl längst zu einer Chiffre sämtlicher Jurys von Literaturpreisen mutiert ist) tendiere zu »unbegründeten Pauschalurteilen«. Es fehle ihr »an objektiven Kriterien und Prioritäten«. Man könne es schon sehen, wenn man »hin und wieder« die Fernsehübertragung verfolge. Leider aber funktioniert bei mir der Streaming-Dienst von 3sat.de ausgesprochen schlecht, aber vielleicht hatte ja Ingold seinen Videorecorder richtig programmiert, um mir eine VHS-Kassette zukommen zu lassen. Zur Kriterien-Frage aber im nächsten Abschnitt.
Zweiter Punkt. Der Petrarca-Preisträger unterstellt, dass die »professionelle Kritik […] mit der Laienherrschaft des Publikums paktiert«. Gegen diese plebiszitäre Kapitulation wettert Ingold sodann erbarmungslos. »Literatur und Kritik sind heute in einen Pakt verstrickt, der wohl die Trendbildung fördert, nicht aber der Qualitätssicherung dient und schon gar nicht der Durchsetzung riskanter, zumindest potenziell innovativer Schreibweisen«.
Diese Feststellung ist wohl wahr, aber so sehr ins Allgemeine hineingesprochen, dass sie eine Ursachenforschung für einen solchen »desolaten« Zustand vereiteln. Warum dominiert das persönliche Gefallen bei solchen Urteilsbildungen? Unter welchem Druck und welchen Einflüssen entsteht ein Verlust an kritischer Souveränität? Welche institutionellen, demographischen, intellektuellen Verschiebungen führen zu einer Annäherung an »das Publikum«? Was geschähe, wenn sie nicht stattfände? Warum ist die Ökonomie der Aufmerksamkeit so einflussreich?
Dritter Punkt. Maßgebend seien bei den Jury-Entscheidungen der Gegenwart wie auch der zeitgenössischen Literaturkritik (die Ingold gleich mitabhandelt) »außerliterarische Kriterien«. Dieser Punkt unterscheidet sich von der im ersten Punkt konstatierten mangelnden philologischen Kompetenz in einem wesentlichen Aspekt: Der Vorwurf ist nicht kompetenzkritisch, sondern ideologiekritisch. Ingold behauptet, es existiere ein Vorrang an »außerliterarischen Kriterien wie Authentizität, Einfühlung, Nachvollziehbarkeit, aber auch die Vernachlässigung künstlerischer Qualitäten (Textkomposition, Personalstil) bei der Qualifizierung der vorgelegten Texte«.
Vierter Punkt. Der Übersetzer von Ossip Mandelstamm und Guillaume Apollinaire verschärft den eben genannten Vorwurf noch, indem er ihn auf die Autoren selbst ausweitet: »Sind es nicht womöglich die Autoren selbst, die den Kunstanspruch aufgeben zu Gunsten vordergründig realistischer Darbietung realer Ereignisse, Befindlichkeiten, Erfahrungen; denen es also nicht so sehr um künstlerische Qualität als vielmehr um faktografische Authentizität geht; und die sich tatsächlich, diesseits der Literatur als Kunst, auf Lebens- und Erfahrungsberichte beschränken?«
Und hier kommt die schwerwiegendste Anklage, die Felix Philipp Ingold ins Feld führt: die naive Reverenz der Realität. Denn mit der Realität steht der Autor offenbar auf Kriegsfuß. Die Literatur sei primär rekonstruktiv. Sie beschränke sich vornehmlich auf »›Remimetisierung und Refiktionalisierung‹ realer Begebenheiten«. Diese unerträglichen Realienprotokolle vollziehen ihm zufolge in einer sehr konventionellen Erzählweise, die sich durchgesetzt hätte. »Experimentelle Schreibweisen und avantgardistische Programmatik« sei/en »obsolet«. Die perverse Sucht biographische oder halbbiographische Begebnisse oder die Begebnisse aus den Biographien anderer Menschen in primitiver Narrativik auszuführen, hätte sich nicht nur in der Romanliteratur, sondern »sogar« in der Dichtung unumkehrbar Bahn gebrochen.
Fünfter Punkt. Die gegenwärtige Literaturkritik sei allerdings impotent bzw. kolludiere sogar mit diesem geistlosen Ungestüm, das über das Einfallstor der Realität über die »Stilkunst« hereinbricht und mit grotesker Einfallslosigkeit niedertrampelt. Die zuchtlose »Laienperspektive« bewirke, dass »diese Art und Weise [der Literaturkritik] sich nicht mehr wesentlich von unreflektiertem Geplauder, wie man es von literaturbeflissenen Laien kennt« unterscheide.
