Ein nötiges Buch
Im Januar jährte sich zum siebzigsten Mal die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch Truppen der roten Armee. Auf einer Gedenkveranstaltung wurde diesem Ereignis gedacht und zugleich wurde es genutzt, um aktuelle politische Interessen zum Ausdruck zu bringen. Das war zum Teil beschämend.
Gleichzeitig demonstrieren kryptofaschistische Kräfte in Dresden und anderen deutschen Städten gegen eine angebliche Islamisierung des Abendlandes. Unter anderem auch einige meiner Nachbarn, was mich äußerst schockiert.
Es ist also wichtiger denn je, die Erinnerung an die deutsche Geschichte aufrecht zu erhalten, die untrennbar mit dem Namen Auschwitz verbunden ist. Dazu sind Bücher wie das hier zu besprechende von unschätzbarem Wert und von enormer Wichtigkeit. Während also hier in Leipzig die Legida Straßen und Plätze beschmutzte und ich Aufgrund einer körperlichen Behinderung nicht an den Gegendemonstrationen teilnehmen konnte, las ich Meinholds Buch Erben der Erinnerung.
Zunächst, denke ich, ist der Mutter Philip Meinhold zu danken, die anlässlich ihres 70 Geburtstags den Wunsch aussprach, ihre Kinder und Enkel mögen mit ihr die Gedenkstätte des Vernichtungslagers Auschwitz besuchen. Dieser Wunsch führte dazu, dass sich die Mitreisenden auf ihre je eigene Weise auf diese Reise vorbereiteten und in dieser Vorbereitung Familienmitglieder wieder aufleben lassen. Der Schriftsteller und Journalist Phillip Meinhold dokumentiert in seinem Text sowohl seine vorbereitende Recherche als auch die Reise selbst. Er begibt sich auf eine Spurensuche. Gleichzeitig erzählt er aber auch die äußerst beeindruckende Emanzipationsgeschichte seiner Mutter.
Meine Mutter ist Jahrgang 1937, hat erst spät das Begabtenabitur gemacht und studiert – nach einem Leben als Hausfrau und Mutter.
Was in diesem Satz anklingt, ist die untrennbare Verbindung von Geschichte und Biografie, ihre Verwirbelung, deren Auflösung letztlich das vergangene Jahrhundert freilegt und deren Nachwirkungen bis heute spürbar bleiben. Dass das Vergangene noch nicht einmal vergangen sei, wie William Faulkner schreibt, wird in diesem Text mehr als deutlich.
Und Meinhold erzählt in seinem Essay die Vergangenheit als Gegenwart, holt so die Opfer ins Präsens zurück. Er erzählt auch von den Verstrickungen der nichtjüdischen Verwandten und jüdische Verwandten, die ihren je eigenen Leidensweg gehen mussten. Wie Tante Trude zum Beispiel, die bei ihrer Mutter wohnte, der Urgroßmutter Meinholds, welche Theresienstadt überlebte.
Erst nach dem Tod ihrer Mutter 1953 zog Tante Trude in ihre erste eigene Wohnung. Sie war 52 Jahre alt, arbeitete in einer Konsum-Filiale, und wohnte in einer kleinen Einraumwohnung in Berlin-Adlershof, in der ich sie mit meiner Mutter später regelmäßig besuchte. So habe ich als Kind die DDR kennengelernt.
Meinhold entwirft ein Porträt dieser Tante, dass zu den besten und eindringlichsten literarischen Porträts gehört, die ich gelesen habe.
Politische Verwerfungen, Faschismus und die daraus resultierende Teilung Deutschlands werden im Alltäglichen sichtbar und spürbar. Allein die Beschreibung der Beerdigung dieser Tante auf dem Jüdischen Friedhof in Ostberlin ist dabei kaum zu übertreffen.
Meinholds Sprache ist nüchtern. Sie hält sich mit Ausschmückungen und Interpretationen zurück. Der Text verlässt sich auf Dokumente und zieht literarische Schilderungen heran. Allen voran wären Texte von Ruth Klüger zu nennen, die als dreizehnjährige Mädchen zur gleichen Zeit in Auschwitz eingesperrt war wie einige Verwandte Meinholds. Als weiterer Text steht W. G. Sebalds Austerlitz Pate. In der essayistischen Anlage des Textes gelingt es Meinhold vorgefundenes Material mit eigenen Schilderungen meisterlich zu verknüpfen.
So hält Meinhold Erinnerungen wach, die er selbst schon vermittelt bekam. Das ist politisch notwendig einerseits, auf der anderen Seite ist es aber auch große Literatur. Pflichtlektüre möchte ich sagen, auf jeden Fall werde ich dieses Buch meinen Töchtern dringend empfehlen, aber auch jedem anderen.
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kommentar / abschaum
Beitrag gelöscht. Wir dulden keine antisemitischen Äußerungen. //JF
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