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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Labeling der Schrecklichen

Hamburg

Sloterdijk spinnt sein Buch um zwei Aussprüche von Damen der Weltgeschichte. Zum einen Madame Pompadours Ausruf von 1757: après nous le déluge, den sie tätigte, als sie die Nachricht von der Niederlage der französischen Truppen in der Schlacht von Roßbach während einer  Festivität in den Räumen ihres Schlosses erhielt, zum anderen das pourvu que cela dure, das Laetitia Ramolino, Napoleons Mutter, zu bemerken pflegte, wenn es Neuigkeiten aus der Karrieregeschichte ihres Sohnes gab. Nach uns die Sintflut und Wenn das nur gut geht auf die Dauer.

In diesen zwei Sätzen ist ausgedrückt, was man ein Grundgefühl der heute lebenden Generationen bezeichnen könnte: die an Gewissheit grenzende Vermutung aus der Dauer gefallen zu sein und sich nur noch im Moment aufzuhalten. Man sitzt in einem Cockpit, das man nicht verlassen kann, wenn man weiterfliegen will. Und fliegen, von den Erschwernissen der Erde losgelöst unterwegs sein in eigener Regie, wollen wir doch alle. Wer möchte den Weg zu den Sternen zu Fuß antreten? Wie kommt man am schnellsten in den Himmel? Und wie können wir dort bleiben?

Ich persönlich lebe auf dem Mond. Weil Städtisches mich nach einer Weile überfordert. Auf dem Mond bekomme ich natürlich nicht alles mit. Darum hat es mich bei der Recherche zu dem Buch auch erstaunt, mit wie vielen Negativurteilen es vom Feuilleton bepflastert wurde. Es scheint so, daß Sloterdijk der Lieblingsfeind einer politisch korrekten, linken Intelligenzija ist. Jan Kuhlbrodt bspw. bloggte auf postkultur kurz nach Erscheinen des Buches: „Sicher müßte ich es lesen, um final darüber zu urteilen, kann mir aber nicht vorstellen, dass aus dem Geblubber plötzlich eine nachvollziehbare und kritisierbare Argumentation wird.“ und zitiert dann den Klappentext. Ok? Dafür ist ein Klappentext dann wohl auch da – fürs Vorurteil.

Oder Label von Georg Diez im SPIEGEL. Das geht von „Philosoph für AfD-Wähler“ zu „rechtskonservativer Dimpfl“. Sloterdijk ist bekennender Sozialdemokrat. Und es ist keineswegs so, daß er in rechtskonservativen Kreisen rauf- und runterzitiert wird. Diez muß ein anderes Buch gelesen haben oder das Buch völlig anders, als es gemeint ist. Entsprechend zitiert er auch. Sätze, die ohne Zusammenhang gelesen, ein gewisses Skandalpotential bereithalten. Die Absicht ist klar. Sloterdijk gehört ins Schämdicheck. Was erlauben Sloterdijk?

Das fragt man Personen, die offensichtlich zu weit gegangen sind. Und genau das tut Sloterdijk – er geht dorthin, wo vor ihm keiner war und das bedeutet vielleicht auch dorthin, wo keiner hin will. Wenn schon unser Leben ein Experiment ist, dann muß es erlaubt sein, Positionen und Perspektiven zu untersuchen, die neu sind, auch wenn es riskant ist, sie aufzusuchen. Alles in tradierte Sichtmuster einpassen, damit die Denke stimmig bleibt – ist das nicht die wirklich konservative, restaurative Sichtweise, die Diez und Co. nicht loswerden wollen oder können, um ihrer eigenen Korrektheit willen.

Seit wir wissen, daß wir nichts wirklich wissen, gehört es zu den riskantesten Manövern eines Autors „neue“ Thesen von sich zu geben und damit einen Relevanzvorschlag zu machen. Besonders Sichtweisen, die sich nicht mit diskursivem Kleinklein abmühen, sondern Größeres anvisieren, geraten schnell in den Verdacht der Überheblichkeit – da übernimmt sich einer und versucht zu stemmen, was nicht so einfach zu stemmen ist. Vielleicht hat man auch Angst vor dem bösen Blick, daß der Mensch sich aus entfernterer Warte nicht als das Edeltier zeigt, als das er sich gerne selber sieht und empfindet.

