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Kritik

"Mit jedem Schritt trete ich auf das Grab von jemandem"

Hamburg

Angesichts des Auschwitz-Prozesses von Lüneburg 2015 veröffentlichten Peter Huth und seine Mitautoren eine Dokumentation, die aus vielen Gründen notwendig scheint: Zunächst ist, wie Schoeps in seinem Band Begegnungen jüngst bemerkte, der Kenntnisstand zur Shoa nicht so umfassend, wie man meinen möchte, jedenfalls im Bewußtsein der Gegenwart, weshalb vielen Auschwitz „kaum mehr als eine Wortmetapher, nichtssagend und bedeutungslos”, sei. Dann ist Auschwitz – darum – nicht hinreichend mit dem verbunden, was an Logistik oder Formalia darin sich zu Monstrosität auswuchs, die Rede vom „Amtsschimmel […], in extremis als apokalyptisches Roß geritten” (Adorno), ist heute darum kaum mehr verständlich; im Falle Oskar Grönings geht es aber – auch – um genau diese Art der Schuld. Weiters wurde der Prozeß nicht auf Video festgehalten, auch Tonaufzeichnungen wurden nicht zugelassen – die Stimmen der Zeugen zu bewahren erschien dringlich. Und schließlich gilt, „dass es Schuld gibt, die nicht verjährt, […] bis in alle Ewigkeit”, wie Daniel Müller in der Zeit formulierte, was das Urteil und dessen Kundmachung, der diese Dokumentation gleichsam zugehört, auszudrücken hatten.

Gröning wollte zur SS, ohne politisch orientiert zu sein, ohne von ihr mehr zu wissen, als das sie „eine Kaste” war – zugleich wollte er in die Finanzabteilung. Dieses Bild des mörderischen Mitläufers wiederholt sich, so schildert der Angeklagte den Mord an einem Baby, doch nicht der Mord, sondern dessen Durchführung mißbehagt dem Mann: „Es wäre etwas anderes gewesen, hätte er eine Pistole genommen und es damit erschossen.” Es aber zu erschlagen..? Die regelkonforme Ermordung nach in fein ziselierte Paragraphen gegossenem Unrecht ist, was man in der Gegenwart zuwenig mit dem Nationalsozialismus verbindet, zugleich geradezu Kontinuitäten schaffend, wenn zwecks geregeltem Flüchtlingsanstrom Routen gesperrt werden, worauf auf den verbleibenden Routen Menschen umkommen. Gröning „will Reue zeigen”; ob es Reue ist, ob er, was er auf allenfalls verquere Weise hat, als Reue zeigen kann..? – Größe dagegen bei den Opfern, bei deren Einvernahme der Täter wegschaut, er „will ihren Schilderungen offenbar nicht zuhören”, duzt einen von ihnen, während er, so der Richter, selbst „alles in epischer Breite erläutern” will; Eva Kor also sagt:

„Ich habe den Nazis vergeben. Meine Vergebung spricht die Täter nicht frei. Ich habe dadurch wieder Macht über mein Leben. […] Vergebung ist ein Akt der Selbstbefreiung”,

so die Zeugin, die dann Gröning adressiert:

„Das Nazi-Regime hat nicht funktioniert. Sagen Sie das der Jugend, Herr Gröning!”

In der Folge die Berichte, die das Metaphorische von Auschwitz aufbrechen, die die Realien liefern, wo die Rede vom „Grab in den Lüften” sonst unwirklich werden könnte, im Vergessen; „durch den Schornstein gegangen” sei seine Familie, erfährt Max Eisen, ein einvernommener Überlebender, von den Mördern, ein anderes Opfer, Eva Pusztai-Fahidi, erfährt durch die Wärterin ähnliches: „Sie hat uns in die Augen gelacht und auf den Rauch gezeigt: »Dort, dort sind sie.«” – „Mein Vater hat kein Grab”, so Angela Orosz-Richt:

„Als ich Auschwitz […] zum ersten Mal besuchte, lief ich dort umher wie in Trance. Ich konnte kaum atmen. Ich hatte Angst: Mit jedem Schritt trete ich auf das Grab von jemandem. Nichts kann diesen Alptraum auslöschen.”

Industrielle Vernichtung. Was die Zeugen, so berichten sie, nicht glauben konnten, wie auch der Vater eines anderen Zeugen, William Glieds, es nicht glauben wollte und darum seinem Sohn sagte:

„Glaub das nicht, das sind zivilisierte Menschen, die machen sowas nicht. Die bringen kleine Mädchen nicht um.”

Ebenso mag der Wortgebrauch irritieren, rückblickend sagt Ted Bolgar, Zeuge, im Sinne einer klärenden Sprache: „Krematorium zu den Öfen zu sagen, finde ich zu freundlich.” Die schöne Sprache und die Hoffnung lähmten, statt zu helfen, so der Selbstvorwurf Pusztai-Fahidis, gerade auch „so viele kluge Juden”:

„Man hat […] gesehen, der Krieg ist schon fast zu Ende, die kleine Zeit kann man schon aushalten. Man hatte immer noch die Hoffnung.”

Doch es wurde gemordet, effizient und nach Vorschrift, so muß man nach Grönings Auslassungen wissen, und manchmal auch nicht nach Vorschrift, eine Differenz, die Gröning betont, als wären die Vorschriften nicht schon durch und durch inhuman gewesen. Uniformen bleiben dagegen für eine Überlebende, Irene Weiss, Ausdruck für „Terror”, sowie dafür, „wie weit die Menschheit sinken kann”. Wer sie trug, vergaß allzu leicht, „verantwortlich für seinen eigenen Gehorsam” zu sein, so die Anklage. Die Unterschiede, die Gröning machen wollte und will, sind keine; doch der Versuch, sie zu machen, wird bis heute immer wieder unternommen. Gegen diese Differenz und gegen die Reinwaschung und das Wegschauen – hier: im Prozeß und vor dem Prozeß, denn ein Versetzungswunsch Grönings ist weder dokumentiert noch glaubhaft – stehen die Aussagen:

„Ich muss wirklich sagen, das ist eine Art von Genugtuung, dass ich vor einem deutschen Gericht aussagen kann. Das, was damals ein Verbrechen war, ist es auch […] in alle Ewigkeit. Es geht mir nicht um Strafe, es geht um ein Urteil und eine Stellungnahme der Gesellschaft.”

Man könnte die Berichte und auch diesen Wunsch nun weiter und mehrfach belegen, doch im Grunde ist dieses Statement, was man als Rezension unter den Band setzen könnte: Es geht um eine Stellungnahme der Gesellschaft – „ein später, leider allzu später Schritt hin zur Gerechtigkeit”, die auch darin nun bestehen muß, daß diese Dokumentation gelesen wird.

Eine lehrreiche, eine bestürzende Lektüre; und eine, die mehr als die meisten Bücher so etwas wie eine moralische Pflicht sein könnte.

Peter Huth (Hg.)
„Die letzten Zeugen“
Springer und Reclam veröffentlichen Protokolle des Auschwitz-Prozesses in Lüneburg
unter Mitarbeit von Heinemann, Philipp; Feldhaus, Kai; Gehrmann, Laura; Hasse, Torsten; Losensky, Anne; Sturm, Axel; Wieberneit, Anja Nachw.: Jasch, Hans-Christian
Reclam
2015 · 277 Seiten · 12,95 Euro
ISBN:
978-3-15-011057-7

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