„Deine kleinen Eingriffe und Kürzungen“
Raymond Carver war ein sehr guter und produktiver Lyriker (die unter dem Titel „All of Us“ gesammelten Gedichte umfassen immerhin rund 380 Seiten), aber er war auch ein mindestens ebenso guter Erzähler, und seine Short Stories gehören zweifellos zu den besten, die im Amerika des 20. Jahrhunderts geschrieben wurden. Carvers Prosa liegt in einem handlichen tausendseitigen Band seit 2009 in der Library of America vor, dieser sei wärmstens empfohlen, nicht nur, weil er erstmals das Originalmanuskript von „Beginners“ an die Öffentlichkeit brachte. Die Aufnahme in diese Reihe ist gewissermaßen die offizielle Erhebung in den Rang eines modernen Klassikers — solche Ehren verraten indes nichts von den Schwierigkeiten, mit denen Carver zu Lebzeiten zu kämpfen hatte.
Im Jahre 1980 hatte Carver einen neuen Band mit siebzehn Geschichten zusammengestellt, es war nach „Will You Please Be Quiet, Please?“ (1976) und „Furious Seasons and Other Stories“ (1977) die dritte Sammlung des Autors. Carver hatte zu diesem Zeitpunkt gerade seine Alkoholprobleme überwunden, eine Beziehung zu der Dichterin Tess Galagher begonnen und nach vielen Gelegenheitsjobs einen Lehrauftrag an der University of Syracuse bekommen. Hinzu kam, daß Carvers langjähriger Freund und Lektor Gordon Lish in das renommierte Verlagshaus Alfred A. Knopf gewechselt hatte. Carver bat ihn in einem Brief vom 10. Mai 1980 wiederum, den Rotstift zu gebrauchen, um die Geschichten „besser“ zu machen. Ein fataler Fehler: Während Carver noch die verspätet eingetroffene erste Bearbeitung Lishs durchsah, hatte dieser bereits eine zweite, radikal gekürzte und umgeschriebene Version angefertigt, die Carver wiederum zu spät erreichte. Er war von dem Ergebnis in höchstem Maße schockiert und schrieb einen verzweifelten Brief, in dem er Lish inständig bat, diese Version nicht zum Druck zu geben, ohne zu ahnen, daß die Produktion des Buches zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr aufzuhalten war. Zwei Tage danach hatte sich Carver in das Unvermeidliche gefügt und flehte bloß noch um die Berücksichtigung winziger Korrekturen.
„Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden“ ist vielleicht Carvers berühmteste Sammlung. Lishs Konzept war aufgegangen. Die Lakonie, die pointierte Zuspitzung, die verschweigenden Leerstellen, die effekthascherischen Schlüsse, oder anders gesagt: die Ausmerzung von Beschreibungen, psychologischen Beobachtungen und vermeintlich sentimentalen Passagen, die Lish offenbar ein Gräuel waren, trugen zu dem Erfolg des Buches bei. Carver hat sich danach zwar von Lish distanziert, aber auch — es sei nicht verschwiegen — einiges im Hinblick auf Knappheit und Kürze gelernt. Dennoch ist ein Vergleich der publizierten Version mit Carvers Originalmanuskript, das nun auch auf Deutsch vorliegt, höchst aufschlußreich.
Um es vorwegzunehmen: Trotz der einen oder anderen Länge und Ungeschicklichkeit ist „Beginners“ das bessere Buch, die bessere Version. Daß auch Carver selbst dieser Meinung war, erhellt bereits die Tatsache, daß er in spätere Ausgaben einige Stories in der von ihm ursprünglich intendierten Fassung erneut aufnahm — nicht ohne manchen stilistischen Vorschlag Lishs einzuarbeiten: So erschien beispielsweise „Ein kleiner Segen“ („A Small, Good Thing“) in dem Band „Cathedral“ in der erweiterten Fassung, dort allerdings tatsächlich um eine längere Rückblende gestutzt.
Gordon Lishs Eingriffe sind nicht nur stilistischer Art gewesen, er kürzte manche Erzählungen um 50 bis 70 Prozent und schrieb die Enden um. So erzählt beispielsweise „Tell the Women We’re Going“ von zwei Männern, die jung geheiratet haben, unbefriedigenden Jobs nachgehen und sich nun langweilen. Sie unternehmen eine Spritztour zur Erinnerung an die alten unbeschwerten Zeiten, unterwegs treffen sie zwei Mädchen, ein harmloser Flirt eskaliert zu einer immer aggressiveren Bedrängung. In Lishs Version verfolgen die beiden Männer die Mädchen in ein einsames Hügelland; die Geschichte endet mit den Worten: „Bill hatte nur ficken wollen. Oder sie einfach nackt sehen. Andererseits war es für ihn auch in Ordnung, wenn nichts daraus wurde. Er verstand nicht, was Jerry wollte. Aber es begann und endete mit einem Stein. Jerry nahm denselben Stein bei beiden Mädchen, zuerst bei dem Mädchen, das Sharon hieß, und dann bei der, die Bills sein sollte.“ (In der Übersetzung von Helmut Frielinghaus) Ein kurzer, schockierender, effektvoller Schluß. Doch Carvers ursprüngliche Fassung ist subtiler, sie bereitet den Ausbruch der Gewalt langsamer vor, schildert sie detaillierter: Die Männer verfolgen die Mädchen in die Hügel, sie trennen sich, Jerry vergewaltigt das eine Mädchen und tötet es. Bill, der das andere Mädchen nicht einholen konnte, stößt genau in dem Moment wieder zu seinem Freund, als Jerry mit einem Stein zuschlägt. Beide können das Geschehen nicht begreifen und liegen einander weinend in den Armen. Die Gewalt ist hier nicht dämonisiert, ein unausweichlicher Trieb, ihre Banalität wird im Gegenteil auf ein sehr menschliches Maß reduziert, und das macht sie umso schrecklicher, unfaßbarer.
In der berühmten Story „Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden“, die zunächst „Anfänger“ hieß, grübeln zwei befreundete Ehepaare über verschiedene Formen der Liebe. Einer erzählt von einem alten Paar, das bei einem Autounfall schwer verletzt wurde. Lish hat diese eingeschobene Geschichte stark gekürzt und darauf reduziert, daß das Schlimmste für den alten Mann darin bestanden habe, daß er seine Frau im Krankenhaus nicht sehen konnte. Carver indes berichtet nicht nur von einer rührenden Wiedersehensszene, sondern beschreibt auch das Leben des sich ganz selbst genügenden Paares auf einer abgelegenen Farm, für alle Zuhörer ein vollkommen unverständlicher Zustand. Die einfache Liebe dieses Paares wird hier zur utopischen Folie, vor der sich die verquasten Beziehungen der anderen beiden abspielen. Das wahre Ausmaß ihrer Probleme unterschlägt Lish, der hier wie auch sonst beinahe jede Seelenschilderung meidet.
Zermürbende Alltagsroutine, Langeweile, Eheprobleme, Alkoholsucht, die größeren und kleineren Unglücke des Lebens, die schalen Freuden, Neid, Aggressivität — Carver demontiert den amerikanischen Traum vom Streben nach Glück, er holt diese utopische Version in die Wirklichkeit zurück und zeichnet ein ernüchterndes Bild der amerikanischen Mittelschicht. Aber er tut das mit großer Einfühlung und viel Sympathie für die Verlierer.
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