Diez  zitiert einen Satz über das Ende des Ancien Regimes:

„Die sensibleren Menschen spürten, wie die Zeiten zu Ende gingen, in denen das Glück der Privilegierten darin bestanden hatte, daß trotz des Auf und Ab der Verhältnisse immer alles beim alten blieb.“

Mir ist nicht ganz klar, was Diez mit diesem Zitat aufzeigen will, es findet sich auf Seite 42 des Buches und ist eine Illustration der geschichtlichen Prägnanz, die Madame de Pompadours Satz von der Sintflut hat. „Nach uns die Sintflut!“ - lasst uns feiern, das Ende kommt früh genug – Sloterdijk sagt:

es war schon unterwegs, das Ende, die Revolution bahnte sich an und rechtfertigte sich längst, durch genau solche Art von bonmots – wo solche Sätze möglich sind, da ist was faul und muß korrigiert werden. Es geht nicht an, daß Könige und Adel an der Macht bleiben, egal was die Zeiten bringen.

Welchen Erregungsstoff Diez hier ausmachen kann, ist mir schleierhaft. Er sieht darin das „Hohnlachen des Herrenreiters“ Sloterdijk und unterstellt ihm „elitäre Gespreiztheit“ und „ständestaatliche Sympathien“. Er liest den Satz wohl als reaktionäre Königstreue. Eventuell hat Diez den dazugehörigen Abschnitt nicht gelesen?

Aber kann das wirklich wahr sein? Da hat einer etwas nicht gelesen oder überhaupt nicht verstanden oder komplett in den falschen Hals bekommen und getraut sich dennoch im vielgelesenen SPIEGEL seinen Frust und meinetwegen auch Hass schnell schnell von der Seele zu schreiben (er weiß, er hat ein Publikum dafür!), kriegt dafür sicher ausreichend Kohle (& gehört damit zu einer wirklich privilegierten Schicht). Diez macht sich nicht einmal die Mühe, das Buch wenigstens in den Teilen, aus denen er Zitate extrahiert, richtig zu lesen.

Das setzt sich im Diezschen Kommentar dann fort: er zitiert wieder (leider immer ohne Seitenangabe, aber die Intuition lenkt richtig, wenn man vermutet, daß Diez mit dem Buch nicht weit gekommen ist, und man deshalb ganz vorne oder ganz hinten suchen muss …. und fündig wird auf Seite 10):

„Wir sind Vertriebene. Von Anfang an. Wir alle haben eine Heimat gegen ein Exil getauscht. Sind wir hier in der Welt, so weil wir nicht würdig waren, an einem besseren Ort zu bleiben.“

Diez führt dieses Zitat in folgender Weise fort:

„Die Freiheit also – oder „Freiheit“, wie er es nennt - ist das Problem, sie ist das Exil, in die Freiheit sind wir „Geworfene“, wie Sloterdijk mit Heidegger blubbert, schuldig sind „die Modernen“, unwürdig und illegitim.“

????? – Davon steht kein Wort im Text und das läßt sich dort auch nicht extrahieren. Kein Heidegger, kein Satz von der Moderne, kein Wort von der Freiheit.

Der Zusammenhang, aus dem das kursive Zitat stammt, ist Sloterdijks Erzählung von der Erbsünde und der Kollektivhaft, in die uns die Kirche trickreich nimmt. Dem Zitat gehen folgende Sätze voran:„Durch den Erfolg des Christentums hat sich in der westlichen Zivilisationssphäre die biblische Auslegung des Unbehagens am In-der Welt-Sein durchgesetzt. Die übermittelt mittels einer kurzen Erzählung eine einleuchtende, obgleich düstere Lektion:“ Hinter diesem Doppelpunkt folgt das Zitat.
Ich schreibe das nochmals sinn- und fast wortgetreu hierhin:

Das Christentum legt das menschliche Unbehagen am In-der-Welt-Sein so aus (und hat sich damit in der westlichen Welt durchgesetzt): Menschen sind Vertriebene. Von Anfang an. Menschen haben eine Heimat gegen ein Exil getauscht. Sie sind hier in der Welt, weil sie nicht würdig waren, an einem besseren Ort zu bleiben, nämlich im Paradies.