Die Literaturkritik hätte ihre analytischen Kompetenzen preisgegeben und auf eine rauschartige Besprechungspraxis umgeschaltet, die bar jeglicher kritischen Distanz sei. »Alles ist auf Affirmation angelegt« oder »genaueres Hinhören, Hinsehen, Gegenlesen scheint nicht gefragt zu sein«.
Die Kritiker (wie auch die Autoren) seien auf »bekömmliche« Schreibweisen hin nivelliert; sie hätten sich mit »Rhetorik« und »pseudointellektuelle Phrasendrescherei« aus dem Olymp katapultiert; damit hätte die Autorenschaft, die Literaturkritik, die Jury(s) gewissermaßen eine Implosion der Literatur herbeigeführt, eine Kernschmelze der écriture, ein Prozess sei eingeleitet, der »sich nicht mehr aufhalten« lasse »und schon gar nicht mehr rückgängig« zu machen sei.
Sechster Punkt. Auch die jüngeren technischen Entwicklungen in Neuland seien, Ingold zufolge, der Literatur nicht gerade zuträglich. Vielmehr beglaubigen das »Liken« sowie das digitale »Rating« degenerierte Formen der Belletristik. Diese »Texte mit saisonaler Halbwertszeit«, die nichteingeweihte »Laien« in ihrer uferlosen Frechheit und plumper Ignoranz in elektronischen Medien »verbreiten«, markieren nun vollends den Niedergang der »traditionellen Kulturtechnik des Lesens«. Sie führe dazu, dass »Großkritiker« von »kleinen Rezensenten« abgelöst würden.
Siebenter Punkt. All dies, nun, schaffe ein Betriebsklima, das von »literarischem Fastfood« besessen sei und den melancholisch-depressiven »human touch« benötige, was insgesamt zu einer apokalyptischen »Macdonaldisierung des gesamten Kulturbetriebs« führe. Wäre übrigens nicht »McDonaldisierung« richtiger? Egal.
Lieber Herr Ingold: Kaufen Sie sich eine Tüte Brownies – es wird schon…
Die Auswahl aus Ingolds Anklageschrift, die ich oben präsentiert habe, enthält Vorwürfe, die sich nicht mit leichtherziger Ironie vom Tisch nehmen lassen. Auffällig allerdings ist, dass der Großinquisitor in seiner unbarmherzigen Polemik zwar uns alles mitteilt, das sein Herz betrübt, aber gleichwohl hält er keine Mittel der Tröstung bereit.
Ingold klagt an, aber: Wo sind seine konstruktiven Vorschläge, wo bleibt der Ratschluss seiner Weisheit, der Kredit seiner Erfahrung? Ist dieser permanente Gestus des Anprangerns auch seine persönliche Kapitulation vor Umständen, die (vielleicht vornehmlich) in seinem Kopf so düster sind, dort existieren und dort zu monströser Größe angeschwollen sind? Ist er selbst nicht ebenso ratlos wie die ahnungslosesten unter den Juroren, Kritikern und Autoren?
Auffällig ist indessen auch, dass er angesichts der verheerenden Nichtigkeit der jüngeren Literatur dennoch eine »Alibiautorin« kennt, die sich »halten« konnte, nämlich »einzig« Friederike Mayröcker. Er fragt, wo sie denn geblieben seien, die Glücklichen »vom Format einer Marie Luise Kaschnitz, einer Ilse Aichinger, eines Hans Erich Nossack oder Günter Eich« oder »selbst« Ingeborg Bachmann. Diese Liste an Garanten ist doppelt auffällig: Warum erwähnt Ingold nicht auch Luise Rinser oder Elisabeth Langgässer oder Heinz Konsalik?
Es ist einfach den glorreichen Geist der Vergangenheit zu beschwören, wenn man die gefällige Geistlosigkeit der Vergangenheit, den »Trash« der Vorangegangen einfach ausblendet.
Vielleicht ist es wahr, dass jüngere Autorengenerationen überdüngt sind, dies verbirgt aber nicht den Umstand, dass ältere Autorengenerationen offenkundig übersättigt sind.
Vielleicht ist es wahr, dass der Event- und Festivalcharakter der Literatur schadet, weil diese Formate das Alleinstellungsmerkmal der Literatur verschleiern, nämlich ihre Schriftlichkeit, die Lektüre in der Intimität des Ichs.
