Schreiben gegen die Norm(en)
In seinem Kommentar zur Verleihung des Büchner Preises an den Lyriker und Prosaisten Jürgen Becker (*1932) unterstellt jüngst der ZEIT-Literaturkritiker Ulrich Greiner »viele[n] deutsche[n] Autoren« einen »Realismus, einen oftmals einfältigen«, der einem Nacheifern des amerikanischen Erfolgsmusters geschuldet sei. Greiner bekräftigt die Entscheidung der Darmstädter Akademie, einem fast Zweiundachtzigjährigen den wichtigsten Literaturpreis in Deutschland verliehen zu haben, und die Jürgen Becker als »maßgebliche Stimme der zeitgenössischen Poesie« feierte.1
Aus der Sicht Ulrich Greiners schreibt Becker in einer anderen Tradition als das, was die »amerikanische Illusionsmaschine namens Realismus« dieser Tage hervorzubringen scheint. Unterschwellig nimmt man bei Greiner wahr, dass er hier eine Tradition meint, die man als experimentelle Art des Schreibens bezeichnen könnte. Man liest vom Schreiben gegen literarische Gattungen und Normen, der Begriff »Avantgarde« fällt.
Greiner arbeitet bei Becker das Offene heraus; dies nicht nur als Bedingung seines angeblich experimentellen Schreibens, sondern auch als Wert der Rezeption. Unweigerlich drängen sich Anknüpfungsmöglichkeiten mit dem Poetischen an sich auf, ist doch Poesie nichts anderes als eine Bewusstseins-, ja Lebensform, die gerade durch Offenheit in ihrer (bewusst kodierten) Geschlossenheit besticht.2 Eine solche poetische Literatur also – und hierbei ist nicht nur an Lyrik, sondern ebenso an Prosa zu denken – »ist offen für Wahrnehmung und für Assoziationen, für Spiegelungen und für Brüche« – auch das lesen wir in Greiners Kommentar.
Das alles sind keinesfalls bloß wohlwollende Interpretationen eines Literaturkritikers, der mit seinen Feuilletonbeiträgen jenen institutionalisierten Teil des Literaturbetriebs nobel protegiert. Jürgen Becker selbst spricht von einer experimentellen Schreibe. Im Interview mit dem Kulturjournalisten Martin Oehlen auf www.juergen-becker.com (Letzter Zugriff: 9. Juni 2014) beschreibt der Autor sein lyrisches und prosaisches Schreiben als durchzogen vom Prinzip des Impulses. Zum Schreiben gehörten, so Becker, »Assoziationen, dazu gehört die permanente Korrespondenz von Gegenwart und Vergangenheit. Es ist ein offenes Schreiben.«
Auf die Frage nach der »Maxime« seiner Poesie antwortet Becker, dass sein Schreiben nicht vorbestimmt sei durch »irgendeine Gattung«. Vielmehr entstehe hiergegen der poetische Text »nach Impuls«, mal lyrisch, mal erzählerisch. Ich lese es so: Immer ist Poesie dann, wenn Experiment und Impuls anwesend sind. Das wird etwa in Beckers Text Einzelheiten. Wiepersdorfer Journal deutlich. Ein Auszug daraus:
»es beginnt auf den nächsten Seiten
die ersten Schritte führen zurück in eine Zeit, die eine Zeit
der versäumten Korrespondenzen istdie Landschaft der Kindheit öffnet sich
das Geräusch der Pferdehufe am frühen Morgen; der Erzähler
findet die Fortsetzung seiner Erzählung«3
Oder auch in seinem, dieser Tage oft zitierten Gedicht Wiederholtes Konzept, das Pate steht für Beckers Poetik. Ebenso ein Auszug:
»Die Fenster sind
offen, und das Einmalige kann man nicht
festhalten, auch wenn man aufhört
mit jedem Vergleich … der Wind schreibt auf seine Art
die Bewegungen vor. Also noch einmal, es gehtum die Wiedergabe der Augenblicke, die plötzlich
etwas unterbrechen … so scheint es, wenn auch
die beiden Krähen jetzt unbewegt verharren
über dem frisch gepflügten Feld. Die Jahreszeit ist esnicht, daß Verwirrung entsteht und zugleich
eine Situation, die angenehm ist undganz ohne Zwang in die Dämmerung übergeht.«4
Das Offene und Experimentelle als poetologische Prinzipien des Schreibens zu begreifen, ist einem grundlegenden Motiv der klassischen Moderne geschuldet, das etwa im Expressionismus, Dadaismus und Surrealismus seinen Ausdruck fand.5 So gesehen umfasst das Experiment als Figur des Denkens neben dem Impulsiven und Offenen immer auch den Mut zu Alternativen, den Mut zum Spekulieren gegenüber dem Gegenwärtigen, insbesondere gegenüber dem, was gemeinhin als das (literarische, gesellschaftliche, politische) Reale bezeichnet wird. Eine experimentelle Art des Schreibens soll hier also als ein Schreiben verstanden werden, das sich nicht nur gegen den literarischen Status Quo erhebt, sondern sich auch auf inhaltlich-thematischer Ebene als ein engagiertes Vorgehen gegen bestehende Normen und festgefahrene Mentalitätsmuster versteht; dies freilich immer zurückgebunden an das Schreiben selbst, d. h. im Modus des Poetischen, nicht als Dokumentation des Politischen.
