Magnetfeld Familie
Philip Meinhold steckt mitten in der Überarbeitungsphase seines Buches „Erben der Erinnerung“, als eine junge Amerikanerin wegen eines auf Twitter geposteten Auschwitz-Selfies mit einem virtuellen Shitstorm überzogen wird.
Gibt es ein „richtiges“ und ein „falsches“ Gedenken? Die plötzliche Aktualität seiner Fragestellung verleiht dem Buch nicht nur den letzten Schliff, sondern auch seine nötige Zuspitzung. Denn auch sein Text, so schreibt Meinhold in der Schlussbemerkung, ist eine Art Auschwitz-Selfie – eine Selbstrepräsentation anhand eines generationenübergreifenden Trips zu einer der befrachtetsten Gedenkstätten überhaupt.
Kurz nach ihrem siebzigsten Geburtstag äußert Meinholds Mutter den Wunsch, mit ihren drei Kindern und den großen Enkeln nach Auschwitz fahren. Eifrig macht sich Meinhold an die Vorbereitungen, organisiert die Reise und kümmert sich um ein Radio-Feature. Erst nach einer Weile gesteht er sich ein: Der Wunsch der Mutter und der Reportage-Auftrag stellen für ihn einen willkommenen Anlass dar, sich endlich einmal intensiv mit der eigenen Familiengeschichte zu befassen.
Wie die meisten seiner Generation hat Meinhold (Jahrgang 1971) im Lauf seines Lebens ein kollektives, unpersönliches Wissen über den Nationalsozialismus angesammelt: mit 13 hat er „Das Tagebuch der Anne Frank“ gelesen, mit 20 „Schindlers Liste“ gesehen.
Was das alles mit ihm zu tun hat? Ziemlich viel, wie ihm jetzt klar wird.
Seine Urgroßmutter war Jüdin, und damit galten ihre drei Kinder – unter ihnen Meinholds Großvater – nach nationalsozialistischer Rassendoktrin als „Mischlinge ersten Grades“. Meinholds Großonkel kam zusammen mit seiner jüdischen Frau nach Theresienstadt und später nach Auschwitz. Seine Urgroßmutter wurde ebenfalls nach Theresienstadt deportiert. Wie durch ein Wunder überlebten alle drei. Den Großvater bewahrte die Heirat mit einer „arischen“ Frau vor dem KZ, doch die ständige Angst vor Verfolgung entging auch seiner kleinen Tochter, Meinholds Mutter (Jahrgang 1937), nicht. Erst jetzt spricht sie über die tief sitzenden Ängste ihrer Kindheit, oder besser gesagt: die Unfähigkeit, ihre eigenen Gefühle überhaupt wahrzunehmen.
Mehr noch als ein Reisebericht oder eine Annäherung an die eigene Familie ist „Erben der Erinnerung“ ein Buch darüber, wie kollektives und persönliches Erinnern funktioniert. Untermauert werden Meinholds Erkenntnisse mit Zitaten von Ruth Klüger und Victor Klemperer, Harald Welzer und Gabriele Rosenthal.
„Es ist nicht möglich, dieses Bild zu betrachten, ohne an das zu denken, was später geschah“, geht Meinhold durch den Kopf, als er ein in den 1920er Jahren aufgenommenes Foto der Urgroßmutter mit ihren drei Kindern ansieht. Traumatische Erfahrungen früherer Generationen prägen die Nachgeborenen, ebenso wie das Jetzt das Damals einfärbt. Nicht immer stimmen Familiengedächtnis und historische Realität überein – oftmals jedoch haben kleine und große Familienlegenden eine weitaus stärkere Wirkmacht als das Faktenwissen aus dem Geschichtsunterricht. Unterschiedliche Befindlichkeiten und Identifikationsbedürfnisse, manchmal auch bloße Missverständnisse, prägen das Wissen, das in einer Familie von Generation zu Generation weitergetragen wird. „Wir spielen Stille Post, denke ich, es kommt immer weniger an.“
Der eigentliche Auschwitz-Besuch nimmt einen relativ geringen Teil des Buches ein; im Vordergrund steht das, was die Reise bei allen Mitfahrenden auslöst und wie unterschiedlich sie damit umgehen. Meinhold befragt seine Geschwister, die sich entweder in der Nachkommenschaft von Verfolgten oder aber als Teil des Täterkollektivs sehen, und seine Neffen und Nichten, die kaum noch einen Bezug zum Nationalsozialismus haben. Vor allem aber befragt er sich selbst, und das ist gleichzeitig die Stärke und die Schwäche des Buches:
Zum einen entdeckt er durch die intensive Selbstdurchleuchtung Widersprüche und Absurditäten – was einen damals ins KZ bringen konnte, erscheint heute als Auszeichnung (z.B. der Besitz eines Judensterns) – die viel aussagen über unseren Umgang mit Geschichte. Er legt Strukturen und Muster offen, die sich im Familienverband über Generationen hinweg wiederholen oder gegenseitig kompensieren. So wirft er seiner Schwester vor, mit ihrer Emotionalität zu übertreiben; sich selbst hingegen attestiert er Vernunft, Pflichtgefühl und die ständige Angst, etwas falsch zu machen. Und genau diese Angst, etwas Falsches zu sagen, scheint ziemlich offensichtlich auch durch den Text. Keine Regung, kein Gedanke darf jemals für sich stehen. „Vielleicht, denke ich, mutieren wir bei dem Versuch, des Holocausts zu gedenken, alle ein wenig zu Politikern, denen die Außenwirkung ihres Auftritts bewusst ist“, heißt es da. Und auch diese Reflexion wird noch einmal reflektiert:„Bekommt im Bestreben, möglichst authentisch zu sein, nicht auch dieser Text etwas Kalkuliertes?“
Der Schreibprozess bildet den Erinnerungsprozess ab; beim Lesen lässt sich unmittelbar nachvollziehen, was Meinholds Familie beim Abschreiten der Gedenkstätte empfindet bzw. eben gerade nicht empfindet: Interessanterweise bleibt ein Gefühl der Betroffenheit aus. Die Mutter findet, Auschwitz hätte ein „Ort der Trauer“ sein sollen, anstatt ein „Verzweiflungspark“ für Touristen. Der Bruder klinkt sich aus der Tour aus, um seinen Gefühlen nachspüren zu können. Das sei bei der nüchternen Eindeckung mit Faktenwissen, im Blitzlichtgewitter japanischer Reisegruppen, kaum möglich gewesen. Die Enkel wundern sich, warum es ihnen so schwer fällt, sich das Grauen vorzustellen, das hier geschah. „Auschwitz ist so ins kollektive Gedächtnis eingebrannt, auch überfrachtet, dass der eigentliche Ort das Erleben fast nur schmälern kann“, resümiert der Autor. Doch vielleicht, so reflektiert er weiter – denn schließlich muss jede Aussage noch einmal kommentiert, relativiert oder revidiert werden – hat es ja auch sein Gutes, sich eine Schutzschicht aus nüchternen Fakten zuzulegen, um bei einem derartigen Besuch nicht emotional zusammenzubrechen. Und so ist vielleicht auch die „Schutzschicht“ des Textes, bestehend aus Metareflexionen, Faktenwissen und Zitaten, nicht die verkehrteste Weise, sich dem Thema zu nähern. Schließlich hätte auch die Reise, trotz anfänglicher Enttäuschung, etwas bewirkt: Sie bot Anlass zum Gespräch, ließ die Generationen auf eine veränderte, vielleicht verständnisvollere Weise zueinander finden.
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