Überdüngung und Übersättigung. Beides ist verwerflich. Beides schadet dem, was wir Literatur nennen. Um diesen Überdruss an der zeitgenössischen Literatur zu überwinden jedoch, müssen wir überlegen, überdenken und uns über argumentativ solide Debatten verständigen.
Es mag sein, dass fast überall im Palast des Literaturbetriebs die Kerzen aus den Kronleuchtern entfernt worden sind; es mag auch sein, dass die Huren und Höflinge müde im Dunkeln schnarchen: aber in den Mansarden, den Latrinen und den Ställen, da brennt hie und da noch Licht. Ich möchte beispielsweise an Nico Bleutge, Carl-Christian Elze, Tobias Roth oder Max Czollek, aber auch Jean Krier erinnern. Ingolds Überdruss ungeachtet, ist es notwendig, sich die Verfassung der Literatur der Gegenwart – als Kunst – immerfort zu erstreiten, zu erkämpfen, auch wenn dies bedeutet, den Palast niederzubrennen.
»Objektive Kriterien«. Ingold wünscht sich für die Beurteilung von literarischen Kunstwerken sowohl Kompetenz als auch Kriterien. Was soll aber der Referenzrahmen dieser Kriterien sein, wer oder was ihr Garant? Wünscht sich Ingold tatsächlich die präskriptive Normästhetik des 17. und 18. Jahrhunderts zurück? Gewiss nicht.
Können aber die binnenliterarischen Kriterien – im Gegensatz zu Ingolds beklagten außerliterarischen Kriterien – rein philologische, texttheoretische, literaturhistorische Bezugspunkte sein? Verkennt Ingold nicht die Pluralität und Synchronizität von heterogenen poetischen Konzepten, die die Gegenwart möglich macht, wenn er auf seinem Standpunkt beharrt? Engt der Fanatismus seiner binnenliterarischen Kriteriologie nicht die Offenheit des literarischen Werks ein? Ist sie nicht eine bestimmte Perspektive, die den literarischen Text beherrschen will, die ihn monopolisieren möchte, die ihn unterwirft in einem autoritären Machtdiskurs, der sich schon für legitimiert hält, bevor er sich in Konkurrenz zu anderen Argumenten bewährt hat?
Was, wenn ich die Werke von Marcel Proust oder Hermann Broch als Quellen der Spiritualität lese; wenn ich Thomas Mann als Sittenlehre verstehe; wenn ich mich auf Homer im Sinne einer Traditionstheorie beziehe; wenn ich James Joyce beim Onanieren lese und all diese Werke nach diesen Maßgaben meiner Rezeptionsgewohnheit auch beurteile?
Was, wenn auch ebendiese Rezeptionsgewohnheit und Rezeptionsmotivation mich zu anderen, alternativen Schlüssen führt, als dem bereits vor dem eigentlichen Text vorstrukturierten Geplänkel und Formalismus einer Stilkritik?
Warum sollte ein Urteil, das auf einer schnöden philologischen Dressur basiert, geeigneter sein, um die Güte eines literarischen Werkes zu bestimmen, als Urteile, die aus alternativen Rezeptionshaltungen gewonnen werden und daher diese Texte innerhalb eines anderen Wertekanons beurteilen?
Wie begründet Ingold seine Anmaßung, dass z.B. Stilkritik ein besseres Kriterium sei als eine wie auch immer verstandene Authentizität? Ich finde beide Kriterien beispielsweise lächerlich, unproduktiv und, um es kurz zu machen: als vorbei.
Ich schlage daher nur ein einziges Kriterium vor: Die Maßgabe jedem Erzeugnis, das sich als Literatur verstanden wissen will, etwas abzugewinnen, selbst dann wenn es nur eine einzige Seite, ein einziges Gedicht, eine einzelne Zeile wäre. Es ist – angesichts der Unmenge an peinlichen künstlerischen Versuchen – viel schwieriger etwas Wertvolles in bestimmten Werken zu finden. Aber jede Kritik, jedes literarische Verdikt verhandelt auch die Sache der Literatur mit. Ich glaube, dieses Kriterium leistet entscheidendes: Es verhindert, voreilig expressive Tätigkeit abzutun.
Und wissen wir nicht, dass es möglich ist, jedes literarische Werk je nach Zitatlage zu loben oder zu verdammen? Wie sollte ein Kanon an angeblich objektiven Kriterien vor der Maßlosigkeit eines unvermeidbar subjektiven Kritikers vorbeugen? Es geht hier um Verantwortung, nicht um Maßstäbe.