Auch wenn auf den ersten Blick die Literatur in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg kaum vor dem Hintergrund des Experimentes, des Spekulativen und des Alternativen betrachtet werden kann – die moralinen Erwartungen der adornoschen Gewissensästhetik waren zu groß –, hat es auf den zweiten Blick wohl aber doch einige (eher subkulturelle) Versuche gegeben, an die Ursprünge der Moderne literarisch anzuknüpfen; dies nicht, um rein affirmativ Gedanken von vor dem Krieg zu kopieren, sondern gerade moderne Form- und Inhaltsvorstellungen literarisch zu transformieren und so etwas Neues zu schaffen. Die momentan stattfindende Ausstellung der Camaro Stiftung mit dem Titel Berlin surreal ist ein Beleg für diese These. Berlin surreal zeigt das Künstlerkollektiv rund um das Kabarett Die Badewanne, das sich seit 1949 in den Räumen der Westberliner Femina-Bar etablierte. Die Gruppe um den Schriftsteller Johannes Hübner (1921-1977) und den Maler Alexander Camaro (1901-1992) stand der französischen Literatur des Surrealismus und Existenzialismus nahe und verarbeitete die Kategorien des Surrealen, des Absurden und des Traum(es/atischen) vor dem Hintergrund der von Mittellosigkeit und Teilung bestimmten Nachkriegszeit in Deutschland. Man bemühte sich um neue, engagierte Experimente, ohne den Surrealismus eines Aragon oder Breton einfach nur zu simulieren. Dies wurde insbesondere durch die Umsetzung eines interdisziplinären und multimedialen Kunstansatzes erreicht. Zum Kabarettprogramm gehörten neben Musik- und Tanzbeiträgen auch theatralische Inszenierungen von Gedichten, Kafka wurde oft vorgetragen.6
Im Sinne der von Jürgen Becker gedachten »permanente[n] Korrespondenz von Gegenwart und Vergangenheit« sind vergleichbare Experimente auch heute fortzuführen! Becker selbst kann so gesehen vielleicht als motivierendes Bindeglied dienen zwischen einer Generation, die sich hinsichtlich ihres Geburtsjahrganges noch recht nahe an die Epoche der klassischen Moderne anschmiegt, und jener, die immer heute noch im trockenen Filz des ästhetischen Nachkriegsdeutschlands schreibt. Ich bin beim positiv gestimmten Teil meines Beitrags angekommen und bei der »längst fällige[n] Anknüpfung an verschüttete Traditionen«7, wie es kürzlich auch Jan Kuhlbrodt auf den Punkt brachte.
