Griechische Mythologie in der Jetztzeit
Phoebe Giannisi, Jahrgang 1964 und geboren in Athen, ist eine griechische Architektin und Poetin. Sie lebt in Volos und ist an der dortigen Universität von Thessalien Professorin im „Department of Architecture Engineering“. Sie hat insgesamt fünf Gedichtbände veröffentlicht, wovon „Homerika“ aus dem Jahr 2009 der bisher einzige ist, der auch ins Deutsche übersetzt worden ist, nämlich mit dem jetzt von Reinecke & Voß vorgelegten Band.
Mit etwas Kenntnis der griechischen Sprache erkennt man, dass der Ausschnitt aus einem Gedicht auf dem Cover die griechische Originalfassung von „Heimkehr V“ ist, dessen Übersetzung sich als Pendant auf der Buchrückseite befindet. Ein weiteres Gedicht, nämlich „Penelope III“, ist ebenfalls zweisprachig ausgeführt. Dabei merkt man, dass die Übersetzung ziemlich wortgetreu erfolgte, was ja auch gut so ist. Es handelt sich um eine einfache Sprache, die mit einfachen Worten einen guten und passenden Rhythmus erzeugt. Giannisi wollte ja gerade Gedichte schreiben, die man beim Lesen (innerlich) hört.
Ich wollte, dass der Rhythmus der Stimme ebenso hörbar wird, wie der Rhythmus der Welt [...] wie die Geräusche der Stadt [...]
schreibt sie auf der Buchrückseite. Ich finde, dass ihr das mit diesen Gedichten auch gelungen ist.
Trotzdem kann man sich auf der Homepage der Verfasserin die Gedichte der „Homerika“ im Original anhören, von Phoebe Giannisi selbst gesprochen. Unterlegt mit Straßengeräuschen, Meeresbrandung oder Ähnlichem sind das schon richtiggehende Performances, und es werden auch genau die jeweiligen Rhythmen der Welt verwendet, die mit den Gedichten gut korrespondieren.
Man kann diese Audioaufnahmen zusammen mit dem vorliegenden Gedichtband dazu benutzen, um Griechisch zu lernen. Man kann aber viel eher umgekehrt die Audioaufnahmen nutzen, um den intendierten Rhythmus von Giannisis Gedichten besser zu verstehen. Dazu reicht es vollkommen aus, wenn man einige griechische Worte - quasi als Stützstellen oder Ankerpunkte - in beiden Sprachen kennt, um die Aufnahme parallel zum Gedicht beim Lesen „ablaufen“ zu lassen.
Im Vortext von Valerie Coulton und Edward Smallfield heißt es, dass Giannisis Bearbeitungen dicht an den Details der griechischen Mythen dran seien. Dass ihr Nacherzählen ein Nachweben sei, das es ermögliche, diese Mythen neu zu denken. Dass das Ergebnis dabei immer originell sei.
Hierzu möchte ich sagen, dass man die meisten Gedichte auch getrost ohne jegliche Kenntnisse der griechischen Mythologie verstehen kann. Für mich als langjährigen Griechenlandreisenden ist die griechische Landschaft in Giannisis Gedichten sehr präsent, mit ihren Olivenbäumen, Pinien, Zypressen und Zikaden. Insbesondere das Meer (das in Griechenland ja eine große Wichtigkeit, da starke Präsenz, hat); immer wieder die Wellen, die rhythmisch ans Ufer gespült werden.
Bei anderen Gedichte ist der Bezug zur Odyssee offensichtlich. Bei den Lotophagen gibt die Autorin die Quelle auch direkt an:
Aber die Lotophagen [...] gaben den Fremdlingen Lotos zu kosten.
Wer nun die Honigsüße der Lotosfrüchte gekostet,
Dieser dachte nicht mehr an Kundschaft oder an Heimkehr:
Sondern sie wollten stets in der Lotophagen Gesellschaft
Bleiben, und Lotos pflücken, und ihrer Heimat entsagen.
(Homer, Odyssee, IX. Gesang, v. 94–97, hier ist, anders als im Buch, die Übersetzung von Johann Heinrich Voß aus dem Jahr 1781 wiedergegeben.)
In beiden Gedichten "Lotophagen I" und "II" geht es um ein Nicht-weg-Können, ein Am-Ort-Bleibenwollen, was das Thema trifft, auch ohne direkten Bezug zu den Originalmythen.
Zwei der Gedichte handeln von Patróklos. Patróklos ist einer der griechischen Kämpfer vor Troja, laut der Ilias von Homer ein enger Freund und Waffengefährte von Achill oder Achilles, dem beinahe unverwundbaren Heros. Dass beide eine homosexuelle Beziehung miteinander hatten, ist erstmals bei Aischylos zu lesen. Auch Giannisi thematisiert dies in dem Gedicht „Ehrengeschenk oder Patroklos I“:
Komm und iss vom Meer und von den Felsen
die dich geboren haben
Achill
einen Tintenfisch
an meinem Tisch
danach will ich dass du mich fickst wie ich es verdiene.
Man kann dem Gedicht dabei auch entnehmen, dass Achill der jüngere und schönere Geliebte von Patróklos ist: „komm und iss [...] an meinem Tisch“.
Penelope ist die Frau von Odysseus, zu der er nach zehn Jahren trojanischem Krieg und einer ebenfalls zehn Jahre dauernden Irrfahrt (der Odyssee) heimkehrt. Fünf Gedichte handeln von ihr. Nur in einem ist sie wirklich eine starke Frau, im Kampf (gegen die Männer). Doch das Gedicht endet ziemlich originell:
dann zum Glück
muss sie zurück
sie muss das Essen machen.
Penelope wird also schon relativ häuslich dargestellt, auch wie sie (gelangweilt?) im Pool schwimmt, Kinder bekommt, und sich um sie kümmert.
Originell an den Gedichten ist schon, wie mühelos und ungequält sie in diese thematisch „alten Stoffe“ moderne Dinge integriert. In diesen Gedichten kommen auch Autos, Flugzeuge und sogar Waschmaschinen vor. Und Niemand (das ist Odysseus höchstpersönlich) kehrt heim nach Ithaka (seine Heimatinsel) „von der Rolltreppe der Metro aus“ hoch.
Man kann diesen kleinen Gedichtband aber auch dazu benutzen, um sich mit der griechischen Mythologie, insbesondere mit den beiden Epen von Homer, die Ilias und die Odyssee, ein wenig vertrauter zu machen. Heimkehr und Unterwelt sind wichtige Themen der Odyssee, die deshalb auch in zahlreichen Gedichten Giannisis thematisiert werden. Weitere Personen, die man in diesen Gedichten kennenlernen kann: die Nymphe Ino Leukothea; die Meeresnymphe Thetis; die Sirenen mit ihrem betörenden Gesang; der König Peleus (der Vater von Achill); das Volk der Phaiaken; die Königstochter Nausikaa; die Zauberin Kirke; Aphrodite, die Göttin der Liebe; Orpheus, der hinabstieg in die Unterwelt, um seine Geliebte Eurydike zurückzuholen; der Götterbote Hermes.
Die Reihenfolge der 43 Gedichte konnte ich nicht nachvollziehen, weder handlungsmäßig noch in ihrer Anlehnung an die Odyssee. In weiten Teilen scheinen sie sortiert zu sein nach dem Datum ihrer Entstehung, aber auch dieses Schema wird nicht durchgängig beibehalten. Das tut diesem Gedichtband aber keinerlei Abbruch. Es ist schlicht in seiner Erscheinung, seine Gedichte strahlen dabei aber eine große Kraft aus.
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