Das schlechte literarische Kunstwerk, das vielleicht keins ist. In diesem Zusammenhang ist es wichtig einzusehen, dass auch das, was für minderwertige Literatur, für Kitsch, für Schund, für reinen Realismus gehalten wird, eine wichtige und notwendige Erfahrung ist in der Entwicklung einer ästhetischen Gefühlsprägung.
Ich argumentiere per Analogie. Den vergangen Sommer verbrachte ich in einem staubigen Kunst-Depot am Mittelrhein, wo ich unzählige unbedeutende Barockskulpturen inventarisierte. Es war außerordentlich schlechter Barock, sogenannter Bauernbarock, der mit schlecht gewichteten Proportionen, unmöglichen Faltenwürfen und rissig-dürftig aufgetragener Fassung in jeder Dorfkirche die Schauer der Andacht verstärkt.
Danach fuhr ich nach Paris und sah Nicolas-Sébastien Adams Prometheus in Ketten. Die Fallhöhe zwischen dem Bauernbarock und dieser Arbeit war – als Differenzerfahrung – umwerfend. Sie wäre aber ohne die Dürftigkeit der unbekannten Bildhauer zu sehen, die sich ehedem irgendwo im Westerwald stümperhaft abmühten, sie genau zu sehen, weniger intensiv gewesen.
Mit anderen Worten: Es lohnt sich auch schlechte Gedichte zu lesen. Wir brauchen Referenzbeispiele, um urteilen zu können, um dem Urteil gewahr zu werden, das sich in unserem Inneren aufdrängt, sooft wir ein neues Gedicht lesen, nachdem wir bestenfalls zuvor 10.000 andere gelesen haben.
Es lohnt sich schlechte Gedichte zu lesen, um die Differenz zwischen trübem Unvermögen, verzweifeltem Bemühen, bloßem Talent und der Gnade zu begreifen. Anders geht es nicht.
»Kleine Rezensenten«. Der Großinquisitor favorisiert Expertendiskurse. Spätestens aber seit Michel Foucault wissen wir auch, wozu monopolisierende Expertisen führen können, wie sie Missbrauch legitimieren können, wie sie eine Korrektur der Irrtümer des Establishments vereiteln, wie sie in Tyrannei gipfeln können.
Wieder eine Analogie: Foucault untersucht in Geburt der Klinik, wie sich der medizinische Diskurs im 17. Jahrhundert konstituiert bzw. institutionalisiert, wie sich dort Institutionen der Legitimation und eine Verwaltung sowie Akkreditierung von Wissen als medizinisches Wissen herausbilden und durchsetzen.
Mit Foucault können wir heute begreifen, wie medizinischer Diskurs Herrschaft ausübt, über die gesundheitliche Verfassung des menschlichen Körpers. Gewiss: Experten schützen uns vor Scharlatanerie, sie professionalisieren und heben bis zu einem bestimmten Grad den Goldstandard des Wissens; gleichwohl können wir auch sehen, wie sich in der Gegenwart die Penetranz von medizinischem Wissen ins Gegenteil von Gesundheitspflege verkehrt. Ließe sich nicht, das, was wir am medizinischen Körper feststellen, auch auf den literarischen Corpus übertragen?
Beraubt nicht eine pseudoprofessionalisierte Literaturkritik, die Diskursivität der Literatur von ihrem lebenserhaltenden Esprit? Und: Woher nimmt Ingold den Glauben, dass kenntnisreiche Literaturkritik gleichzeitig auch bessere literarische Werke ermöglicht?
Nehmen wir ein Beispiel aus den Kreisen der angeblichen »Großkritiker«: etwa Heinrich Detering, ein Mann, der mit den »Kriterien« dessen, was Ingold »Qualitätssicherung« nennt, vertraut sein dürfte. Ist sein dichterisches Werk angesichts seiner verdienten kritischen Auseinandersetzung mit Literatur daher qualitätsvoller? Nein. Es ist ein selbstgefälliger Akt der Barbarei.
Wir müssen nicht Orientierung im Dschungel der unzähligen Publikationen liefern, indem wir angeblich Lesenswertes von Nichtlesenswertes scheiden; wir müssen nicht die verlängerte PR von Verlagen sein; vielmehr scheint es dringlich, die Kluft zu überbrücken, die zwischen avancierten zeitgenössischen literarischen Konzepten klafft und einer Öffentlichkeit, in der sich ein gewisser Traditionsabbruch bzw. ein romantisch-expressionistischer-bürgerlicher Rückstand hinsichtlich literarischer Erzeugnisse der Gegenwart unmissverständlich ist; es geht darum, um eine Öffentlichkeit zu kämpfen, in der jene ästhetische Erfahrung, die die Literatur ist, sonst erlischt.