Man hört die Tage viel Kritik über die Art wie die zeitgenössische Literatur angeblich beschaffen sei. Fast immer ist der Ton ablehnend, selten ist etwas positiv gestimmt, noch seltener wird etwas positiv bestimmt. Die Stimmungsmache richtet sich stets abgrenzend gegen etwas Vorhandenes, das der Kritik würdig erscheint. Ulrich Greiner schimpft auf einen einfältigen Realismus, sagt aber nicht, was er sich stattdessen wünscht! Zugegeben, er lobt das Offene bei Jürgen Becker, fordert eine Literatur, die nicht »das Schlafen beim Schmökern« fördert, sondern das »Denken beim Lesen«8, aber dem Gegenstand seiner Kritik – dem Realismus in der Literatur – setzt er nichts Bestimmtes oder Bestimmendes entgegen. Was aber könnte das sein? Das Nicht-Reale? Das Para-Reale? Das Sur-Reale? Und weiter gefragt: Wie steht es heute um die engagierte Befürwortung einer Sache, einer Poesie, einer Prosa, einer Lyrik?
Mein Versuch einer Antwort:
I.
Ich befürworte eine surreale Prosa und Lyrik. Eine Prosa und Lyrik über (sur-) und neben (para-) der Norm. Zentral für jeden Realismus ist die Annahme, die fassbare Welt sei objektiv vorhanden und könne im Werk als Realität dargestellt werden. Dies ist aber deshalb schon unmöglich, weil die Annahme – der Realismus – selbst relativ ist; »er wird durch das Repräsentationssystem festgelegt, das für eine gegebene Kultur oder Person zu einer gegebenen Zeit die Norm ist.«9 Daneben ist der Realismus philosophisch betrachtet mehr als müßig, also ohne praktische Bedeutung, denn er vertritt die Annahme, dass es von der Beobachterposition der Subjekte unabhängige Phänomene in einer (sprachlich fixierten) Außenwelt gäbe, auf die diese Subjekte auch noch erkenntnismäßigen Zugriff hätten. Sicher ist dies nicht der Ort einer philosophischen Auseinandersetzung, stellt man sich dieser aber dennoch, kommt man am Ende auf ein Ergebnis: Mit Alberto Giacometti, »Realismus ist Quatsch!«10. Realismus – der Ismus des (angeblich) Realen – ist eine Norm und im Verständnis dessen, was Literatur ausmacht, sehe ich in ihr gerade die Chance auf etwas, das jenseits von Norm entsteht.
II.
Aus dieser Annahme lässt sich ableiten, dass eine surreale Prosa und Lyrik auch eine mutige Prosa und Lyrik ist. Schreiben gegen die Norm(en) benötigt den notwendigen Willen, gegen Bestehendes, seien es Gattungen, seien es ästhetische Positionen, seien es Modethemen oder -motive, literarisch anzutreten. Eine solche Prosa und Lyrik kann heute freilich kein an militärischen Metaphern entwickelter, resoluter Vorstoß mehr sein, wohl aber immer noch engagiert; dies nicht, weil sich aus einer solchen Literatur eine bestimmte (ideologische) Position direkt ableiten ließe, sondern gerade weil sie auf indirektem (medialem) Wege versucht, mutig eine Alternative neben das oft so ängstlich Reale zu stellen.11 In diesem Sinne – und nur in diesem! – ist Sartres Aussage, dass »Kunst Engagement ist«12 auch heute keinesfalls obsolet.
Ich frage bewusst nach der engagierten Befürwortung einer Sache, nicht nach der Befürwortung einer engagierten Sache, der die Poesie bloß folgt, um zusätzliche Kommunikationskanäle für ein bestimmtes Anliegen nutzen zu können. Die Sache, von der ich hier spreche, verweist nicht zuletzt auf die Sprache selbst, die, zwar kritisiert, aber niemals verlassen werden kann. Das ist Fluch und Segen des Schreibenden.
III.
Eine surreale Prosa und Lyrik ist eine offene Prosa und Lyrik, eine Prosa und Lyrik breiter Interpretationsmöglichkeiten. Sie ist syntaktisch und semantisch dicht und zugleich offen, sie stellt eine multidimensionale Repräsentation dar, sie ist komplexes Symbol.13 Eine solche Literatur sucht gerade nicht eine eindimensionale Anknüpfungskommunikation, die – wie im Realismus gefordert – in angeblich objektiven Kategorien des Verstehens denkt. Surreale Prosa und Lyrik steht auch über dieser Norm, weil sie im Bewusstsein entsteht, dass Dinge, die gezeigt werden (und nicht gesagt), gar nicht verstanden werden können wie die einfachen Symbole konventionell-sprachlicher Informationsverarbeitung.
