Peter Kurzeck setzt Grenzen außer Kraft
„Einer der weitschweifigsten Erzähler deutscher Sprache ist Peter Kurzeck, der zugleich einer der kurzweiligsten ist“,schrieb Andreas Greve kürzlich auf Fixpoetry. Dabei trifft diese Behauptung sowohl auf seine Romane, wie auch auf seine immer zahlreicher werdenden gesprochenen Geschichten zu. Egal, ob man Kurzeck hört oder liest, immer kommt in seinen Worten die Überzeugung zum Tragen, die er in seinem ersten veröffentlichten Buch „Der Nußbaum gegenüber vom Laden, in dem du dein Brot kaufst“, formuliert hat: „Die Gegenwart, das ist doch nicht einfach bloß jetzt.“
„Unerwartet Marseille“, eine Doppel Live CD, ist aus einem Experiment des Literaturwissenschaftlers Jörg Döring an der Universität Siegen hervorgegangen. Döring ließ Kurzeck ohne Themenvorgabe sprechen, während ein Band mitlief. So hört man mitunter Lachen und Räuspern, sowie die deutlich hörbaren Schnitte, wenn das Band gestoppt wurde, dem einzigen technischen Eingriff bei dieser CD.
Aus dem Stehgreif berichtet Kurzeck von den Sommern der späten 60er Jahre, die mit einem Mal immer besser wurden, und mit diesen Sommern die ganze Welt. An unzählige Einzelheiten kann er sich erinnern, „ich kann das auch nur so ausholend erzählen“, sagt er von der Erbschaft seines Autofreundes, die diesem ermöglicht, das erste eigene Auto anzuschaffen, „das gehört ja zum Erzählen dazu.“
Auf diese Weise erzählt Kurzeck von seinen Reisen nach Frankreich, Venedig und in die Tschechei, nach Wien, Skandinavien, Meran und Pula. Davon wie er den Prager Frühling erlebt hat, aber auch vom Tod der Mutter an seinem Geburtstag und schließlich von der Reise zu sich selbst. Wie er eines Morgens erwachte und wusste: „Du darfst nicht mehr zu deiner Arbeit hingehen, weil du schreiben musst.“ Bereits mit achtzehn Jahren habe er zu schreiben begonnen und sich gesagt: ab jetzt schreibst du so lange für dich selbst, bis es so ist, wie du es haben willst. Schon bei der auf grünem Papier geschriebenen Rohfassung seines ersten Buches (das erst 1990 unter dem Titel „Keiner stirbt“ erschienen ist) habe er gespürt, das er im Grunde genommen an einem einzigen, alles Vergangene umfassenden, Buch schreibt, damit das Vergangene nicht verloren geht. Zehn Jahre lang hat Kurzeck geschrieben, überschrieben, neu geschrieben, bis sein erstes Buch erschienen ist. Mittlerweile hat er seine Erzählkunst längst so weit perfektioniert, dass es keinen Unterschied mehr gibt zwischen Erzählen und Schreiben. Egal ob man Kurzeck liest oder hört, am Ende sind sämtliche Grenzen außer Kraft gesetzt, die zwischen Erzählen und Schreiben, die zwischen gestern und heute. Peter Kurzeck hebt die Zeit auf, indem er bestreitet, dass sie überhaupt vergeht. „Möglicherweise bin ich zwar inzwischen alt“, erzählt er anlässlich einer Reise nach Venedig, Jahrzehnte nachdem er zum ersten Mal dort gewesen ist, „aber eigentlich ist noch der selbe Moment wie beim ersten Mal.“
Trotz dieser Umstände, spielen Uhren immer wieder eine Rolle bei seinen Erzählungen. Die Reise, die schließlich unerwartet in Marseille enden soll, eine Tatsache, der die CD ihren Titel verdankt, hebt an mit der Erwähnung der Turmuhr in Stauffenberg. Sieben Jahre habe sie nicht geläutet und ausgerechnet in der schlaflosen Nacht, bevor Kurzeck seinen Freund Jürgen mit dessen Freundin an die französische Grenze bringen wollte, habe die Uhr wieder zu läuten begonnen. „Ich hatte das Gefühl sie spricht zu mir“, erzählt Kurzeck, „Einmal warst du ein Kind, und wie alt bist du jetzt? Jetzt bist du 24 und jetzt läute ich wieder.“ Das ist eines von Peter Kurzecks Geheimnissen, die Dinge sprechen zu ihm, die Vergangenheit entfaltet sich in seinen Worten.
Was bleibt, ist ein Universum, das Peter Kurzeck heißt.
Fixpoetry 2012
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Kommentare
das universum von kurzeck lag
das universum von kurzeck lag in staufenberg, in lollar und in giessen, das sind die wahren orte der inspiration für ihn gewesen....was er zurücklässt sind traurige und trotzdem sehr glückliche menschen.
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