Das muss nicht im Modus der Anbiederung geschehen. Sich aber von der Öffentlichkeit abzuwenden, ist falsch, sich in einen kleinen elitären Zirkel einzukapseln, befördert nur den Trend, vor dem sich Ingold so sehr fürchtet, dass er in eine Embryonalstellung übergeht.
Meine Position ist im Gegensatz zu Ingold diese: Die Literatur offeriert einen universalen, zunächst prinzipienlosen Diskurs, dessen Beurteilung ausschließlich, unverfügbar, unübertragbar auf der subjektiven Ebene des Rezipienten liegt. Literaturkritik hat zu überzeugen, berauschen, befriedigen, die Lustbarkeit des Kunstwerks zu zelebrieren und evident zu machen: im besten Falle entsteht so ein bedeutungsvoller Diskurs zweiter Ordnung. Die Zeichen an der Wand sind ohne den Propheten Daniel leer; die Träume des Pharaos sind so lange beunruhigende Gespinste bis Joseph sie deutet.
Diese Position ist freilich anfällig, weil sie Gefahr läuft kapriziös zu sein. Aber sie ist das Beste, das wir haben. Diese Position appelliert an die unübertragbare Verantwortung der urteilenden Instanz; diese Verantwortung an einen subjektexternen Kanon an Kriterien abzugeben, wäre nicht nur unmündig, sondern auch unverzeihlich.
Diese Position besteht darauf, Literaturkritik deshalb zu unternehmen, weil sie Literatur als etwas Besprechbares, Bedenkbares, Bedeutungsvolles, auch Mühevolles und Bedeutungsproduktives zelebriert. Desto mehr Dokumente solcher Aktivität vorliegen, desto kritischer wird der dadurch herbeigeführte Konflikt der Interpretationen, desto reicher wird das Werk, desto tiefer, desto wirkungsmächtiger reicht seine Potenz in die Wirklichkeit hinein.
Im Bezirk der Kunst ist jedes Urteil ein Geschmacksurteil. Die Literaturkritik muss kein Kunstgericht sein, vielmehr sollte sie eine Inspirationslehre sein.
Muss sie dabei analytisch vorgehen? Unbedingt. Bedarf sie eines textkritischen Propriums? Keine Frage. Aber die Lust am literarischen Kunstwerk dabei zu trüben, das ist häretisch. Die (begeisterungsfähige) subjektive Responsivität hinter einer hermeneutischen Kulisse zu verbergen, wiederspricht der Natur des sprachlichen Kunstwerks, wiederspricht seiner Medialität als veröffentlichte Gabe.
Ingold mag das nicht leiden. Denn er hat sich offenbar längst daran gewöhnt, keine Rechenschaft abzulegen; er hat sich längst damit begnügt, nur zu einer angeblich »elitären« »Minorität« an Gleichgesinnten zu sprechen, zur mickrigen Sodalität der Wissenden; er spricht dabei aber auch nur zu den Übersättigten und den von Überdruss geplagten living classics des deutschsprachigen Literaturbetriebs. Das ist inakzeptabel und jemanden seines Standes, seiner Kompetenz, seiner Autorität und den Zeugnissen seiner Leistung unwürdig. So sehr seine Empörung angesichts dieser Kernschmelze des »Betriebs« angemessen ist, sollte sie sich vor dem Unmaß der Hybris und des Ressentiments hüten.
Es ist zu einfach, Herr Ingold, sich in den Trümmern des »Elfenbeinturms« zu verschanzen; kommen Sie lieber ins Offene: dort bauen wir zu Babel neu.
- 1. Ich weise nur auf z.B. den Tolstoi-Aufsatz in Nr. 6/2010 hin, in dem zu lesen ist: »Bei Tolstoj allerdings hat der Widerspruch Methode; nur im Widerspruch – praktiziert als Selbstverleugnung, Selbsttäuschung, Selbstüberschätzung, Selbstanklage – eröffnet sich ihm der Sinn des Lebens als ein permanenter Widersinn: nie zu ergründen, bloß zu erfahren und zu akzeptieren als Fatalität oder, ins Positive gewendet, als göttlicher Ratschluss.«
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