Will surreale Prosa und Lyrik auf allen Ebenen offen sein, kann sie ihr Anliegen selbst gleichfalls nur offen, nicht normativ begreifen. Das ist der Grund, warum nicht nur der Ismus des Realen, sondern jedweder Ismus abzulehnen ist. Hier wird keine surrealistische Prosa und Lyrik verhandelt! Der Unterschied hat Gewicht.
IV.
Eine surreale Prosa und Lyrik ist eine lebendige Prosa und Lyrik, eine Prosa und Lyrik des konkreten Lebens, nicht abstrakter Welten. »Leben« ist dabei nicht nur Thema einer solchen Literatur, das Schreiben surrealer Prosa und Lyrik selbst ist schon eminenter Bestandteil des Lebens und soll hier als eine Literatur verstanden werden, die im existenziellen und substanziellen Bedeutungskontinuum oszilliert. Lebendige Prosa und Lyrik ist für andere, für Leserinnen und Leser, niemals kann sie im Autoren-Ego aufgehen, denn sie stellt im Wesentlichen eine am rezipierenden Anderen ausgerichtete Kommunikation dar. Diese kann unter Berücksichtigung von III. sicher kein schlichtes Sagen bestimmter Inhalte bedeuten, sondern ausschließlich ein Zeigen poetischer Gegenstände, die aus dem Leben der Autorin erwachsen und für das Leben derjenigen bestimmt sind, die dieses (freiwillige) Angebot annehmen. Autorinnen-Ego meint übrigens nicht die literarische Berücksichtigung der Beobachterposition des Schreibenden, sondern das in Text geronnene Set an Befindlichkeiten, die allzu oft mit existentiellen Themen verwechselt werden.
Schreiben gegen die Norm(en) ist neben diesen vier Thesen gleichfalls als ein Schreiben gegen die Vorstellung einer normativen Tradition selbst zu verstehen. I. bis IV. sind Thesen, die mancher Surrealist und manche Dadaistin zu gern unterschrieben hätte. Schreiben gegen die Norm(en) geschieht heute freilich aber nicht ausschließlich affirmativ und niemals mehr so resolut, wie das die Avantgarden der klassischen Moderne mitunter taten. Sondern ebenso kritisch, denn das ist notwendiges Tun vor dem Hintergrund der Geschichte – nicht nur der deutschen (noch ein Grund für die Vermeidung des »istisch« nach »surreal«).
Unbedingt ist beim Schreiben surrealer Prosa und Lyrik aber an eines zu denken, das wir bei aller literarischen Betrachtung von Inhalt und Form oftmals, quasi auf der Metaebene außen vor lassen und so gerne vergessen. Mit André Breton möchte ich erinnern: »vor allem anderen attackieren wir die Sprache. Sie ist die schlimmste aller Konventionen.«14
- 1. Vgl. Greiner, Ulrich: Kommt ins Offene. In: ZEIT Nr. 24 vom 5. Juni 2014. S. 51.
- 2. Ja, ich gebe zu: ich denke bei dieser Aussage an Heidegger. Vgl. Der Ursprung des Kunstwerkes (1936/2008). Stuttgart: Reclam. S. 43f. Hier heißt es: »Das Werk rückt und hält die Erde selbst in das Offene einer Welt. […] Die Erde ist das wesenhaft Sich-Verschließende. Die Erde her-stellen heißt: sie ins Offene bringen als das sich Verschließende.«
- 3. Becker, Jürgen: Journal der Wiederholungen. Gedichte (1999). Berlin: Suhrkamp. S. 59.
- 4. Becker, Jürgen: Journal der Wiederholungen. Gedichte (1999). Berlin: Suhrkamp. S. 14.
