Realismus
Chaim Nolls Die Synagoge ist für mich in doppelter Hinsicht ein wichtiges Buch. Einerseits erzählt es von Israel, einem Land, das als Name präsent in den Medien ist wie kaum ein anderes aufgrund des andauernden Konfliktes im Nahen Osten. Ein Land, von dem ich außer Oberflächlichem, kaum etwas weiß. Zum anderen lässt mich dieser Roman über realistisches Erzählen nachdenken und beweist gleichzeitig, dass es eine technische Norm für Literatur nicht gibt. Das Wirkliche ist das Mögliche, um einen Hegelgedanken an dieser Stelle einmal umzudrehen ins Positivistische.
Die israelischen Autoren, die ich gelesen und über alle Maßen schätze, wie Aharon Appelfeld und Yoel Hoffmann, erzählten vom alten Europa vor ihrer Vertreibung und den Mord an ihren Familien oder von der Vertreibung und vom Mord selbst. Dabei bedienen sie sich einer sehr klaren und einfachen Sprache, was mir Appelfeld einmal in einem Gespräch damit begründete, dass er ja erst in Israel nach dem Krieg hebräisch gelernt hätte und sich deshalb die Komplexität ihres Sprachgebrauchs zunächst entwickeln musste.
Dem wäre allerdings entgegenzuhalten, dass es gerade seiner Sprache eventuell etwas an Komplexität fehlt, was ihrer Schönheit allerdings überhaupt keinen Abbruch tut, zumindest jener Schönheit, die sich in die Übersetzung gerettet hat.
Bei Chaim Noll nun liegt der Fall etwas anders, denn er schreibt deutsch und demonstriert ein enormes Sprachgefühl. Aufgewachsen ist der Autor in der DDR und siedelte 1984 nach Westberlin über. In den Neunziger Jahren ging er nach Israel, wo er heute in einer Stadt in der Negev-Wüste lebt.
Eine Stadt in der Negev-Wüste bildet auch den landschaftlichen Hintergrund des Romans Die Synagoge, historisch gesehen in der Zeit kurz nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in New York. In einem Ort, der geprägt ist von landschaftlicher Kargheit, aber auch von Hochtechnologie. Forschungseinrichtungen der Universität sorgen für eine buntzusammengewürfelte Gesellschaft. Auf engem Raum finden sich Charaktere verschiedenster kultureller und religiöser Prägung und Herkunft. Sephardische Juden, Orthodoxe aus Nordafrika. Liberale amerikanischen und europäischen Ursprungs.
Sie gemeinsam nutzen eine Synagoge, einen Neubau im Herzen des Ortes, der lange Zeit leer stand, sich aber wieder zu einem kulturellen Zentrum und Ort der Debatte entwickelt. Oder sie lehnen auch die Benutzung ab, an der Wahrnehmung des Baus kommen sie allerdings nicht vorbei.
Sehr beeindruckt hat mich die Figur Sallys, ein Bäckersohn, der während seines Armeedienstes zum orthodoxen Judentum gefunden hat. Er ist eine Art Hausmeister im Ort und aufgrund seiner Körperfülle ausschließlich mit einem Motorroller unterwegs.
Man muss sich im Leben mit den Möglichkeiten einrichten. Begreifen: Die Welt ist, wie sie ist. Und Sally ist ein Mann der Tatsachen. Wenn hier nur solche Leute leben, muss er mitmachen und das schlimmste verhindern.
Noll lässt den erzählerischen Blick über die einzelnen Mitglieder der Gemeinde gleiten und verschiebt dabei jeweils leicht und kunstvoll die Perspektive, so dass ein Kaleidoskop aus Innenansichten entsteht, die sich jeweils in der Position der Anderen spiegelt. Dies scheint mir gleichsam ein Modell für politische und religiöse Toleranz zu sein.
Gleichzeitig ist es auch ein Beweis dafür, dass realistisches Erzählen durchaus noch eine Möglichkeit des Schreibens ist, dass es sich ganz und gar nicht abgewirtschaftet hat, wie ich eine Zeitlang dachte. Denn in der Schule sind wir doch bis zum Umfallen mit dieser Schreibweise gequält worden, natürlich weil man ihr unterstellte, sie würde gewissermaßen automatisch die Ideologie der Partei der Arbeiterklasse, wie sich die SED gern nannte, transportieren.
Aber die besten Bücher dieser Art behielten doch einen Nachklang, der auch die politische Position des Deutschunterrichts und seine ideologische Vereinnahmung unterlief. Ich denke an Werke wie Gorkis Die Mutter, Seghers' Das siebte Kreuz, aber auch an Die Abendteuer des Werner Holt, das Chaim Nolls Vater Dieter Noll verfasst hat. In allen diesen Büchern ist von Menschen die Rede, die angesichts einer unmenschlichen Umgebung so etwas wie Menschlichkeit entwickeln und natürlich handelt es sich hier um literarische Utopien.
Das bedrohliche Szenario in Die Synagoge hat sein Bild weit vom Ort der Handlung entfernt in New York. Aber aufgrund der Medienwirklichkeit ist die Welt zum Dorf geworden und New York befindet sich nebenan. Ich kann mich noch genau erinnern, wie ich mit Nachbarn quasi paralysiert vor dem Fernseher saß. Und auch die jüngsten Entwicklungen in Gaza oder im Irak lassen mir Nolls Buch umso wertvoller erscheinen; sowohl als realistische Darstellung Israels, als auch als realistische Utopie.
Fixpoetry 2014
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Kommentare
Lieber Jan, ich stimme dem
Lieber Jan, ich stimme dem Hervorgehobenen zu:
»Zum anderen lässt mich dieser Roman über realistisches Erzählen nachdenken und beweist gleichzeitig, dass es eine technische Norm für Literatur nicht gibt.«
Allerdings ist das realistische Erzählen bereits eine Norm, wie ich ja versuchte andernorts zu zeigen. Vielleicht keine technische, aber sicher eine ganz subtile, die sich bloß so verkleidet als wäre sie bereits Ausdruck und Abdruck einer angeblich realen Welt.
Ich bin nicht ganz sicher, aber ging der Hegelgedanke nicht so, dass Hegel jenes, was vernünftig ist als wirklich und umgekehrt bezeichnete? Das wäre ja dann gerade die Absage an die so genannte objektive Welt (die durchdrungen sein soll vom objektiven Geist), denn wahrlich das, was sich uns in dieser Welt zeigt, mag viele Attribute zulassen, als letztes würde ich aber »vernünftig« wählen. Nun gut, ich nehme mal an, dies lässt sich nur domänenbezogen verstehen - also bei Hegel, denn seine Gedanken zum Wirklichen, Möglichen und Vernünftigen beziehen sich ja - wenn ich das richtig erinnere - auf seine Rechtsphilosophie. Und welche Rechtsphilosophie ist in dem Sinne real?
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