Meint: Der Mensch hat von der verbotenen Frucht gegessen und wurde aus dem Paradies vertrieben. Eine einzige Fehltat hat gereicht, um uns alle für immer mit einer Erbsünde zu belegen. Wir sind schuldig aus dem Paradies verwiesen, wir haben uns als nicht würdig erwiesen. Diesen Erbsünde-Trick der Christenheit führt Sloterdijk in dem Buch (in dem es ja um Erbe, um Generationenfolge geht) dann später auch seitenlang aus. Und ist dabei alles andere als reaktionär.

Wie Diez solche extremen Verständnisfehler guten Gewissens publizieren kann, ist mir schleierhaft. Entweder ist er boshaft oder von naiver Arroganz in seiner Einschätzung (oder er agiert zeittypisch, indem er generellem Zeitmangel und der Rasanz der Zeit Tribut zollt und mit den Rangierhilfen Schnellurteil/Vorurteil/Klischee operiert – Hauptsache man kriegt den Artikel bis zum Redaktionsschluß noch hin). Das hat mit ernsthafter und fairer Auseinandersetzung nichts zu tun. Sondern mit schlechtem Lesen. Und wenn die Akteure des großen Feuilletons noch nicht einmal fähig sind Bücher so zu lesen, wie sie gemeint sind, sondern nur so, wie sie sich für ein eigenes Meinungsbild instrumentalisieren lassen, dann haben wir ein Problem von gesellschaftlicher Relevanz. Das ist nicht besser als rechte Stimmungsmache. Gebellt ist schnell, Herr Diez, aber Bellen ist nicht die Aufgabe des Feuilletons, sondern intelligente Auseinandersetzung, fairer Diskurs.

Diez ist ja nicht allein. Ein anderer Rezensent bspw. beschreibt Sloterdijks Zugriff auf das pourvu que cela dure der Laetitia Ramolino, Napoleons Mutter, als ein Zitat auf der letzten Seite des Buches und greift es von dort her auf, um es dann in die Argumentationskette der eigenen Rezension einzuflechten.
Sorry! Das Zitat am Ende des Buches ist ein purer Rückgriff, ein Thesenreminder und dort nicht neu, es gibt ein ganzes Kapitel von fast zwanzig Seiten, das sich mit diesem Zitat beschäftigt, und zwar mitten im Buch, umrahmt von recht trockenen historischen Abhandlungen und deshalb wohl übersprungen. Womit wir wieder beim „schlechten Lesen“ wären, dem man auch ein Klappentextlesen hinzugesellen darf.

OK. Das sollte eine Rezension werden und ist jetzt etwas anderes geworden.

Eine Verteidigung der Generationenfrage, die man nur stellen kann, wenn man in die Dauer denkt. Was soll noch werden? Welche Zukünfte gibt es? Welche Rechte hat eine Generation?

Anscheinend sind solche Fragen einem „modernen Linken“ nicht erlaubt. Ich halte sie für ungemein wichtig: Wie kann ich mein Leben gestalten, damit meine Kinder nicht nur mein Verschulden erben, sondern noch eine Chance auf echtes Zukunftwählen haben? Lege ich mit meiner Art zu leben, nicht schon sehr genau fest, welche Art zu leben übrig bleiben wird, weil ich, verbrauchend, Fakten der Dauer schaffe.