- 5. Vgl. Wehle, Winfried: Avantgarde: Historisch-systematisches Paradigma 'moderner' Literatur und Kunst. In: Warning, Rainer et al. (Hg.): Lyrik und Malerei der Avantgarde (1982). München: Fink. S. 9-40. Hier heißt es auf S. 33: »Erst eine Erkundung nach allen Seiten schuf Vertrautheit und Sicherheit im Umgang mit einer so neuartigen Dimension des Darstellens. Das 'Experiment' trägt die ganze Erwartung erhoffter Entdeckungen. Denn wo wenn nicht jenseits der eingefahrenen Wege ließ sich eine höhere, eigentlichere Form der Wirklichkeit finden. Dies ist mit jenem 'surréalisme' gemeint, den Apollinaire ästhetisch begriffen hatte, den die Dadaisten und Surrealisten zu einer Lebensanschauung machten.«
- 6. Vgl. das Begleitheft Berlin surreal. Rundgang durch die Ausstellung. Die Ausstellung ist noch bis zum 24. Juli 2014 zu sehen.
- 7. Vgl. das Nachwort von Jan Kuhlbrodt in Graeff, Alexander: Kebehsenuf. Erzählungen (2014). Berlin: J. Frank. S. 117.
- 8. Greiner 2014. S. 51.
- 9. Vgl. Goodman, Nelson: Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie (1976/1997). Frankfurt/M.: Suhrkamp. S. 45.
- 10. Wie das so geht mit oft zitierten, provokanten Aussagen; einer liest es hier, ein anderer dort. Giacometti muss es wohl in einem Interview gesagt haben, sagt das Internet, nachdem mich Tobias Roth darauf brachte. Für diesen und manch anderen Hinweis zu diesem Text bedanke ich mich bei Tobias Roth sehr herzlich.
- 11. Paradoxerweise findet sich in der ZEIT-Ausgabe, in der Ulrich Greiners Kommentar zu Jürgen Becker abgedruckt wurde, ebenso eine Rezension dreier Romanübersetzungen von Ursula März, die überschrieben ist mit Mehr Ego, bitte! Warum sind deutsche Unterhaltungsromane so ängstlich? Amerika zeigt, wie man mutiger und besser schreibt. In: ZEIT Nr. 24 vom 5. Juni 2014. S. 57.
- 12. Sartre, Jean-Paul: Die Kunst denken (1981). S. 132-143. In: ders.: Die Suche nach dem Absoluten. Texte zur bildenden Kunst (1999). Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. S. 142.
- 13. Vgl. Goodman 1976/1997. S. 232ff..
- 14. Breton zitiert nach Wehle 1982, S. 18.
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Kommentare
Der Crash der Wirklichkeit
Sehr gutes Plädoyer! Ich würde gern am Wirklichkeitsbegriff (siehe Fußnote 5) ansetzen um das ganze weiterzudenken. Dazu passend erscheint mir Tom McCarthys "Offizielles Dokument" der fiktiven International Necronautical Society (INS), das in der Neuen Rundschau 1/2014 erschien.
McCarthy und seine Nekronauten knüpfen ebenfalls in der Klassischen Moderne an, und zwar bei Marinettis Futurismus. Allerdings führen sie die hymnische Begeisterung für alles auf Geschwindigkeit ausgerichtete nicht einfach fort. Für McCarthy markiert der im Zuge des Futurismus ebenfalls ikonisch gewordene Autounfall den Beginn der Zukunft. Doch dort wo der Futurismus glaubt die Zeit überwinden zu können, wird er erst einmal sehr unsanft in die Realität des Raumes zurückgeschleudert.
Der ironische Bruch mit den Futuristen, aber auch der Bruch in der ewig beweglichen Kontinuität wird für ihn zum Wesensmerkmal der Avantgarde. “Die künftige Avantgarde wirft sich selbst aus der Bahn und zelebriert dieses Aus-der-Bahn-Werfen mit ihrem Gang an die Öffentlichkeit, so als stelle das Aus-der-Bahn-Werfen einen Teil ihrer Raison d’être dar.”
Eine künstlerisch Avantgarde ist also immer das Ende einer Konituität, ist immer das Ende einer Bewegung, ein kurzes Abstoppen, bevor sie eine neue Dynamik aufnimmt. Sie lässt die Zeit für einen Moment stillstehen, durchbricht an diesem Punkt das bisher gültige “Reale” und geht dann einen großen Schritt weiter. Allerdings leistet die Avantgarde diesen Schritt nicht aus einem Vakuum heraus, sondern (natürlich) aufgrund einer Erfahrung. “Historisch betrachtet, und das ist der springende Punkt, betreten wir keinen neuen Boden, sondern alten Boden auf neuen Wegen”, schreibt McCarthy.