Sloterdijk übersetzt und zitiert Thomas Jefferson (1743-1826), den zweimaligen Präsidenten der Vereinigten Staaten: „Die Generationen der Menschen können als Körper oder Korporationen aufgefaßt werden. Jede Generation besitzt den Nießbrauch (usufruct) der Erde während der Zeit ihres Fortbestands. Hört sie zu existieren auf, geht der Nießbrauch frei und unbehindert auf die nachfolgende Generation über … Wir dürfen jede Generation als eine unterschiedliche Nation betrachten, im Besitz des Rechts, sich selbst durch den Willen ihrer Mehrheit zu binden, jedoch ohne das Recht, die folgende Generation zu binden, so wenig sie dies mit den Einwohnern eines anderen Landes tun dürfte.“

Staatsverschuldungen, wie sie heute an die jeweils nächste Generation weitergereicht werden, haben mittlerweile diese Gedanken vollkommen entwertet. Und es sind nicht nur die Staatsschulden, es wird irreparable Umweltlasten geben und immenser Kulturmaut zu zahlen sein. Darum ist es sehr erstaunlich, daß es aktuell nicht mehr „schreckliche Kinder der Neuzeit“ gibt, die Schritte aus der kapitalistischen Tradition wagen und ihr Recht auf Zukunft einfordern. Es sollte längst eine Jugendempörung sondergleichen geben.

Daß es sie kaum öffentlich gibt, mag einerseits daran liegen, daß die Moderne den Menschen wie eine Blase umschließt, die Behaglichkeit garantiert und Autarksein suggeriert. Die Sicherheit der steinzeitlichen Höhle tragen wir mit uns und heißt u.a. „iPhone“, mit diesem Gerät sind wir weltweit im Netz, gehalten und getragen, vermeldbare Ichs, telepathisch verbundene Kapseln auf dem Weg durch die Raumzeit. Und andererseits fehlen „realistische“ Utopien in dem Sinn, daß eine „realistische“ Utopie den Status Quo verträglich in die Zukunft retten soll. Das „Weiter so“ scheint ohne Alternative. Die geerbte Welt, in der man sich bewegt, ist übermächtig, die Verflechtungen sind umfassend und global und wiegen wie Verkettungen. Es gibt kollektive Bande und Schuld.

Hier ist der Schwachpunkt des Buches von Sloterdijk, daß er die fatale Schwere des Erbes und seine Implizität nicht ausreichend untersucht. Man kann es ja nicht wirklich ausschlagen, man wird nicht mehr in die Welt geboren, sondern in das Erbe. In der Welt sein bedeutet heute in den hochentwickelten Ländern etwas wesentlich anderes als noch vor 100 Jahren. Man kommt nicht auf die Welt (ein Geworfensein in die Existenz, blubb), sondern man rutscht in das Erbe, wird Teil, das zu funktionieren hat, das seine Funktionalität unter Beweis stellen muß, wenn es überleben will. Der Mensch ist nicht geworfen, schutzloses Fleisch für den Löwen, sondern eingeschleust, einer von vielen seiner Kultur. Er muß nicht erben, denn er lebt das Erbe in seinen High-Tech-Pampers noch bevor er sich entscheiden kann, ob er es will.

Deshalb muß es schreckliche Kinder geben, die den Sinn der Erbes anzweifeln und Protest einlegen. Was, ich soll so leben wie ihr, das könnt ihr vergessen!

Auf dem Schutzumschlag trompetet ein Satz, der in diesem Zusammenhang ein Grundproblem unserer Zeit anspricht: „Die moderne Welt wird sich als eine Zeit erweisen, in der die Wünsche durch ihr Wahrwerden das Fürchten lehren.“

Demnach wird es eine Zeit nach der Moderne geben, in der das Erleichterungsversprechen sich selbst demaskiert, in der ein Preis sichtbar wird, der gezahlt werden muß. Es wird ein Aufwachen geben über die Kosten, wenn das Sedierende des erfüllten Wunsches nicht weiter bezahlbar ist. Ein Aufwachen über das Gefängnis der Seligkeit von Menschen, die am Infusor der Apparatewelt hängen.

Darin zeigt sich die Kritik, die Sloterdijk anzubringen hat: die Zugewinne der Moderne werden sich irgendwann als Verluste zeigen und die rasende Innovation als Stolperfalle in den Ruin. Ist das schon reaktionär? Oder zurecht besorgt?