Mit den Worten F. Scott Fitzgeralds nennt McCarthy den Menschen eine “rückwärtsgewandte Wiederholungsmaschine[], die unaufhörlich in die Vergangenheit zurückgetrieben” wird (vgl. hierzu Walter Benjamins Geschichtsbegriff). Das Durchbrechen dieser Schleife, so verstehe ich McCarthy, kann nur durch einen Crash gelingen. Und dieser Crash, so meine These, muss die Kunst/Literatur selbst sein, die ihre Leser/Betrachter aus dem Gewohnten herausreißt. Folgender Gedanke dazu bei McCarthy, ausgehend von James Graham Ballards gleichnamigen Roman: “[...] dass wir schon längst von Fiktionen umgeben sind (Lifestyle-Modelle, Phantasien, sexuelle Rollen und Identitäten, die allesamt durch die Medien [...] auf uns einprasseln); die Aufgabe des Autors [Künstlers allgemein], so behauptet er [Ballard] [...], bestünde darin, ‘die Wirklichkeit zu erfinden’.”
Eine Auffassung, die Francis Nenik in seinem, ebenfalls in der Neuen Rundschau 1/2014 enthaltenen Text "Geschichten aus der Geschichte der Literatur der Zukunft" zur Praxis bringt. Denn hier wird nicht nur die Geschichte erfunden, sondern damit auch (bis zur eindeutigen Widerlegung des Textes) die Wirklichkeit. Damit steht das Angebot seitens der Literatur, dem Leser eine Alternative anzubieten, die nicht von vorn herein durch einen Fiktionsvertrag geschwächt ist und zumindest die Möglichkeit einer anderen Welt, einer anderen Wirklichkeit im “Realen” in Aussicht stellt.
(So ähnlich zuerst gebloggt am 17.5.2014 unter http://novastation.wordpress.com/2014/05/17/manifeste-fur-eine-literatur...)
Über Wirklichkeits(de)montage
Lieber Mario, vielen Dank für den Kommentar.
Ich bin der Meinung, dass man weder an einen inhaltlich (motivisch) vorgeprägten Ismus anknüpfen sollte noch kann. Sich die Geschwindigkeit zum Thema zu nehmen, ist – nebenbei bemerkt – nicht gerade ein originelles Thema, geschweige denn eins unserer Zeit. (Nach Marinetti, der sich poetisch damit befasste, hat ja auch Paul Virilio in den 1970er Jahren ausreichend philosophisch darüber publiziert.) Da ist es sicher eher der Crash, der nach der Geschwindigkeit kommt und das Ende setzt; aber gut, ich kenne die Romane von diesem McCarthy nicht, kann also dazu nichts sagen. Insofern hat Jan Kuhlbrodt auch Recht, wenn er schreibt »Auch die jungen Alternativen, welchen Namen sie sich gerade auch gegeben haben, scheinen lieber zu gärtnern als zu lesen.« (Quelle: http://postkultur.wordpress.com/2014/07/19/daruber-hinaus). Ich gehöre sicher nicht mehr zu den jungen Alternativen, aber auch hier ein: Ja.
Bei dem ganzen Themenkomplex Wirklichkeits(de)montage stimme ich natürlich zu, die konstruktivistischen Untertöne sind sicher in meinem Plädoyer sichtbar geworden. Die Alternative besteht exakt hierin: den historischen und historizistischen (De)Montageprozess zu verstehen. (Und das geht nur durch lesen und gärtnern.) Denn immer noch greift der Glaube um sich, Realität bestünde einfach so (unabhängig von Beobachtern). Und dieser Glaube ist letztlich die Quelle von jenen Normen, gegen die mühsam angeschrieben werden muss. Und um von vorneherein kindischen Bemerkungen den Wind aus den Segeln zu nehmen: Meiner Meinung nach ist es ein Müssen. Ein (inneres) Müssen, das sich als Wille zur Verantwortung zeigt. (Diesbezüglich kann ich Heinz von Foerster empfehlen – also lesen!) Das ist immer noch das Thema der Zeit, wie ich denke, und macht deutlich, wie wenig das Projekt Moderne im Grunde fortgeschritten ist. Man muss vielleicht also gar nicht irgendwo anknüpfen, sondern einfach weitergärtnern.
Ich denke nicht, dass das
Ich denke nicht, dass das Thema Geschwindigkeit abgehandelt ist. Nach Marinetti und Virilio ist nun der Soziologe Hartmut Rosa am Zug, der mit seiner Arbeit verdeutlicht, welchen wichtigen Stellenwert ein Bewusstsein über sich verändernde Zeitprozesse hat.
Ich reite deshalb darauf herum, weil ich glaube, dass der Themenkomplex "Zeit - Geschwindigkeit - Beschleunigung" maßgeblich für das Realitätsempfinden der Gegenwart ist. (Im Prinzip ist es das, seit dem ausgehenden 18. Jhd. - aber das würde hier zu weit führen.) Denn mit verschiedenen Geschwindigkeiten stellt sich das Leben unterschiedlich dar. Dieses Empfinden hat in der Literatur (der Klassichen Moderne; aber nicht nur hier) schon mehrfach der Formgebung von Texten gedient. Das ist einer der Punkte, bei denen anzuknüpfen mich besonders interessiert, um zu einer Literatur zu gelangen, die nicht mehr der "einen Realität" verhaftet bleibt.
Konkret könnte das vllt. so aussehen, dass man sich als Autor ein Stück weit vom Zeitstrahl literarischer Entwicklungen löst, Geschwindigkeiten umkehrt, um nach allen Seiten hin sich aus der Geschichte "zu bedienen". Natürlich nicht als Nachahmung, sondern aus der Frage heraus "Was von dem Alten lässt sich heute wiederauflegen und fortführen?". Damit würden vllt. gegenwärtige Fragen obsolet werden, die man sich als Autor manchmal stellt. "Kann man das noch so und so machen?" (Ich denke an das Pathos oder die Metapher.) Denn wie will man Offenheit (These III) und Lebendigkeit (These IV) erreichen, wenn man Entwicklung nur in eine Richtung denkt (was der Realität geschuldet ist)?
Ich habe keinesfalls gesagt, dass
Ich habe keinesfalls gesagt, dass Geschwindigkeit kein Thema dieser Zeit mehr ist, ich sagte: es ist kein originelles Thema. Es immer wieder zum Thema zu machen, erzeugt natürlich auch ein bestimmtes Bewusstsein von Geschwindigkeit, selten geht die Poesie so kritisch wie Virilio mit diesem Thema um. Es wurde ja auch in dem Sinne rein affirmativ bearbeitet. Die sog. postmoderne Literatur ist voll von der Verherrlichung der Geschwindigkeit. Das erzeugte ein bestimmtes Lebensdiktum, das einer enorm erhöhten Geschwindigkeit (bzw. Beschleunigung). Was in der Moderne noch sehr kritisch betrachtet wurde, war in der Postmoderne zum Kult geworden. Eine Rezension in der Süddeutschen von Don DeLillos »Falling Man« zum Beispiel ist mit »Aus Analyse wird Andacht« überschrieben. Wir übernehmen das für unser Leben.
Unterschreiben kann ich auf jeden Fall, sich als Autorin »ein Stück weit vom Zeitstrahl literarischer Entwicklungen« zu lösen; daran dachte ich beim Schreiben gegen die Norm(en). Und freilich bedeutet Entwicklung auch Orientierung am Vergangenen neben dem Vorpreschen in die Zukunft – jede Avantgarde hat das getan (was allerdings trivial ist, da Menschen Wesen mit und in Geschichte sind und nichts ohne Vergangenheitsbezug tun können). These III zielt auf Offenheit in Bezug auf die Vergangenheit (das würde Jan Kuhlbrodt »lesen« nennen), These IV zielt auf Lebendigkeit des Gegenwärtigen (das wäre das Kuhlbrodt'sche »gärtnern« mit Zen-Bezug, im Hier und Jetzt); These II zielt auf den Mut zu Alternativen (das wäre das »gärtnern« mit Bezug auf die Zukunft, in dem Sinne – und nur in diesem! – politisch). Sowohl These III als auch II kommen wiederum ohne Bezug zum Leben (Wirklichkeit und Wirklichzeit) nicht aus.