Bis heute beten wir gutgläubig den Fortschrittspriestern nach, der Mensch wird noch jedes Problem irgendwie lösen. Kommt Zeit, kommt Technik, kommt Neuerung und smarte Welt. Die Traditionsignorierer, Überschreiber, Umbrecher und Nachvorneeiler sieht Sloterdijk als die wahren „schrecklichen Kinder“, weil sie Kontinuität und Dauer mit der Flucht in die Flüchtigkeit als zeitgemäßes Zustandsmuster ersetzen. Das lange Sein und die lange Weile werden zerhackt in die erregende Frequenz und den Moment des Lichts. Unsterblichkeit ist nun nicht mehr in der Dauer angelegt, sondern im Gelingen des Augenblicks und der Einzigartigkeit, im Endverbrauch.

So schreibt er es nicht ganz, so könnte er es aber geschrieben haben, wenn er in diesem Buch nicht allzu vernarrt in die genealogische Idee wäre, der er in seiner Zivilisationsdynamik breiten Raum einräumt. So spannend die Denkausflüge sind, die Sloterdijk veranstaltet, die Großthese des Buches erhellt nicht viel. Wonach der Wirbel der Moderne in Wahrheit ein Tanz ins Bodenlose sei, den „schreckliche Kinder“ am Grab der Vormaligen improvisieren. Sie verzichten auf kulturelles Erben und landen früher oder später entwurzelt auf der „Deponie für die Illusionsabfälle einer überforderten Gegenwart“. Das kann man natürlich in reaktionäre Anführungsstriche hineindenken, aber man kann es auch als kulturpessimistische Mahnung verstehen, nicht alles zu opfern, was Halt geben kann und nicht allem zuzustürzen, was neuer ist als neu. Entwurzelte würden dem zustimmen. Neuprofiteure natürlich nicht.

Und wirklich neu wäre gewesen, eine Geschichte der Dauer zu erzählen, wie sie sich über die Jahrtausende immer mehr verstreckt, vom Augenblick des Tiers zu einem Leben, das die Ewigkeit vorbereitet, um dann nach und nach und am Ende rasant wieder zusammenzufallen bis zur Gegenwärtigkeit der Gegenwart. Und eine Geschichte über den bevorstehenden Sprung vom Jetzt in die Endzeit, den Hollywood in seinen apokalyptischen Visionen andauernd vorwegnimmt. Wer im Jetzt lebt, steht mit einem Bein immer am Abgrund und fragt sich nicht „Wenn das nur gutgeht auf die Dauer“, sondern hofft auf aktuelles Gelingen. Es gäbe eine Geschichte zu erzählen, die aus Gegenwart Gleichzeitigkeit macht und den Moment nicht mehr übersetzt in Geschichte, sondern mit dem nächsten modernen Moment.

Wie schaffen wir es zukünftig trotzdem geschichtlich zu sein und nicht rein episodisch? Welcher Generationengedanke, der nicht unzulässig spekulativ mit immerwährendem Fortschritt rechnet, verlängert den Moment vernünftig hinein in die Dauer?

Sloterdijk hat ein kluges Buch geschrieben und dabei in seiner Zeitdiagnostik zugunsten der genealogischen Idee mögliche Analyseäste zur Mißachtung des Dauerns im Betrieb der Moderne großenteils ausgespart. Eine Diagnose der Zeit könnte zeigen, daß lichtschnelle Technik Gleichzeitigkeit erzeugt, die nicht folgenlos bleiben kann, weil sie Wirkradien ins Globenformat aufbläht. Der Mensch unterliegt vielfachen Dimensionsänderungen. Aus dem vergangenheitsbewußten, zukunftsängstlichen Höhlenbewohner ist der frei umherschwimmende Kapselastronaut geworden, der unter der Frage nach der Sintflut durchtaucht, weil es kein Vorher und Nachher mehr gibt. „Bestehe jetzt!“ ist die Aufforderung der Moderne, und gestehe, wer du bist.

Dimensionsvergleiche hätten dem Thema wohl besser gedient, weil sie uns auf eine Spur führen, die am tiefsten in das Ändern der Welt reicht: der Evolution des Wissens und des Vermögens, die Welt zu lesen.

Peter Sloterdijk
Die schrecklichen Kinder der Neuzeit
Suhrkamp
2015 · 489 Seiten · 12,00 Euro
ISBN:
978-3-518-46603-2

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