Positionen
Geht es hier um Positionen? Avant und Post – sind das zeitliche und/oder örtliche Positionen? Ich glaube an beides nicht mehr. Es gibt was es gibt und Zeit spielt keine Rolle. Man schreibt und sollte so schreiben, daß es seine jetzige Rolle spielt. Kunst, die sich im Vor und Nach zeitlich abgrenzt, verliert ihre Zeitlosigkeit und definiert ihre Gültigkeit einzig für die „Höhe der Zeit“ (was ihre Position wäre) – und wie bei allen Relationen, kann man diese nur im Vergleich festmachen. Eine Kunst, die sich bewußt am Vergangenen mißt, ist bewußt ein Gegenstück zum Vergangenen und so formell vom Vergangenen bestimmt.
Offenheit ist da etwas ganz anderes – Offenheit zielt nicht, sie will nicht weg von etwas und nicht zu etwas hin. Sie wirft sich hin ohne zu wissen, was draus wird. Alles avant oder post ist dann schon wieder bezogen. Wie auf einem Förderband, das Häuflein vor oder nach mir ist nicht auf meiner Höhe, das kann ich klar ausmachen. Aber es ist auf demselben Förderband, um das herum sich die Welt im Jetzt präsentiert. Wenn ich im Jetzt ankommen will, muß ich abspringen und schaun was passiert. Das wäre das Offene. Falle ich dann?, kann ich fliegen?, geht die Welt unter oder legt erst richtig los?, was tut das Jetzt dann mit mir und wie sieht es aus. Gibt es überhaupt eine Kante, oder rollt die Zeit dort schon das nächste Band unter mir aus. Eigentlich eine Haut, von jedwedem Etwas in seinem eigenen Tempo bewohnt, aber von allen geteilt. Insofern Tempo zur eigenen Realität gehört und Maß gibt, wie Mario das einwirft.
Ich glaube, die Diskussion um Positionen (auch ob surreal oder paranormal, das sind denke ich nur Anschlußweiten, fast wie in der Mathematik: Ausweitungen von Geltungsbereichen) sind wichtige Standortsignale, aber damit dann fast schon wieder Handschellen und Fußketten. Surreale Kunst gilt auf andere Weise, aber sie gilt und bereichert genauso wie realistische und mutig kann die eine genauso wie die andere sein. Oder sich verstecken. Wichtig finde ich, daß man weiß und will was man tut (und sei es: das Offene riskieren).
Schreiben gegen … Maßstäbe
Lieber Frank Milautzcki, vielen Dank für den Kommentar. Es ging mir mit meinem Plädoyer nicht darum, eine Kunst zu propagieren, die sich »bewußt« oder unbewusst »am Vergangenen mißt«! Dieses Messen ist der faule Vergleich, der nur in mimesis enden kann, auch ein Grund, warum ich gegen Ismen spreche. Ich spreche vom Inspirieren. Und Inspirieren bedeutet dabei gerade nicht, sich einen Maßstab nehmen, denn der wäre Grundlage für jedes Messen.
Sicher, Attribute sind Ausweitungen, vielleicht auch Ausschmückungen, aber für eine Postition, die auch einmal etwas positiv bestimmen will (mein Anliegen), sind sie unentbehrlich. Man sollte, wie ich finde, bloß kritisch mit ihnen verfahren: die Thesen II bis IV sind Erläuterungen von These I, wo das Attribut »surreal« eingeführt wird. Eine angenommene objektive Realität kann weder mutig, noch offen, noch lebendig sein. Die Kunst, die diesem erkenntnistheoretischem Irrtum aufsitzt und ihn propagiert ist ebensowenig lebendig, mutig und offen. Ich teile folglich die Aussage »Surreale Kunst gilt auf andere Weise, aber sie gilt und bereichert genauso wie realistische...« nicht, wenn wir von Mut, Lebendigkeit und Offenheit sprechen (das bedeutet aber nicht, dass ich realistische Kunst nicht als schön empfinden kann). Und wieder ein Verb: das Gelten impliziert ebenso Maßstäbe, die es in der Kunst nicht gibt, nicht geben kann.
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